Gesammelte Werke von Rudyard Kipling. Редьярд Киплинг
Читать онлайн книгу.zu überwachen, Heiliger?«
»Ein Segen über Dich.« Der Lama neigte sein Ehrfurcht erweckendes Haupt. »Viele Menschen habe ich gekannt in meinem so langen Leben und der Schüler nicht wenige. Aber zu keinem Menschen, wenn auch Du von einem Weibe geboren bist, ist mein Herz hingegangen wie zu Dir – nachdenkend, weise und höflich – aber etwas von einem Kleinen Kobold.«
»Und ich sah noch niemals einen Priester, wie Du bist.« Kim betrachtete das wohlwollende gelbe Gesicht, Falte bei Falte. »Es sind noch Kaum drei Tage, daß wir zusammen unsere Reise antraten und mir ist, als wären es hundert Jahre.«
»Kann sein, in einem früheren Leben war es mir erlaubt. Dir einen Dienst zu erweisen. Kann sein,« – er lächelte – »ich befreite Dich aus einer Falle: oder ich hatte Dich an einem Angelhaken, in den Tagen, da ich nicht erleuchtet war, und warf Dich zurück in den Fluß.«
»Kann sein,« sagte Kim ruhig. Er hatte diese Art von Theorie wieder und wieder gehört aus dem Munde von Männern, die der Engländer nicht gerade für sehr geistreich gehalten hätte. »Nun, was diese Frau in dem Ochsenwagen betrifft, so denke ich, sie wünscht einen zweiten Sohn für ihre Tochter.«
»Das hat keine Beziehung zu dem Pfade,« seufzte der Lama. »Aber sie ist doch von den Bergen. Ach, die Berge! Und der Schnee der Berge!«
Er erhob sich und schritt zu dem Wagen. Kim würde seine Ohren darum gegeben haben, mitkommen zu dürfen, aber der Lama forderte ihn nicht auf, und die wenigen Worte, die er erlauschte, waren in ihm unbekannter Sprache. Sie redeten in einem in den Bergen gebräuchlichen Dialekt. Die Frau schien Fragen zu stellen, die der Lama erst nach Überlegung beantwortete. Zuweilen hörte er den Sing-Sang eines chinesischen Citates. Es war ein sonderbares Bild, das Kim durch halb geschlossene Wimpern sah: der Lama, gerade aufgerichtet, in seiner gelben, schwarzgeschlitzten Gewandung, im Schein der Parao-Feuer gleich einem knorrigen Baumstamm, den die Schattenlichter der scheidenden Sonne streifen, richtete sein Wort an eine goldgeschmückte, lackierte Ruth, die in demselben ungewissen Licht wie vielfarbiges Edelgestein glitzerte. Die Muster auf den golddurchwirkten Vorhängen tanzten auf und ab, verschwammen und bildeten sich wieder, wenn die Falten vom Nachtwind bewegt wurden; und als das Gespräch ernster wurde, blitzten Funken von dem juwelenbedeckten, lebhaft geschüttelten Zeigefinger über die Stickerei. Hinter dem Wagen war eine Wand von ungewisser, von kleinen Flammen unterbrochener Dunkelheit, belebt von halb sichtbaren Formen und Gesichtern und Schatten. Die Geräusche des frühen Abends hatten sich in ein sanftes Summen gewandelt, dessen tiefster Ton das gleichförmige Kauen der Ochsen an ihrem gehackten Stroh, und dessen höchster das Klingen der »Sitar« eines bengalischen Tanzmädchens war. Die Männer hatten meist gegessen und zogen tief an ihren gurgelnden, grunzenden Wasserpfeifen, die im vollen Blasen der Stimme des Ochsenfrosches ähneln.
Endlich kehrte der Lama Zurück. Ein Gebirgler trug ihm eine wattierte Decke nach und breitete sie sorgfältig am Feuer aus.
»Sie verdient zehntausend Großkinder,« dachte Kim. »Nichtsdestoweniger würden ohne mich solche Gaben nicht gekommen sein.«
»Eine tugendhafte Frau – und eine weise.« Der Lama ließ sich schlaff nieder, Glied bei Glied, wie ein schwerfälliges Kamel. »Die Welt ist voll von Barmherzigkeit für die, die den Weg wandeln.« Er warf die größere Hälfte der Decke über Kim.
»Und was sagte sie?« Kim wickelte sich in seinen Teil der Decke.
»Sie legte mir manche Frage vor und warf manches Problem auf – die meisten aber waren nichtige Märchen, welche sie von teufeldienerischen Priestern gehört, die vorgeben, dem Weg zu folgen. Einige beantwortete ich, von anderen sagte ich, daß sie töricht wären. Viele tragen das Kleid, aber wenige verharren auf dem Weg.«
»Wahr. Das ist wahr.« Kim sagte es gedankenvoll, um etwas anvertraut zu bekommen.
