Gesammelte Werke von Joseph Roth. Йозеф Рот

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Gesammelte Werke von Joseph Roth - Йозеф Рот


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einen alten langweiligen Schmerz wieder zurück, der einen die ganze Kindheit lang begleitet hat, etwa geschwollene Mandeln, und dem man dennoch ein paar sorglose Stunden im Bett zu verdanken hat. An den vielen Veränderungen im Hause Zipper, an den traurigen Resultaten der traurigen Bemühungen, die schon immer eine falsche Fröhlichkeit vorgetäuscht hatten, an diesen zuschande gewordenen Hoffnungen, deren Farbe schon immer einen falschen Schimmer gehabt hatte, als wären sie nicht grün von Natur, sondern nur grün gemalt – an diesem traurigen Wechsel ermaß ich die Zeit, die ich selbst zurückgelegt hatte. Nun kam ich bald in das Alter, in dem Zipper schon ein Vater gewesen war. Mir aber kam es immer noch vor, daß ich mit Arnold in die Schule gehe. Rechts an der Ecke saß er, in der dritten Bank.

      Ich hatte eine gewisse Zärtlichkeit für den alten Zipper, er war gut zu mir und manchmal fröhlich mit mir gewesen. Er hatte gesagt: »Zeig mir mal deine Hand her, du hast dich ja verletzt? Wir wollen in die nächste Apotheke gehen und etwas draufgeben lassen.« Und als unsere Marschkompanie abging, rief er noch: »Sieg in Lublin!« – Alles war falsch gewesen, was er unternommen hatte. Er kaufte in der Apotheke etwas Falsches für die verwundete Hand, und er tröstete uns mit einem Sieg, der uns nichts half. Seine Witze waren nicht heiter, sein Ernst war lächerlich, sein Ehrgeiz rannte schief zum Ziel, er war ein Redner mit einem schlechten Gedächtnis, ein Tischler, der nichts herzustellen wußte, ein Geigenmacher, der nur ein Lied spielte – – und dieses Lied war traurig, und bei diesem Lied war er munter. Aber er hatte doch meine Tage ausgefüllt. Arnold hatte ihn mir manchmal geliehen.

      Ich ging am frühen Vormittag zu Zipper, weil ich wußte, daß er nach einer alten Gewohnheit um elf Uhr durch die Straßen spazierte, daß er nach dem Essen im Kaffeehaus saß, daß er am Abend seine Freikarte im Kino ausnützte. Ich war etwa zehn Schritte vom Haus entfernt, hellgelb lag die Sonne auf der Straße, da sah ich, wie man einen schwarzen Kasten in einen schwarzen Wagen lud, zwei Männer in schwarzen Zylindern stiegen dann auf den Bock, die Zügel strafften sich, und hurtig rollte der Totenwagen im Sonnenglanz dahin.

      Kein anderer als Zipper war gestorben.

      Der Galanteriewarenhändler erzählte es mir. Vor einer Woche war die Frau Zipper zu ihrem Bruder nach Brünn gefahren. Noch gestern hatte der Alte zu ihm, dem Galanteriewarenhändler, gesagt, seine Frau bliebe zu lange weg. Nach einer so glücklichen Ehe könne man nicht einmal zehn Tage mehr allein sein. Am Abend ist er gestorben. Die Hausmeisterin hat um sechs Uhr früh auf den Friedhof telephoniert. In dem Augenblick war Zipper gestorben, in dem er, wie jeden Abend, seine Uhr – wie genau erinnerte ich mich an sie – hatte aufziehen wollen. Er ließ sie fallen und fiel selbst hin. So hat ihn dann das Dienstmädchen gefunden.

      Drei Tage später sah ich, wie man ihn begrub. Die Frau Zipper stand am Grab, sie weinte nicht. Alle ihre Tränen sind schon längst vergossen, dachte ich. Mitglieder vieler Vereine hielten Reden. Arnold war nicht da.

      Nach zwei Tagen wollte ich zu seiner Mutter gehen und nach ihm fragen.

      XXI

       Inhaltsverzeichnis

      Am nächsten Vormittag begegnete ich einem gemeinsamen Freund von Arnold und mir, dem Eduard P.

      Hager und leise, immer in der Nähe der Wände und der Straßenränder, niemals in der Mitte eines Raumes wandelnd, erinnerte P. an einen Schatten, der sich von seinem Körper frei gemacht hat, nie mehr nach ihm sucht und auf ein körperliches Dasein verzichtet hat. Er wandelt nicht nur an den Rändern der Straße, sondern auch an den Rändern der Ereignisse. Er säumte sie ein gewissermaßen. Von außen her und als gehörte er nicht zu dieser Welt, nahm er Stellung zu ihr und ihren Vorgängen.

      Zwar tat er es mit Leidenschaft. Zwar konnte er sich über Häßliches aufregen, Mittelmäßiges verachten, Schönes bewundern. Aber selbst dann war er eher ein eifernder Geist als ein eifernder Mensch, seine Leidenschaft kam aus dem Jenseits, das Maß, das er an die Menschen und ihre Taten anlegte, war kein irdisches und sein Urteil infolgedessen ungerecht. Er hatte eine himmlische oder eine höllische, jedenfalls keine menschliche Gerechtigkeit. Von allen Menschen, die ich kannte, scheint er am ehesten begabt, die unverständlichen Schicksale, die aus unbekannten Händen verschüttet werden, zu begreifen.

