Gesammelte Werke von Rudyard Kipling. Редьярд Киплинг
Читать онлайн книгу.Laß uns nach dem Rastplatz zurückkehren. Wenn wir gegessen haben, wollen wir wieder hierher kommen. Es war sicher ein Roter Stier – mein Roter Stier.«
Beide waren merklich in Gedanken versunken, als das Gefolge der alten Dame ihnen das Mahl vorsetzte, und niemand störte sie, denn es ziemt sich nicht, einen Gast zu stören.
»Nun«, meinte Kim, in den Zähnen stochernd, »wollen wir nach dem Platz zurückgehen; aber Du, Heiliger, mußt auf halbem Wege etwas warten, denn Deine Füße sind schwerer als meine, und mich treibt’s, mehr von dem Roten Stier zu sehen.«
»Aber wie kannst Du ihre Rede verstehen? Gehe langsam. Der Weg ist dunkel«, sprach ängstlich der Lama.
Kim beachtete die Frage nicht. »Ich bemerkte einen Platz nahe den Bäumen«, sagte er, »wo Du sitzen kannst, bis ich Dich rufe. Nein« – als der Lama eine Einwendung versuchte – »bedenke, dies ist meine Suche – die Suche nach meinem Roten Stier. Das Zeichen der Sterne war nicht für Dich. Ich kenne ein wenig die Sitten der weißen Soldaten und ich bin immer begierig, Neues zu erfahren.«
»Was von dieser Welt wäre Dir unbekannt?« Der Lama hockte gehorsam in einer kleinen Höhlung am Wege nieder, kaum hundert Yards entfernt von der Gruppe der Mangos, die sich dunkel gegen den sternenbesäten Himmel abhoben.
»Bleibe hier, bis ich rufe.« Kim entwich in das Dunkel. Er wußte, daß nach aller Wahrscheinlichkeit Schildwachen um das Lager herum stehen würden und lachte in sich hinein, als er die schweren Tritte einer solchen vernahm. Ein Knabe, der in Mondscheinnächten über die Dächer von Lahore dahinzuschleichen und jeden dunklen Fleck und jeden dunklen Winkel zu benutzen verstand, um seine Verfolger zu täuschen, schreckt nicht zurück vor einer Reihe gut geschulter Soldaten. Er bezeigte ihnen seine Achtung, indem er zwischen zweien von ihnen durchkroch und, bald rennend, bald anhaltend, bald sich duckend und platt auf den Boden legend, machte er seinen Weg bis zu dem erleuchteten Meß-Zelte, wo er, an einen Mangobaum gepreßt, lauschend harrte, ob ihm der Zufall einen Wink gäbe.
Was seine Gedanken allein beschäftigte, war, alles über den Roten Stier zu erfahren. Er setzte voraus – und seine Einbildungskraft war ebenso sonderbar und sprunghaft in ihrer Begrenzung wie in ihrer Ausdehnung – daß die Männer, die neunhundert vollwichtigen Teufel aus seines Vater Prophezeiung, nach Dunkelwerden vor dem Stiere beten würden, wie die Hindu zu der heiligen Kuh beten. Das wenigstens wäre ihm richtig und logisch erschienen und daher mußte der Pater mit dem goldenen Kreuz wohl der Mann sein, der zu Rat zu ziehen sei. Dagegen fielen ihm wieder die strengen Gesichter der Patres ein, denen er in Lahore so sorgfältig auswich, und so konnte auch dieser Priester ein neugieriger Plagegeist sein, der ihm befehlen würde, in die Schule zu gehen. Aber war es nicht erwiesen zu Umballa, daß sein Zeichen in den hohen Himmeln Krieg und bewaffnete Männer bedeute? War er nicht der Freund der Sterne sowohl als der ganzen Welt, bis an die Zähne vollgestopft mit den gewichtigsten Geheimnissen? Zuletzt und zuerst – als eigentlicher Unterstrom seiner raschen Gedanken – dieses Abenteuer, wenngleich der englische Ausdruck ihm fehlte, war ein toller Spatz – eine köstliche Fortsetzung seiner früheren Flüge über die Dächer und dazu die Erfüllung einer erhabenen Prophezeiung. Er lag platt auf dem Bauch und schlängelte sich, eine Hand auf dem Amulett um seinen Hals, an die Tür des Meß-Zeltes heran.
Es war, wie er vermutete. Die Sahibs beteten zu ihrem Gott; denn in der Mitte der Meß-Tafel – deren einziger Schmuck, wenn das Regiment auf der Marschroute war – stand ein Stier von Gold – Gold, das einer alten Kriegsbeute aus dem Sommer-Palast in Peking entstammte – ein goldroter Stier, gesenkten Kopfes, zum Sprunge bereit, auf einem Felde von irischem Grün. Ihm hielten die Sahibs ihre Gläser entgegen und riefen laut durcheinander. Der Reverend Arthur Bennet verließ nach diesem Toast gewöhnlich die Messe und da er von dem Marsch sehr ermüdet war, eilte er heute besonders. Kim, mit leicht erhobenem Kopf, starrte noch nach seinem Stammwappen auf dem Tische, als der Kaplan ihm auf die rechte Schulter trat. Kim wich zurück unter dem harten Leder, rollte seitwärts und brachte den Kaplan zu Fall, der, ein Mann der Tat, ihn an der Gurgel packte und fast zu Tode würgte. Kim trat ihm verzweifelt in die Magengegend. Mr. Bennet Keuchte, wand sich empor, ohne los zu lassen, rollte wieder über und schleppte Kim zuletzt schweigend in sein eignes Zelt. Die Mavericks waren unverbesserliche Spötter, und Schweigen schien dem Engländer das Beste, bis er sich vollkommen unterrichtet hatte.
