Gesammelte Werke von Joseph Roth. Йозеф Рот

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Gesammelte Werke von Joseph Roth - Йозеф Рот


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sich an Grünhut wie an eine Medizin, die man schon ein paarmal mit Erfolg benutzt hat. Grünhut war ein verlorener Mann, er geriet auch durch einen Krieg nicht mehr aus seiner Verbannung. Und da die Gesellschaft Krieg führte, schloß Friedrich mit der Konsequenz eines Menschen, der noch keinen Krieg erlebt hatte, müßten die Vorbestraften normal sein.

      Grünhut sprang auf. »Kommen Sie, kommen Sie«, sagte er und zog Friedrich zum Tisch und zündete die Gaslampe an, die eine surrende, grüne Kälte zu verbreiten anfing. Dennoch versuchte er, sich an der Flamme die gefrorenen Hände zu wärmen.

      Friedrich erzählte von seiner Flucht. Grünhut ging im Zimmer herum und rieb sich die Hände. »Welch ein Heldentum!« sagte er. »Sie verdienten eine Auszeichnung, noch bevor Sie ins Feld gehn! Das muß man in der Zeitung veröffentlichen! Welch ein Held! Welch ein Held!« Und er begann, von der bevorstehenden Belagerung der Stadt Paris zu sprechen, von dem Zug Hindenburgs nach Petersburg, von einer Marschkompanie, die gerade heute unter seinem Fenster zur Bahn vorbeigegangen war, und von seiner Aussicht, endlich rehabilitiert zu werden. Er nannte jetzt seine alte, unglückliche Geschichte einen »tragischen Fall«. Er hatte ein Gesuch an das Regiment gerichtet, in dem er als Einjähriger Vorjahren gedient und Feldwebel mit Offiziersprüfung geworden war. Er hatte noch eine Abschrift, zog sie aus der Tasche und begann vorzulesen. Es war die Rede von der außergewöhnlichen Zeit, vom Vaterland und vom Kaiser, von einer »jugendlichen Verirrung« und von der Sehnsucht, als Ehrenmann und Soldat zu sterben und ein verlorenes Leben durch einen schönen Tod wiedergutzumachen. Trotz seinem Alter wollte er an die Front.

      Er wischte sich den Schweiß von der Stirn, obwohl seine roten Hände verrieten, daß er fror. Er hatte Hitze und Frost zugleich. Sein Kopf steckte in einem andern Klima als sein Körper. Vorläufig, so erzählte Grünhut, wären keine Adressen zu schreiben. Ein großer Schneider, der Uniformlieferungen hatte, gab ihm sogenannte Heimarbeit. Er holte sich jeden dritten Tag in der Werkstatt zwanzig Paar Militärhosen und hundertfünfzig Knöpfe und lieferte die Hosen mit den angenähten Knöpfen wieder nach drei Tagen ab. Er lieferte nur gute Arbeit. Andere begnügten sich damit, einen Faden durch je ein Knopfloch zu ziehn. Wenn so ein Soldat dann das erstemal seine Hosenträger anknöpfte, riß er sofort. Die Leute hatten kein Gewissen. Grünhut aber nähte die Knöpfe so vorsichtig an, daß sie wie Eisen hielten. Während man bei allen anderen Heimarbeiten Stichproben machte, glaubte man ihm aufs Wort. Auch bekam er einen höheren Lohn. Nur ging es jetzt nicht gut. Frau Tarka verlor allmählich ihre Kundschaft. Die Männer rückten ein, die Frauen wurden Pflegerinnen. Sie lernten allmählich vorsichtig sein und Schwangerschaften vermeiden. Es war Übung. Die geschlechtlichen Dinge konnten kein Geheimnis mehr bleiben. Und die Angst der Mädchen vor den Vätern wurde auch mit der Zeit geringer. Frau Tarka setzte ihm also zu. Sie verlangte mehr Geld fürs Zimmer. Man konnte jetzt so gut an Flüchtlinge aus dem Osten vermieten. Er vertröstete sie mit seiner Aussicht auf die Rehabilitierung.

      »Wollen wir zum Essen gehn?«

      Ja, sie gingen in die Ausspeisung.

      Das Wetter hatte umgeschlagen, es wehte ein warmer Wind und verwandelte den Schnee in Regen. Die Leichtverwundeten und die Rekonvaleszenten gingen an Stöcken, mit schwarzen und weißen Binden, manche an den Armen dunkelblauer Pflegerinnen. Die Lampen waren reduziert worden, in den Schaufenstern wurden die Lichter zeitig ausgelöscht, manche Läden hatten geschlossen, weil ihre Inhaber eingerückt waren. Die herabgelassenen eisernen Türen erinnerten an Gräber, und die Zettel, die den Grund für die Abwesenheit der Kaufleute angaben, an Tafeln auf Grüften. In manchen Straßen war es so finster, daß man die Sterne zwischen den zerrissenen Wolken sah. Es war ein Einbruch der Natur unter die Häuser und Laternen. Die Fensterreihen blieben blind. In den Scheiben spiegelten sich der Himmel und die Wolken.

      Der schwach erleuchtete Raum der Ausspeisung schien heller und freundlicher als im Frieden. Jetzt saßen mehr Frauen als Männer an den langen Tischen. Sie sprachen von Söhnen und Männern, zogen zerknüllte Feldpostbriefe aus verborgenen Taschen und alte Zeitungen. Ein paar grauhaarige Männer, die Grünhut mit einem kurzen Schweigen begrüßten, sprachen von der Politik. Grünhut, den die Alten Herr Doktor nannten, erklärte ihnen die strategische Lage der verbündeten Armeen und tröstete sie über den Vormarsch der Russen in Galizien mit dem Hinweis auf Napoleon, der im Jahre 1812 gerade dem Vormarsch sein Unglück zu verdanken hatte. »Ich habe mich gestern freiwillig gemeldet!« sagte er, wie als einen letzten und endgültigen Beweis für seine Behauptung, daß der Sieg der Mittelmächte sicher sei. Die Alten schüttelten die Köpfe. Wie alt er sei? fragten sie. »Zweiundfünfzig!« sagte Grünhut mit der gleichen Betonung, mit der er vorher »dreißigtausend Gefangene« gesagt hatte.

      An der Wand hing, Friedrich bemerkte es auf einmal, ein großer, bunter Öldruck vom Kaiser im Krönungsornat. Das Porträt war im Frieden schon vorhanden gewesen, aber so hoch an der Wand und so verstaubt, daß er es immer für eine Landschaft gehalten hatte. Jetzt hing es also an einer sichtbaren Stelle und war wie ein erneuerter Treueschwur der Bettler und Armen, die hierherkamen.

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