Gesammelte Weihnachtsmärchen für Kinder (Illustriert). Walter Benjamin

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Gesammelte Weihnachtsmärchen für Kinder (Illustriert) - Walter  Benjamin


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hätte für ihn sterben können, wiewohl ich noch so jung war. Ich verschmähte seine Liebe nie in meinem innersten Gemüt; nicht einen einzigen Augenblick. Sie war mir teurer, als ich es zu beschreiben vermag. Obwohl es lange her ist, längst vergangen und alles ganz anders geworden, so konnte ich doch den Gedanken nicht ertragen, daß du etwa glaubtest, ich hätte ihn ehedem nicht treu geliebt. Ich liebte ihn nie mehr, Grace, als an dem Tage, da er von hier Abschied nahm. Ich liebte ihn nie mehr, als an dem Abend, da ich von hier flüchtete.«

      Ihre Schwester vermochte nur ihr ins Antlitz zu schauen und sie fest in den Armen zu halten.

      »Aber ohne es zu ahnen«, sagte Marion sanft lächelnd, »hatte er ein anderes Herz gewonnen, ehe ich überhaupt eins besaß, um es ihm zu schenken. Dieses Herz – deines, Schwester – war so erfüllt von Liebe zu mir, war so opferbereit und edel, daß es seine Liebe verhüllte und sie geheimhielt vor den Augen aller, außer vor den meinen – ah, welche Augen wären auch so von Liebe und Dankbarkeit geschärft gewesen! – und sich für mich aufopferte. Aber ich kannte die Tiefe dieses Herzens. Ich kannte den Kampf, den es ausgefochten. Ich wußte, wie hoch und unermeßlich sein Wert für ihn war und wie teuer er es schätzte, mochte er auch mich lieben. Ich wußte, wieviel ich diesem Herzen verdankte, ich hatte sein schönes Beispiel täglich vor Augen. Was du für mich getan hast, Grace, das wußte ich, würde ich auch für dich tun können, wenn ich den Willen dazu hatte. Ich legte mich nie zur Ruhe, ohne Gott mit Tränen zu bitten, daß er mir die Kraft dazu verleihen möge. Ich begab mich nie zur Ruhe, ohne an Alfreds eigene Worte beim Abschied zu denken, daß täglich in menschlichen Herzen Siege gewonnen würden, gegen die jene Schlachtfelder zu nichts würden. Und als ich immer mehr und mehr an die Entsagung dachte, die sich täglich in der Welt ereignet und die gemeinhin so wenig beachtet wird, da fühlte auch ich, daß mir meine Prüfung täglich leichter ward! Gott aber, der jetzt in unser Herz blickt und weiß, daß kein Tropfen Kummer oder Schmerz in dem meinen ist, nichts als Glück, verlieh mir die Kraft zu dem Entschluß, nie Alfreds Gattin zu werden. Daß er mein Bruder und dein Gatte werden sollte, wenn mein Beginnen dieses glückliche Ende herbeiführen könnte, daß ich aber nie (Grace, ich liebte ihn damals innig!) sein Weib werden wollte!«

      »O, Marion! O, Marion!« hauchte Grace.

      »Ich bemühte mich zu tun, als ob er mir gleichgültig wäre«, und sie legte das Gesicht ihrer Schwester an ihre Wange, »aber das war zu schwer, und du sprachst immer eifrig für ihn. Ich bemühte mich, dir meinen Entschluß zu gestehen, doch du wolltest mich nie hören – nie verstehen. Die Zeit seiner Rückkehr kam herbei. Ich fühlte, daß ich handeln mußte, ehe dieser tägliche Verkehr neu auflebte. Ich fühlte, daß ein großer Schmerz in diesem Augenblick uns alle langen Leiden ersparen könnte. Ich wußte, daß, wenn ich vor ihm flüchtete, schließlich das eintreten müßte, was eingetreten ist, und was uns beide so glücklich gemacht hat, Grace! Ich schrieb an Tante Martha und bat sie um Aufnahme in ihrem Heim: ich sagte ihr damals nicht die ganze Wahrheit, aber sie erfüllte mir gern meine Bitte. Während meine Entschlußkraft noch mit mir und meiner Liebe zu Euch und dem Vaterhaus um Entscheidung rang, ward Mr. Warden durch einen Unglücksfall eine Zeitlang unser Hausgenosse.«

      »Ich habe das in letzter Zeit zuweilen gefürchtet,« rief ihre Schwester aus und wurde totenblaß. »Du liebtest ihn nie und hast aus Entsagung geheiratet!«

      »Er war damals«, sagte Marion und zog ihre Schwester näher zu sich heran, »im Begriff, heimlich ins Ausland zu fliehen. Er schrieb an mich, offenbarte mir seine Verhältnisse und Aussichten und bot mir seine Hand an. Er erklärte mir, er habe empfunden, daß ich Alfreds Rückkehr nicht freudig entgegensähe. Ich glaube, er war der Ansicht, mein Herz hätte keine Neigung zu diesem Bündnis, oder ich hätte ihn wohl früher geliebt, liebe ihn indessen nicht mehr; oder ich suchte Gleichgültigkeit zu verbergen, indem ich mich gleichgültig stellte – kurz, ich weiß es nicht. Aber ich wollte, daß Alfred glauben sollte, ich sei ganz für ihn verloren. Verstehst du mich, geliebte Schwester?«

      Ihre Schwester blickte ihr aufmerksam ins Gesicht. Sie schien in Unklarheit zu sein.