»Was, es ist ein Knabe!« sprach er, als er seine Beute unter das Licht der Laterne an der Zeltstange gebracht, und ihn heftig schüttelnd, rief er: »was hast Du gemacht? Du bist ein Dieb? Choor Mallum?« Sein hindostanisch stand auf schwachen Füßen, und der zerzauste und erboste Kim beschloß, den Charakter, den man ihm aufdrängte, beizubehalten. Zu Atem gekommen, ersann er eine hübsche, halbwegs glaubhafte Geschichte von einer Verwandschaft mit einem der Meß-Küchenjungen, blickte dabei aber mit scharfem Auge unter die linke Achselhöhle des Kaplans. Der Augenblick kam, er schlüpfte hindurch nach der Tür, aber ein langer Arm streckte sich nach seinem Nacken aus, eine Hand ergriff die Schnur des Amuletts und schloß sich über demselben.
»Gib es mir. Oh, gib es mir! Ist etwas verloren? Gib mir die Papiere.«
Das war englisch – das blecherne, zersägte Englisch der Eingeborenen und der Kaplan sprang empor.
»Ein Skapulier«, rief er, die Hand öffnend. »Nein, eine Art heidnischen Zaubers. So – Du sprichst englisch? Kleine Jungen, die stehlen, werden geprügelt. Weißt Du das?«
»Ich – ich stehle nicht.« Kim tanzte in seiner Todesangst wie ein Terrier vor einem erhobenen Stock. »Oh, gib es mir zurück. Es ist mein Amulett. Stiehl es mir nicht.«
Der Kaplan gab nicht acht, er ging nach der Zelttür und rief laut. Ein dicker, glatt geschorener Mann erschien.
»Ich wünsche Ihren Rat, Vater Victor,« sprach Bennet. »Ich fand diesen Knaben im Dunkeln vor dem Meß-Zelte. In ähnlichem Falle würde ich ihn gezüchtigt und laufen lassen haben, weil ich einen Dieb in ihm vermutete. Aber er spricht englisch und scheint Wert zu legen auf ein Amulett, das er um seinen Nacken trägt. Ich dachte, daß Sie vielleicht mir helfen würden.«
Zwischen ihm und dem römisch-katholischen Kaplan des irischen Kontingents lag, nach Bennetts Ansicht, ein unüberbrückbarer Abgrund. Bemerkenswert aber war es, daß, wenn immer die englische Kirche ein menschliches Problem zu lösen hatte, sie sehr bereit war, die römische Kirche zu befragen. Bennetts offizielle Abneigung gegen »das Weib in Scharlach und all ihr Zubehör« war nicht größer, als seine nicht offizielle Hochachtung für Vater Victor.
»Ein Dieb, der englisch redet, ist es? Laßt mich sein Zaubermittel sehen. Nein, ein Skapulier ist es nicht, Bennet.« Er streckte die Hand aus.
»Aber haben wir ein Recht, es zu öffnen? Eine gesunde Tracht Prügel –«
»Ich habe nicht gestohlen,« protestierte Kim. »Ihr habt mir Tritte über den ganzen Körper versetzt. Gebt mir jetzt mein Amulett, und ich will gehen.«
»Nicht gar so rasch, wollen erst sehen,« sprach Vater Victor, das »ne varietur«-Pergament des armen O’Hara entrollend, sein Abschieds-Attest und Kims Taufschein. Auf diesen letzteren hatte O’Hara, in der konfusen Idee, daß er damit für seinen Sohn Wunder bewirke, unzählige Mal die Worte gekritzelt: »Seht nach dem Knaben. Bitte, seht nach dem Knaben,« und darunter seinen vollen Namen und die Nummer seines Regiments.
»Mächte der Finsternis drunten!« rief Vater Victor, Bennett alles hinüber reichend. »Wißt Ihr, was alles dieses ist?«
»Ja,« sagte Kim, »das ist alles mein, und ich will nun fort.«
»Ich verstehe mich nicht recht,« meinte Bennett. »Er führte wohl alles absichtlich bei sich. Mag eine Bettler-List sein.«
»Bis jetzt sah ich noch keinen Bettler weniger beflissen am Platz zu bleiben. Hier scheint mir so was wie ein fideles Geheimnis dahinter zu stecken. Glauben Sie an göttliche Vorsehung, Bennett?«
»Ich hoffe doch.«
»Nun, ich glaube an Wunder. Das kommt auf eins heraus. Mächte der Finsternis? Kimball O’Hara! Und sein Sohn! Aber er ist doch ein Eingeborener und ich selbst war zugegen, als Kimball sich mit Anni Schott verheiratete.