Gesammelte Werke von Rudyard Kipling. Редьярд Киплинг
Читать онлайн книгу.Schlusse jedes Quartals ein Bericht über Kims Fortschritte dem Oberst Creighton und Vater Victor (durch dessen Hand regelmäßig das Schulgeld einging) zugesandt wurde. Ferner ist in denselben Büchern bemerkt, daß Kim große Begabung für mathematische Studien und Landkarten-Zeichnen entwickelte, und daß er einen Preis (Das Leben Lord Lawrences, zwei Bände in Kalbleder gebunden, zu neun Rupien vier Annas) für seine Leistungen in diesen Fächern errang, ebenso in einem Wettbewerb der Schüler von St. Xavier mit dem mohammedanischen Allyghur-Colleg, als er vierzehn Jahre und zehn Monate alt war. Er wurde auch ungefähr zur selben Zeit noch einmal geimpft (woraus wir schließen, daß eine Blattern-Epidemie in Lucknow herrschte). Bleistiftnotizen am Rande einer alten Zeugnis-Liste besagen, daß er verschiedene Male bestraft wurde wegen »Conversierens mit unpassenden Persönlichkeiten«, und es scheint, daß er einmal zu schwerer Strafe verurteilt wurde, weil »er sich einen ganzen Tag in Gesellschaft eines alten Straßen-Bettlers umhergetrieben hatte«. Das war damals, als er über das Gitter kletterte und einen ganzen Tag mit dem Lama am Ufer des Goomkee zubrachte und ihn anflehte, in den nächsten Ferien mit ihm wandern zu dürfen, einen Monat nur – nur eine kurze Woche – gegen welche Bitte der Lama sich wie ein Kieselstein verhielt, indem er behauptete, die Zeit dafür wäre noch nicht gekommen. Kims Aufgabe, sagte der alte Mann, indes sie zusammen Kuchen aßen, wäre, erst alle Weisheil der Sahibs zu erwerben, und dann würde er sehen …
Die Hand der Freundschaft mußte auch diesmal die Geißel des Unheils abgewendet haben, denn es scheint, daß Kim sechs Wochen später eine Prüfung in Elementar-Vermessungslehre bestand und ein gutes Zeugnis erhielt. Mit diesem Datum schließen die Berichte. Sein Name fehlt unter dem jährlichen Schub derer, die in den niederen Vermessungsdienst von Indien eintraten, dagegen war er gebucht mit dem Zusatz: »nach Übereinkunft aus der Schule entlassen«.
Verschiedene Male im Laufe dieser drei Jahre tauchte in dem Tempel der Tirthanker zu Benares der Lama auf, etwas abgemagert, einen Schatten gelber, wenn das möglich war, aber sanft und harmlos wie immer. Zuweilen kam er vom Süden her – vom Süden von Tuticorin – von wo die wunderbaren Feuerschiffe nach Ceylon gehen, wo es Priester gibt, die Pali (Tochtersprache des Sanskrit) verstehen, zuweilen vom feuchten, grünen Westen, wo die Tausende von Schornsteinen der Baumwoll-Fabriken Bombay wie ein Ring umgeben. Und einmal kam er vom Norden her, von wo er achthundert Meilen hin-und zurückgewandert war, um einen Tag mit dem Hüter der Bildnisse in dem Wunderhaus sich zu unterhalten. Er schritt dann in seine Zelle in dem Kühlen Marmor-Tempel – die Priester waren gütig mit dem alten Mann – wusch den Staub des Weges ab, betete und fuhr (er war nun an die Eisenbahn gewöhnt) in dritter Klasse nach Lucknow. Kehrte er von Lucknow zurück, so war es auffallend – wie sein Freund, der Sucher, gegen den Oberpriester bemerkte – daß er für einige Zeit nicht von der Sehnsucht nach seinem Strom redete, oder wunderbare Bilder von dem Rad des Lebens zeichnete, sondern von der Schönheit und der Weisheit eines gewissen, geheimnisvollen Chela sprach, den kein Mann des Tempels je gesehen.
»Ja, er war den Spuren der Heiligen Füße durch ganz Indien gefolgt. (Der Vorsteher des Tempels besitzt noch einen höchst wunderbaren Bericht über seine Wanderungen und Meditationen.) Es blieb nur noch übrig, im Leben den Strom des Pfeiles zu finden. Jedoch war es ihm in seinen Träumen kund geworden, daß dies ein Unternehmen ohne Aussicht auf Erfolg war, wenn nicht ein Chela mit dem Sucher war, bestimmt die Suche glücklich zu Ende zu führen – ein Chela in großer Weisheit erfahren – solcher Weisheit, wie weißhaarige Hüter von Bildnissen sie besitzen. Zum Beispiel (hier wurde der Schnupftabakbeutel hervorgeholt, und die gutmütigen Jain-Priester hörten schweigend zu): –
»Vor langen, langen Zeiten, als Devadatta König von Benares war – lasset alle lauschen der Iâtaka (Geburtsgeschichte des Buddha) – war von den Jägern des Königs ein Elefant gefangen, und bevor er sich befreien konnte, mit einem grausamen, eisernen Beinring belastet. Mit Haß und Wut im Herzen suchte er das Eisen abzustreifen, und in den Wäldern auf-und abwärts rennend, flehte er seine Brüder-Elefanten an, es abzureißen. Mit ihren starken Rüsseln, einer nach dem anderen, versuchten sie es, aber vergebens. Zuletzt gaben sie ihre Meinung ab, daß der Ring nicht von tierischer Kraft zu brechen sei. Und im Dickicht, noch feucht von der Geburt, lag ein neugeborenes Kalb der Herde, dessen Mutter gestorben war. Der gefesselte Elefant, seine eigene Qual vergessend, sprach: »Wenn ich nicht diesem Säugling helfe, so wird er unter unseren Füßen sterben.« So stand er über dem jungen Ding und machte seine Beine zu Schutzpfeilern gegen die unruhig sich bewegende Herde. Milch erbettelte er von einer tugendhaften Kuh, und das Kalb gedieh, und der gefesselte Elefant ward des Kalbes Führer und Verteidiger. Aber die Tage eines Elefanten – laßt alle lauschen der Jâtaka! – sind fünfunddreißig Jahre bis zu seiner vollen Stärke,’ und durch fünfunddreißig Regen beschützte der gefesselte Elefant den jüngeren, und durch die ganze, lange Zeit hindurch fraß das Eisen sich in das Fleisch ein.
