Gesammelte Weihnachtsmärchen für Kinder (Illustriert). Walter Benjamin

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Gesammelte Weihnachtsmärchen für Kinder (Illustriert) - Walter  Benjamin


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ins Gesicht zu ziehen?«

      Scrooge widerrief demütig jede Absicht, daß er ihn habe etwa beleidigen wollen. Er versicherte hoch und teuer, nicht zu wissen, daß er je im Leben dem Geiste Ursache gegeben habe, sich zu bedecken. Dann war er so kühn zu fragen, welche Angelegenheit ihn hierher führe.

      »Dein Heil!« sagte der Geist.

      Scrooge versicherte ihm sehr seinen Dank, konnte sich aber nicht helfen als in den Gedanken, daß eine ungestörte Nachtruhe ihm mehr genützt haben würde. Der Geist mußte seine Gedanken durchschaut haben; denn er sagte alsbald: »Deine Besserung also. Nimm dich in acht!«

      Er streckte bei diesen Worten seine starke Hand und ergriff sanft seinen Arm.

      »Steh auf und komm mit!«

      Umsonst würde Scrooge eingewendet haben, Wetter und Stunde seien zum Spazierengehen nicht sonderlich geeignet; das Bett sei warm und das Thermometer stände beträchtlich unter Null; er habe nur Pantoffel, Schlafrock und Nachtmütze und leide überdies an Schnupfen. Dem Griffe, wie von Frauenhand, war nicht zu widerstehen. Scrooge erhob sich; aber als er sah, daß der Geist dem Fenster zuschwebte, faßte er ihn flehend beim Gewande.

      »Ich bin sterblich«, sagte Scrooge, »und würde stürzen, möchte ich noch so behutsam sein.«

      »Laß dich nur von meiner Hand berühren«, sagte der Geist, indem er ihm die Hand auf das Herz legte, »und du wirst größere Gefahren überstehen, als eine solche.«

      Als er diese Worte gesprochen hatte, verschwanden sie beide durch die Wände und standen plötzlich im Freien auf der Landstraße, rings von Fluren umgeben. Die Stadt war ganz versunken. Keine Spur war mehr davon übrig. Die Finsternis und der Nebel waren mit ihr verschwunden, denn es war jetzt ein klarer, kalter Wintertag, und der Boden von weißem, reinem Schnee bedeckt.

      »Guter Himmel!« rief Scrooge, die Hände faltend, als er um sich blickte, »hier wurde ich geboren. Hier lebte ich als Knabe.«

      Der Geist sah ihn mit lindem Blicke an. Seine sanfte Berührung, obwohl sie nur leise und kurz gewesen war, klang immer noch in dem Herzen des alten Mannes nach. Er war sich tausenderlei Düfte in der Luft bewußt, deren ein jeder einzelne mit tausend Gedanken, Hoffnungen, Freuden und Sorgen verbunden war, die lange vergessen waren.

      »Deine Lippe zittert«, sagte der Geist. »Und was ist denn das hier auf deiner Wange?«

      Scrooge stammelte mit einem ungewöhnlichen Stocken in der Stimme, es sei ein Bläschen, und bat den Geist, ihn zu geleiten, wohin er wolle.

      »Erinnerst du dich des Weges?« fragte der Geist.

      »Ob ich mich seiner erinnere?« rief Scrooge mit Feuer, »ich könnte ihn mit verbundenen Augen finden.«

      »Merkwürdig, daß du ihn so viele Jahre lang vergessen hast«, sagte der Geist. »Komm!«

      Sie schritten den Weg entlang. Scrooge erkannte jedes Gatter, jeden Pfosten, jeden Baum wieder, bis ein kleiner Marktflecken in der Ferne mit seiner Kirche, seiner Brücke und dem sich windenden Fluß erschien. Nun erblickten sie einige zottige Ponies auf sich zutraben, mit Jungens auf ihren Rücken, die wieder anderen Jungens in ländlichen Wagen und Gefährten, getrieben von Farmern, laut zuriefen. Alle diese Jungens waren sehr vergnügt und laut, bis die weiten Felder so voll heiterer Musik waren, daß die kalte, sonnige Luft selbst mitzulachen schien.

      »Dies sind bloß Schatten der Wesen, die gewesen sind«, sagte der Geist, »sie wissen nichts von uns.«

      Die fröhlichen Reisenden kamen näher, und jetzt erkannte Scrooge sie alle und konnte sie alle bei Namen nennen. Wie war er erfreut über alle Begriffe, sie zu sehen! Wie leuchtete sein trockenkaltes Auge feucht auf! Wie jubelte sein Herz, als sie vorübereilten. Wie ward er von Frohsinn erfüllt, als sie an den Kreuzwegen voneinander schieden und sich fröhliche Weihnachten wünschten? Was waren fröhliche Weihnachten für Scrooge?

      Zum Kuckuck mit fröhlichen Weihnachten! Was hatte er schon Gutes davon gehabt?

