Moderne Geister: Literarische Bildnisse aus dem neunzehnten Jahrhundert. Georg Brandes

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Moderne Geister: Literarische Bildnisse aus dem neunzehnten Jahrhundert - Georg Brandes


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angelegtes Weib. Ein lebhafter Drang nach Wissen und geistiger Klarheit hat sie zu Edwin geleitet, er hat sie in — der Philosophie unterrichtet. Man könnte also glauben, dass sie jetzt ihrerseits einen Kampf gegen jene magische Macht des Blutes durch einen Appell an die Geistesmächte, die sie so lange mit Edwin verbunden haben, versuchen würde. Im Gegentheil! Weit entfernt, nur als strebender Geist charakterisirt zu sein, ist sie vor Allem eine Natur. Sie hat ihn immer glühend geliebt, aber sie hat gefürchtet, dass seine Liebe, weniger heiss als die ihrige, durch Ausbrüche ihrer Leidenschaft verscheucht werde, und doch hat sie — die Philosophin — in ihrer Einsamkeit zu sich selbst gesagt: „Liebe ist Thorheit — seliger Unsinn — Lachen und Weinen ohne Sinn und Verstand. So habe ich ihn immer geliebt, bis zum Vergehen und Vergessen aller Vernunft“. Jetzt, da das Glück ihrer Ehe auf dem Spiel steht, bricht sie in die Worte aus: „Wenn er merkt, dass ich das Blut meiner Mutter in den Adern habe, heisses, alttestamentarisches Blut, — vielleicht kommt er dahinter, dass er sich sehr verrechnet hat, als er mit einem solchen Wesen eine ‚Vernunftehe‘ schliessen zu können glaubte. Vielleicht kommt der Tag, wo ich ihm Alles sagen darf, weil er selbst nicht mehr genug hat an einem bescheidenen Lebensglück, wo er etwas Stolzeres, Uebermüthigeres, Ueberschwänglicheres verlangt — und dann kann ich ihm sagen: Du hast nicht weit zu suchen, die stillen Wasser sind tief“.[5] Alles ist hier charakteristisch, sowohl die Zurückführung auf Abstammung und Race, wie der Protest der heissen, leidenschaftlichen Natur gegen die Verkleidung der unmittelbaren Leidenschaft als vernünftige Hingebung. Nur wer mit diesem Grundzuge Heyse's vertraut ist, wird das rechte Verständniss und Interesse für eins seiner Dramen haben, das sonst sein schwächstes sein dürfte, und das aus mehreren Ursachen mir seiner nicht ganz würdig erscheint; ich meine „Die Göttin der Vernunft“. Oder ist es nicht höchst eigenthümlich, dass Heyse Angesichts der ganzen riesenhaften französischen Revolution sich aus ihr gerade diesen Stoff zurecht legt, und ihn gerade so behandelt? Mancher Dichter würde mit der Wahl eines solchen Gegenstandes sich ein Organ für das Pathos, der Revolution suchen oder er würde die reine Begeisterung der Vernunftgöttin im historischen Augenblick eine gedankenlose und unwürdige Vergangenheit adeln lassen, die sich dennoch tragisch rächt. Ein Dichter wie Hamerling könnte vielleicht etwas Ansprechendes aus diesem Gegenstande machen. Heyse erstaunte, seiner Naturanlage gemäss, bei dieser Erscheinung: ein Weib, ein Stück Natur mit weiblichem Instinct und weiblicher Leidenschaft, wird für die Vernunft, die Vernunftgöttin, d. h. die trockene, steife, rationalistische Vernunft des 18. Jahrhunderts ausgegeben! Und er dichtet dann ein Weib, das kraft der Tiefe ihrer Natur (im Grunde ihrer Zeit vorausgeeilt) von dem Gefühl ergriffen ist, dass das ungeheure All-Leben sich auf keine Schulformel zurückführen lässt, ein Weib, das liebt und fürchtet, leidet und hofft, das für das Leben ihres Vaters und ihres Geliebten zittert, das vor Qual, von dem Geliebten verkannt zu werden, verzweifelt, und lässt dann dies Weib, das als ein echtes Kind ihres Dichters gesagt hat: „Mir ist das Höchste: Nichts zu thun, was mich mit mir selbst entzweit“, mit allen Fibern vor Leidenschaft bebend, in persönlicher Verzweiflung, ohne einen Gedanken an das Allgemeine und Abstracte, an Republik oder Geistesfreiheit, und während ihr Vater vor der Kirchenthür getödtet wird, — nothgedrungen vom Altare herab das neue Vernunft-Evangelium verkünden, das sie selbst einmal spöttisch als das Weltgesetz, dass zwei mal zwei vier sind, bezeichnet hat. Viel werthvoller, als in poetischer Hinsicht, scheint mir dies Stück als Beitrag zur Psychologie seines Dichters.