Da, eines Tages sah der junge Elefant das halb im Fleisch begrabene Eisen und wendete sich zu dem älteren und sprach: »Was ist dies?« »Das ist eben mein Kummer,« sprach der, der ihn betreut hatte. Da streckte der andere seinen Rüssel aus, und so schnell wie man ein Auge aufschlägt, zertrümmerte er den Ring und sprach: »Die bestimmte Zeit ist gekommen«. So ward der tugendhafte Elefant, der geduldig ausgeharrt und Gutes getan hatte, erlöst zu der bestimmten Zeit durch dasselbe Kalb, das er gerettet und geliebt – laßt alle lauschen der Jâtaka! – denn der Elefant war Ananda, und das Kalb, das den Ring zerbrach, war kein anderer als Unser Herr …«
Dann wiegte er feierlich sein Haupt, und über dem immer klappernden Rosenkranz wies er darauf hin, wie frei dies Elefanten-Kalb von der Sünde des Stolzes war.
»Es war so demütig wie ein Chela, der seinen Meister draußen im Staube vor den Pforten des Wissens sitzen sah und diese Pforten übersprang, obwohl sie geschlossen waren, und seinen Meister ans Herz nahm vor den Augen der stolzbrüstigen Stadt.«
So sprach der Lama. Und er ging und kam durch Indien so sacht, wie eine Fledermaus. Eine scharfzungige, alte Dame, in einem Hause zwischen den Fruchtbäumen hinter Saharunpore, ehrte ihn, wie das Weib den Propheten ehrte, aber seines Bleibens war nicht hinter den Wänden. Er saß in einem Raume des Vorhofs, auf den girrende Tauben hinabsahen, und sie neben ihm, den überflüssigen Schleier beiseite gelegt, schwatzte von Geistern und Teufeln in Kulu, von ungeborenen Enkeln und von dem frechzungigen Burschen, der auf dem Rastplatz sie angeredet hatte. Einmal auch streifte er allein von der großen Heerstraße unterhalb Umballa nach dem Dorfe zu, dessen Priester ihm Opium gegeben halte; der gütige Himmel aber, der Lamas beschützt, leitete ihn, der gedankenvoll und arglos im Zwielicht durch die Ähren schritt, zu des Risaldars Tür. Hier hätte es bald ein schweres Mißverständnis gegeben, denn der alte Soldat fragte, warum der Freund der Sterne desselben Weges allein, erst sechs Tage vorher gekommen sei.
»Das kann nicht sein,« meinte der Lama. »Er ist zu seinem eigenen Volk zurückgegangen.«
Sein Wirt bestand darauf. »In jener Ecke saß er vor fünf Nächten und erzählte hundert lustige Geschichten. Wahr ist, er verschwand etwas plötzlich in der Dämmerung, nachdem er närrische Reden mit meiner Enkelin geführt. Er wächst zusehends, aber es ist derselbe Freund der Sterne, der mir das wahre Wort von dem Kriege brachte. Habt Ihr Euch getrennt?«
»Ja – und nein,« erwiderte der Lama. »Wir – wir haben uns nicht ganz getrennt, aber die Zeit ist noch nicht reif, wo wir zusammen wandern können. Er erwirbt Weisheit an einem anderen Ort. Wir müssen warten.«
Ganz gleich – aber, wenn es nicht der Knabe war, wie käme es, daß er beständig von Dir sprach?«
»Und was sagte er?« fragte der Lama eifrig.
»Süße Worte – hundert, tausend, daß Du sein Vater und seine Mutter wärest und all dergleichen. Schade, daß er nicht in den Dienst der Königin tritt. Er ist ohne Furcht.«
Diese Nachricht beunruhigte den Lama, der noch nicht wußte, wie gewissenhaft Kim den mit Mahbub Ali geschlossenen und von Oberst Creighton widerwillig genehmigten Kontrakt innehielt.
»Man kann kein junges Pony fern vom Spiel halten,« sagte der Roßkamm, als der Oberst behauptete, dies Vagabundieren durch Indien in Ferienzeiten sei ein Unsinn. »Verbietet man ihm zu gehen und kommen, wie er mag, so wird er sich nicht um Verbot kümmern. Und, wer soll