      Er kam aus dem Kaffeehaus der Literaten und Künstler, auch er. Aber dort war er nicht Gast wie alle andern, sondern eine Art Geist des Hauses, ein Gespenst vielleicht, die Seele eines längst verschollenen Schriftstellers, der keine Bücher hinterlassen hatte und der in einem Kreis mit dem Jenseits vertrauter Leute keine Veranlassung fand, nach üblicher Gespenstermanier zu spuken, sondern Grund hatte, sich mit ihnen menschlich zu unterhalten. Er las keine Bücher, er besuchte kein Theater, aber er wußte, was geschrieben und was gespielt wurde. Er gab keine Urteile ab, es schien ihm leichtsinnig oder auch zu geringschätzig, ein Urteil über ein einzelnes Werk abzugeben. Er wies jeder Erscheinung ihren Platz im Jahrhundert an, und von dem Gipfel aus, von dem man auf drei oder sechs Jahrtausende herabschaut, sprach er über ein winziges Buch, das in einem kleinen Schublädchen seines Jahrzehnts seinen Platz und sein Vergessen gefunden hatte.

      Ich erinnerte mich, daß ich P. immer gemieden hatte aus Angst vor der Höhe, auf der er sich befand und von der es eisig auf mich herabwehte. Schließlich lebt man, ist jung, hat Hoffnungen, möchte zwar ewig dasein, fühlt sich aber dennoch glücklich innerhalb des beschränkten Himmelsrunds, das über ein paar Jahrzehnte menschlichen Lebens gestülpt ist, und will am liebsten nichts wissen von der Geringfügigkeit, der Bedeutungslosigkeit eines Worts, das man spricht, einer Handlung, die man begeht, eines Schmerzes, den man erleidet. Es war, wenn man mit P. sprach, als blickte man in die Milchstraße und erlebte an hunderttausend Sonnen und an Millionen Planeten das Schicksal, das unserer Sonne und unserer Erde einmal beschieden ist. Seine Unerbittlichkeit war nicht hart und nicht grausam, denn man fühlte, daß sie notwendig war. Aber man mußte wahrscheinlich sehr alt geworden sein, um mit P. überhaupt sprechen zu können.

      P. hatte noch niemals diese Stadt verlassen. Er war krank, er war auch nicht in den Krieg gegangen, er wartete auf den Tod. Da es feststand, daß er sterben würde, wunderte man sich immer darüber, daß er noch lebte. Manche nahmen es ihm übel, daß er sein Wort nicht hielt. Vielleicht hatten sie Angst vor ihm wie ich.

      Ich hätte jedenfalls nicht gedacht, daß er den alten Zipper überleben würde. Denn obwohl Zipper weit älter war, so schien er mir doch wegen all seiner sonderbaren Eigenschaften eine Ewigkeit dauern zu sollen. Es war, als stünde der alte Zipper nicht im gewöhnlichen Leben, sondern in einer anderen, dem Verderb und dem Untergang nicht unterworfenen Abteilung des Lebens, während der junge Eduard P., obwohl schon ein Geist, dennoch als Körper ein schwächliches Mitglied dieser Welt war, über die der Tod stündlich ausgeschüttet wird wie Schnee im Winter.

      »Ich habe heute in der Zeitung gesehen«, sagte P., »daß der alte Zipper gestorben ist. Haben Sie ihn gekannt? Er war ein Tartarin eines bestimmten Wiener Bezirks. Ein Ausbund von liberalem Kleinbürgertum, ein Spießer, den ich verabscheut hätte, wenn nicht sein konfuser Kopf seine Entschuldigung gewesen wäre.«

      »Wissen Sie vielleicht, wo Arnold ist?«

      »Ah, Sie kennen nicht Arnolds Schicksal? Wenn ich mich recht erinnere, haben Sie immer gesagt, das Leben sei niemals so inkonsequent wie die Schriftsteller. Wenn ich mich erinnere, war es der Text Ihrer Predigt im Kaffeehaus am Abend, in der ›Roten Ecke‹ auf dem Sofa: es sei Aufgabe des Autors, abzuschreiben, was er sehe. Hab ich mir’s gemerkt? Wenn Sie nun ein Romanschriftsteller aus der guten alten Schule wären, dann hätten Sie einen ausgezeichneten Stoff: Arnolds Leben. Sie wissen, daß er mit Erna in Monte Carlo von täglichen Gewinsten gelebt hat. Ist das nicht romanhaft genug? Nun, warten Sie! Dieser schlauen Erna (auf die Sie auch einmal hereingefallen waren, Sie auch) gelingt es, von Nizza aus, wo sie einen Filmamerikaner kennenlernt, nach Hollywood zu gelangen. Wahrscheinlich haben Sie schon ihren letzten Film gesehen. Eine ausgezeichnete Rolle. Das ist endlich die gute Schauspielerin ohne eine Spur von Talent. An dem Tag, an dem die Frau aus Monte Carlo abreist, fängt Arnold an zu verlieren. Er muß leben. Aber was hat er gelernt? Sein Vater hat ihn zu einem Genie erzogen, wie mein Vater mich – aber mir hat es nicht geschadet, weil


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