»Abgesehen von ihrem Mangel an Erkenntnis, ist sie sehr gut gesinnt. Sie wünscht sehr, daß wir mit ihr nach Buddh Gaya gehen, da, wie ich verstand, viele Tagereisen südwärts ihre Straße auch die unsrige ist.«
»Und?«
»Ein wenig Geduld! Auf dieses erwiderte ich, daß meine Suche allem vorginge. Sie hatte manche törichte Fabel vernommen, aber die große Wahrheit von meinem Strom hatte sie nie gehört. So sind die Priester von den Vorbergen! Sie kannte den Abt von Lung-Cho, aber sie wußte nichts von meinem Fluß, nicht die Geschichte des Pfeils.«
»Und?«
»Ich sprach deshalb von der Suche und von dem Weg und von verdienstvollen Dingen; sie aber begehrte nichts weiter, als daß ich mit ihr ginge und Gebete verrichte für einen zweiten Sohn.«
»Aha! Wir Frauen denken doch an nichts weiter als an Kinder,« sagte Kim schläfrig.
»Nun, da unsere Straße für eine Weile dieselbe ist, glaube ich nicht, daß wir irgendwie von unserer Suche abweichen, wenn wir sie begleiten, wenigstens so weit bis – ich habe den Namen der Stadt vergessen.«
»Ohe!« rief Kim, sich wendend und einen von den einige Meter entfernten Ooryas in scharfem Flüsterton anredend, »wo ist das Haus Eures Gebieters?«
»Etwas hinter Saharunpore, zwischen den Fruchtgärten.« Er nannte das Dorf.
»Das ist der Name,« sagte der Lama. »So weit wenigstens Können wir mit ihr gehen.«
»Fliegen gehen nach Aas,« sagte der Oorya mit unterdrückter Stimme.
»Für die kranke Kuh eine Krähe, für den Kranken Mann ein Brahmine.« Kim richtete das Sprichwort ganz harmlos an die Schattenwipfel der Bäume.
Der Oorya grunzte und war still.
»Also gehen wir mit ihr. Heiliger?«
»Gibt es einen Grund dagegen? Ich kann doch zur Seite treten und alle Flüsse prüfen, über welche die Straße führt. Sie wünscht, daß ich mitkomme. Sie wünscht es sehr.«
Kim erstickte ein Lachen unter der Decke. Wenn erst die mächtige Dame ihre natürliche Scheu vor einem Lama überwunden hatte, hielt er es für wahrscheinlich, daß man ihr gerne zuhören konnte.
Er schlief beinahe schon, als er den Lama plötzlich das Sprichwort zitieren hörte: »Den Gatten der Geschwätzigen wird eine große Belohnung in Zukunft.« Dann hörte Kim ihn dreimal schnupfen und schlummerte, noch lachend, ein.
Der diamantene Tagesanbruch erweckte Menschen, Krähen und Ochsen auf einmal. Kim saß aufrecht, gähnte, schüttelte sich und schauerte vor Entzücken. Dies hieß in Wahrheit die Welt sehen: das war Leben, wie es ihm gefiel – Hasten und Schreien, Geklingel von Glocken und Einfangen von Ochsen, und Knirschen von Rädern und Leuchten von Feuern und Kochen von Speisen – und neue Erscheinungen, wohin das neugierige Auge blickte. Der Morgennebel verschwand in einem Silberwirbel, die Papageien, in grünen, schreienden Schwärmen, schossen fort zu einem fernen Fluß, alle Schöpfräder in Hörweite fingen zu arbeiten an. Indien war wach, und Kim, in seiner Mitte, mehr wach und mehr rege als irgend einer, kaute an einem Zweiglein, das er zugleich als Zahnbürste benutzte, denn rechter und linker Hand profilierte er von den Bräuchen des Landes, das er kennen und lieben lernte. Er hatte nicht nötig, sich um Nahrung zu Kümmern, nicht nötig, auch nur ein Cowrie (Scheidemünze in Ostindien) an die gedrängt vollen Buden zu verschwenden. Er war der Schüler eines heiligen Mannes und angenommen von einer eigenwilligen alten Dame. Alles wurde für sie vorbereitet, und wenn sie ehrerbietig eingeladen würden, würden sie niedersitzen und essen. Im Übrigen – Kim kicherte hier beim Zähnebürsten – würde ihre Wirtin das Vergnügen der Reise nur erhöhen. Kritisch inspizierte er ihre Ochsen, als diese schnaufend und grunzend unter dem Joch herankamen. Wenn sie zu schnell gingen – es war nicht wahrscheinlich – würde er einen angenehmen Sitz auf der Deichsel finden? der Lama würde hinter dem Treiber sitzen. Die Eskorte natürlich würde gehen. Die alte Dame, ebenso natürlich, würde viel reden, und nach allem, was er gehört, würde es ihrer Rede nicht an Salz fehlen. Sie war schon jetzt dabei, zu befehlen, anzuordnen, bombastisch zu reden, zu schelten und es muß gesagt werden, ihre Diener wegen Saumseligkeit zu verfluchen.
»Bringt ihr ihre Pfeife. Im Namen der Götter