      »Die Schule ist noch nicht ganz verlassen«, sagte der Geist. »Ein einsames Kind, von seinen Freunden verlassen, sitzt noch einsam dort.«

      Scrooge sagte, er wisse es. Und er weinte.

      Sie verließen jetzt die Chaussee auf einem wohlbekannten Feldweg und erreichten bald ein Haus aus dunkelroten Ziegeln, mit einer kleinen Kuppel auf dem Dache und darin eine Glocke. Es war ein großes Haus, aber jetzt nur Zeuge verflossenen Reichtums, denn die geräumigen Gemächer waren wenig benutzt, die Wände feucht und modrig, die Fenster zerbrochen, die Gitter zerfallen. Hühner gackerten und scharrten in den Ställen; und die Schuppen und Tennen waren mit Gras überwachsen. Auch im Innern war nichts von seinem alten Glanz übriggeblieben; denn als sie in den verödeten Hausflur traten und durch die offenen Türen in die vielen Zimmer blickten, gewahrten sie nur ärmlich ausgestattete, kalte, öde Räume. Ein modriger Geruch erfüllte die Luft, eine frostige Unfreundlichkeit schien über dem Ort zu lagern, der an Frühaufstehen bei Kerzenlicht und an Schmalhans als Küchenmeister erinnerte.

      Sie schritten, der Geist und Scrooge, über den modrigen Hausflur zu einer Tür in der Rückfront des Hauses. Sie öffnete sich vor ihnen und zeigte ihnen einen langen, kahlen, trostlosen Saal, noch kahler und trostloser gemacht durch die Reihen von einfachen hölzernen Bänken.

      Auf einer der Bänke saß ein einsamer Knabe neben einem schwachen Feuer und las; und Scrooge setzte sich auf eine Bank nieder und weinte, sein eigenes, vergessenes Ebenbild, wie es in früheren Jahren war, wiederzusehen.

      Kein schwaches Echo in dem Hause, kein Rascheln der Mäuse hinter der Täfelung, kein Getröpfel der halbgefrorenen Wasserröhre in dem Hofe rückwärts, kein Seufzer in den blattlosen Zweigen einer verlassen trauernden Pappel, nicht das Klappen der vom Winde hin und her bewegten Tür der leeren Vorratsräume, selbst nicht das Knistern des Feuers waren für Scrooge verloren. Alles traf sein Herz mit rührenden Klängen und löste seine Tränen.

      Der Geist berührte seinen Arm und deutete auf sein jüngeres, in ein Buch vertieftes Selbst. Überraschend stand auf einmal ein Mann in fremdartiger Kleidung da, wunderlich und seltsam anzusehen, mit einer Axt im Gürtel, der einen mit Holz beladenen Esel am Zaume führte.

      »Wie! das ist ja Ali Baba!« rief Scrooge voller Freude aus. »Es ist der liebe, alte, brave Ali Baba. Ja, ja, ich weiß noch. Einst zu Weihnachten, als jener verlassene Knabe hier ganz allein saß, kam er zum erstenmal, gerade wie jetzt. Der arme Junge! Und Valentin«, fuhr Scrooge fort, »und sein wilder Bruder Orson, da gehen sie. Und wie hieß doch jener, der, während er schlief, vor das Tor von Damaskus gesetzt wurde? Siehst du ihn nicht! Und der Stallmeister des Sultans, der von den Genien auf den Kopf gestellt wurde, dort ist er! Geschieht ihm recht! Warum mußte er auch die Prinzessin heiraten!«

      Scrooge mit allem Ernst und mit einer sonderbaren Stimme zwischen Lachen und Weinen über solche Gegenstände reden zu hören und sein vor Freude erregtes Gesicht zu sehen, wäre für seine Geschäftsfreunde in der City in der Tat eine große Überraschung gewesen.

      »Da ist auch der Papagei«, rief Scrooge, »mit grünem Leib und gelbem Schweif, da ist er! Oben auf dem Kopf wächst wie ein Gemüsebüschelchen ein Etwas heraus. ›Robinson Crusoe!‹ rief der Papagei ihm zu, als jener wieder von seiner Umsegelung der Insel nach Hause kam, ›Robinson Crusoe, wo bist du gewesen?‹ Er glaubte, er träume; aber es war der Papagei. Ha, dort läuft Freitag nach der kleinen Landenge, um sein Leben zu retten. Hallo, hopp, hallo!«

      Dann sagte er mit einem schnellen Wechsel der Gefühle, der seinem sonstigen Charakter sehr fremd war: »Der arme Knabe!« und er weinte von neuem.

      »Ich wollte«, murmelte Scrooge, die Hand in die Tasche steckend und um sich blickend, nachdem er sich mit dem Rockaufschlag die Augen gerieben hatte, »aber es ist zu spät jetzt.«

      »Was willst du?« fragte der Geist.

      »Nichts«, sagte Scrooge, »nichts. Gestern abend sang vor meiner Tür ein Knabe ein Weihnachtslied. Ich wünschte, ich hätte ihm etwas gegeben; das ist alles.«

      Der Geist lächelte bedächtig,


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