      Man würde Heyse indess sehr Unrecht thun, wenn man aus dem bis jetzt Hervorgehobenen schliessen würde, dass er nichts Höheres als die elementare Natur und ihre Triebe anerkenne. Mit dem Worte Instinct ist hier etwas von dem einzelnen Triebe völlig Verschiedenes gemeint. Der Instinct ist der Drang, sich ganz zu bewahren. Darum kann Heyse auch sehr wohl eine freie Sympathie über die Bande des Blutes und selbst über das nächste Verwandtschafts-Verhältniss triumphiren lassen. In der Novelle „Der verlorene Sohn“ versteckt und pflegt eine Mutter, ohne es zu wissen, den unschuldigen Mörder ihres Sohnes, und als dieser durch seine Liebenswürdigkeit sowohl das Herz der Mutter wie der Tochter gewinnt, lässt der Dichter ihn die Tochter als Braut heimführen. „Der verlorene Sohn“ wurde in ehrlicher Nothwehr getödtet und sein Gegner hat nicht einmal seinen Namen gekannt. Selbst als die Mutter das Nähere über den Tod des Sohnes erfährt, legt sie darum der Heirath kein Hinderniss in den Weg, sondern trägt allein und ohne Jemand ihr Geheimniss zu vertrauen, das Unglück, das sie getroffen hat. Hier ist also mit voller Zustimmung des Charakters ein rein geistiges Band an die Stelle der Blutsbande getreten; die Mutter nimmt den als ihren Sohn an, durch dessen Hand ihr eigener Sohn gefallen ist; aber indem sie das thut, handelt sie in Uebereinstimmung mit ihrer tiefsten Natur und bewahrt ihre Seele ungetheilt. Das Gleiche gilt in allen Fällen, wo bei Heyse die Persönlichkeit aus Pflichtrücksichten eine wirkliche Leidenschaft, eine tiefe Liebe zurückdrängt. Wo es geschieht (wie im Drama „Marie Moroni“, in der Novelle „Die Pfadfinderin“, oder in dem Romane „Die Kinder der Welt“), da geschieht es eben, um die Treue gegen sich selbst zu bewahren, um nicht die Ganzheit und Gesundheit seines eigenen Wesens einzubüssen, und man sieht die Pflicht dem eigenen Born der Natur entströmen, indem als höchstes Pflichtgesetz das Gebot gilt, nicht in Zwiespalt mit dem eigenen Ich zu gerathen. So weit ist Heyse davon entfernt, die Natur als feindlich gegen Geist und Pflicht aufzufassen.

      Für ihn ist sie alles: Alles was in unserer Macht steht, was wir ausführen oder vollbringen, trägt, insofern es etwas werth ist, untrüglich ihren Stempel, und über alles, was nicht in unserer Macht steht, über unser ganzes angeborenes Schicksal gebietet sie direct, unmittelbar, allmächtig und unumschränkt. Selbst die unglücklichste Persönlichkeit, die er geschildert hat, findet, wie übel sie auch vom Schicksal behandelt worden ist, einen Trost darin, dass sie ein Kind der Natur, d. h. dass sie nicht beeinträchtigt worden ist. „Wenn die Elemente meines Wesens, die mich vom Glück ausschliessen, durch eine grosse blinde Fügung des Weltlaufes sich gefunden und vereinigt haben und ich an dieser Constellation zu Grunde gehen muss — so ist das fatal, aber kein unerträglicher Gedanke. Ein Gottvater aber, der mich unseliges Geschöpf de cœur léger oder auch aus pädagogischer Weisheit so traurig zwischen Himmel und Erde herumlaufen liesse, um mir später einmal für die verpfuschte Zeit eine Gratification in der Ewigkeit zukommen zu lassen — nein, lieber Freund, alle durchlauchtige und undurchlauchtige Theologie kann mir das nicht plausibel machen“.[6]

      So nimmt bei Heyse selbst der, dessen Leben am qualvollsten verfehlt ist, seine Zuflucht zum Naturbegriff wie zum letzten beruhigenden Gedanken, und so hat er selbst in den schmerzlichsten Stunden seines Lebens dazu seine Zuflucht genommen, und die wunderbaren Gedichte „Marianne“ und „Ernst“, das Tiefste und Ergreifendste, was er geschrieben hat, sind als Zeugnisse davon zurückgeblieben. Die Natur ist sein Ausgangspunkt und sein Endziel, die Quelle seiner Poesie und ihr letztes Wort, sein Eins und Alles, sein Trost, sein Credo.

       Inhaltsverzeichnis

      Was er verehrt, anbetet und darstellt ist also, ganz allgemein ausgedrückt, die Natur. Aber wie er seiner eigenen Natur folgt, so stellt er auch seine eigene Natur dar, und ihr Grundzug ist der, ursprünglich harmonisch zu sein. Eine solche Bezeichnung ist sehr weit und vag. Sie lässt, unbestimmt wie sie ist, Heyse wohl nächstens als einen Nachfolger Goethe's erscheinen und passt eben so gut auf den grossen Meister. Jene Harmonie ist indessen, näher bestimmt, nicht eine weltumspannende, sondern eine verhältnissmässig enge, sie ist eine aristokratische Harmonie. Es gibt Vieles, das sie ausschliesst, Vieles, das sie nicht versöhnt, ja nicht einmal berührt. Nicht als Naturforscher, sondern als Schönheitsanbeter betrachtet Heyse das bunte Treiben des Lebens. Es ist ersichtlich genug, dass er nicht begreift, wie man Lust dazu verspüren kann, als Künstler mit Vorliebe solche Gestalten zu schildern, denen man im Leben seine Thür verschliessen würde; ja er hat selbst mit grosser Offenheit ausgesprochen, dass er nie eine Figur habe zeichnen können, die nicht irgend etwas Liebenswürdiges gehabt hätte, nie einen weiblichen Charakter, in den er nicht bis zu einem gewissen Grade verliebt gewesen wäre.[7] Darum besteht auch seine ganze Gestaltengallerie mit wenigen Ausnahmen (wie Lorinser oder Jansen's Frau) aus gleichartigen Wesen. Sie haben nicht blos Race, sondern edle Race, d. h. angeborenen Adel. Ihre gemeinsame Eigenschaft ist, was Heyse selbst als Vornehmheit


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