      »Ich traf mich mit Mr. Warden und vertraute mich seiner Ehre an; ich offenbarte ihm mein Geheimnis am Abend vor seiner und meiner Flucht. Er hat es treu bewahrt. Verstehst du mich, Liebste?«

      Grace schaute verwirrt um sich. Sie schien es kaum zu hören.

      »Geliebte Schwester!« sagte Marion, »sammle deine Gedanken für einen Augenblick: höre mich. Blicke mich nicht so seltsam an. Es gibt Länder, wo die Menschen, die eine widerspenstige Leidenschaft unterdrücken oder einen tiefen Schmerz ihrer Brust heilen wollen, sich in immerwährende Einsamkeit zurückziehen und für ewig der Welt und deren Gefühlen den Abschied geben. Wenn Frauen dies tun, so nehmen sie den Namen an, der mir durch dich so lieb ist, und nennen sich Schwestern. Aber es gibt auch Schwestern, Grace, die unter Gottes freiem Himmel und im geschäftigen Menschengewühl, wo sie möglichst bemüht sind, Segen zu spenden und Gutes zu tun, ein Gleiches lernen. Mit noch unverbrauchtem und jugendlichem Herzen und noch empfänglich für Glück können sie sagen: der Kampf ist langst vorbei, der Sieg längst gewonnen. Und eine solche Schwester bin ich! Begreifst du mich jetzt?«

      Aber noch immer sah diese Marion starr an und antwortete nicht.

      »O Grace, geliebte Grace«, sagte sie und schmiegte sich noch inniger an die Brust, von der sie so lange getrennt gewesen, »wenn du nicht glücklich als Gattin und Mutter wärest – wenn ich keine kleine Namensschwester hier fände – wenn Alfred, mein lieber Bruder, nicht dein zärtlicher Gatte wäre, wo sollte ich dann die Seligkeit finden, die mir jetzt eigen ist? Wie ich das Haus verlassen habe, so kehre ich zurück. Mein Herz hat keine andere Liebe gekannt, meine Hand ist noch immer frei, ich bin noch immer deine jungfräuliche Schwester, unverheiratet, unverlobt: deine alte, liebe Marion, in deren Herzen du allein, ohne Nebenbuhler hausest, Grace!«

      Sie begriff sie jetzt. Die Anspannung in ihrem Antlitz löste sich. Ihre Rührung machte sich in hellem Schluchzen Luft. Unter Tränen fiel sie ihrer Schwester um den Hals und streichelte sie wie ein Kind.

      Als sie sich wieder etwas gefunden hatten, sahen sie den Doktor und Tante Martha, seine Schwester, und Alfred vor sich stehen.

      »Das ist ein schlimmer Tag für mich«, sagte Tante Martha, unter Tränen lächelnd, als sie ihre Nichten umarmte; »denn indem ich euch alle glücklich gemacht habe, verliere ich eine liebe Tochter. Was vermögt ihr mir an Stelle meiner Marion zu geben?«

      »Einen bekehrten Bruder«, sagte der Doktor.

      »Das«, versetzte Tante Martha, »ist wenigstens etwas in einer solchen Narrenskomödie wie –«

      »Ich bitte dich«, sagte der Doktor reuevoll.

      »Na, ich will es auf sich beruhen lassen«, versetzte die Tante zur Antwort. »Aber ich fahre wirklich schlecht dabei. Ich weiß nicht, was aus mir werden soll ohne meine Marion, nachdem wir ein Halbdutzend Jahre nebeneinander gelebt haben.«

      »Du wirst zu mir ziehen müssen«, sagte der Doktor. »Wir zanken uns bestimmt nicht mehr.«

      »Oder heiraten, Tante«, riet Alfred.

      »Ich glaube wirklich«, erwiderte die Dame, »es wäre nicht übel, wenn ich Michael Warden aufs Korn nähme, der in jeder Hinsicht gebessert heimgekehrt sein soll. Aber weil ich ihn schon als Jungen kannte und damals auch nicht mehr sehr jung war, so möchte er mich am Ende abweisen. Daher will ich lieber zu Marion ziehen, wenn sie heiratet (was doch nicht lange währen kann), und bis dahin für mich wohnen. Was meinst du dazu, Bruder?«

      »Ich hätte große Lust zu behaupten, daß es eine durch und durch erheiternde Welt ist, die gar nichts Ernsthaftes hat«, entgegnete der Doktor.

      »Du könntest zwanzig Belege darüber protokollieren, Anthony«, meinte seine Schwester; »und dennoch würde dir das niemand, wenn er uns sähe, glauben.«

      »Es ist eine Welt voll Seelengüte«, sagte der Doktor und umarmte beide Töchter zugleich – denn er vermochte nicht die Schwestern voneinander zu lösen; »und eine ernste Welt mit all ihren Dummheiten – selbst mit einer, die groß genug war, den ganzen Erdball zu überdecken; eine Welt, auf der die Sonne nie aufgeht, ohne auf Tausende von


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