Gesammelte Werke von Joseph Roth. Йозеф Рот
Читать онлайн книгу.für kurze Sekunden erhellten. Er sah sich im Traum einen schmalen Weg zwischen Feldern entlanglaufen. Der Weg führte in einen Wald. Es war Nacht. Ein breiter Streifen Licht aus einem Scheinwerfer huschte über die Felder hin, um den schmalen Pfad zu finden, auf dem Friedrich lief. Der Pfad hatte kein Ende. Man sah die dunkle Masse des Waldes ganz nahe. Aber der Weg machte unerwartete Biegungen, wich einem Stein und einer Wasserlache aus, und sooft Friedrich sich entschloß, ihn zu verlassen und geradewegs über die Felder zu laufen, verschwand der Wald vor seinen Blicken. Ein nackter, von weißen Scheinwerfern schamlos entkleideter Himmel lag flach und endlos über der Welt. Hastig suchte er wieder nach dem trügerischen Weg, und er lief, sorgfältig trotz aller Eile, einen Fuß vor den andern, um nur nicht seitwärts zu treten und den Wald vor den Augen zu verlieren.
Am Morgen geht er noch einmal durch die kleine Stadt. Die Läden sind geschlossen. An den Fenstern der niedrigen Häuser zeigt sich niemand. Auf dem quadratischen Marktplatz lagern Soldaten. Die Pferde wiehern. Aus riesigen Kochkesseln duftet es warm und fett. Die Trainwagen rollen unaufhörlich und scheinbar zwecklos über die holprigen Steine. Auf der steinernen Schwelle eines Hauses, dessen Tor geschlossen ist, sitzt ein Soldat. Er hält einen Sack zwischen den Knien, beugt seinen Kopf über ihn und sieht hinein. Wie Friedrich vorbeigeht, schließt er mit einem erschrockenen Griff den Sack und hebt den Kopf. Er hat ein blasses, breites Gesicht mit fahlen Brauen über schmalen, hellgrauen Augen. Seine Mütze liegt schief auf seinen Haaren und drückt ein Ohr zusammen. Seine gelbe Uniform aus harter Leinwand ist zu schmal, und seine breiten Schultern füllen noch ein oberes Stück der Ärmel aus. Er erinnert so an einen Irren in der Zwangsjacke. Ein langsamer Schrecken überzieht sein Gesicht. Seine viel zu kurzen Lippen, die sich niemals ganz schließen können, enthüllen das Zahnfleisch über den langen gelben Zähnen. Es sieht aus wie Lachen und Weinen, wie Freundlichkeit und Zorn. »Ich hab dich erschreckt!« sagt Friedrich. Der Soldat nickt. »Was hast du da im Sack? Fürchte dich nicht!« Der Soldat öffnet schnell und läßt Friedrich hineinblicken. Friedrich sieht silberne Löffel, Ketten, Leuchter und Uhren. »Was machst du damit?« Der Soldat zuckt die Schultern und legt den Kopf auf die Seite wie ein verlegenes Kind. Schließlich fleht er: »Gib mir deine Uhr!« »Du hast ja so viele!« sagt Friedrich, »ich habe keine.« »Laß mich sehen!« fleht der Soldat. Er steht auf und steckt die Hände in Friedrichs Taschen. Er findet Papiere, Bleistifte, eine alte Zeitung, ein Messer, ein Taschentuch. »Nein, du hast keine!« sagt der Soldat, »da, nimm dir eine!«, und er öffnet den Sack. »Ich brauche keine Uhr!« sagt Friedrich. »Doch! Du mußt nehmen!« beharrt der Mann und steckt ihm eine Uhr in die Rocktasche.
Friedrich entfernt sich. Der Soldat läuft ihm nach, den schlenkernden Sack in der Hand. »Halt!« ruft er. Und als Friedrich stehnbleibt: »Gib mir doch die Uhr wieder!« Er nimmt sie mit einer zitternden Hand entgegen. Offiziere kamen vom Frühstück, mit klirrenden Sporen, gegürteter Taille, mit der kriegerischen Eleganz, die aus dem Offizier ein Muster der Männlichkeit macht und ihm zugleich eine Ähnlichkeit mit weiblichen Mannequins verleiht. Sie wiegten sich in den Hüften, an denen die Pistolen wie Schmuckstücke in Etuis hingen. Die Soldaten in den Straßen grüßten. Und die Offiziere erwiderten lustig und leger. Wie sie so dahingingen, zwischen grüßender Ehrfurcht, stummer Dienstbereitschaft, verliebter Ergebenheit, erinnerten sie an gefeierte Damen der Gesellschaft, die durch einen Ballsaal schreiten.
Sanitätswagen kamen, aus denen man Verwundete mit weißen Verbänden herauszog wie Gipsfiguren aus Schubladen; ein sterbendes Pferd lag in der Straßenmitte, um das sich niemand kümmerte, ein Offizier ritt vorbei. Er ragte bis an den Rand der Häuser und schien wie ein blauer Gott die Welt zu visitieren.
Sie reisten noch an diesem Tag nach Rumänien. Berzejew fuhr weiter über Griechenland und Italien nach der Schweiz, Friedrich über Ungarn nach Wien. Sie sollten sich in Zürich treffen. Sie fuhren mit Rote-Kreuz-Binden und mit Legitimationen aus Kapturaks Fabrik als Mitglieder einer Schweizer Krankenkommission.
X
In Rumänien trennte sich Friedrich von seinem Freund. Es war mir damals, als ich erfuhr, daß er nach Wien ging, unerklärlich, weshalb er nicht mit Berzejew zusammen den Umweg über Italien nach der Schweiz gemacht hatte. Und noch als ich im Felde den ersten Brief nach langer Zeit von Friedrich erhielt – ich zitiere auf einer der folgenden Seiten eine kennzeichnende Stelle –, nahm ich an, daß er etwas Wichtiges, vielleicht im Auftrag seiner Partei, in Österreich zu erledigen habe. Aber er hatte dort nichts zu tun. Ich begriff nicht, daß ein Mann, der mehr als ein Jahr in sibirischer Gefangenschaft gelebt hat, in eine Stadt zurückkehrt, um einen Bekannten oder selbst eine Frau wiederzusehn. Dennoch scheint Friedrich keinen anderen Grund gehabt zu haben. Savelli war nicht mehr in Wien. Der ukrainische Genosse P. lebte seit einem Jahr in einem Konzentrationslager für Zivilgefangene in Österreich. R. war nach der Schweiz übersiedelt – einen Monat vor dem Ausbruch des Krieges noch. Friedrich konnte ohne Militärpapiere nicht einmal sicher durch die Straßen gehn. Alle Menschen waren – wie man weiß – die Schatten ihrer Dokumente geworden. Den Jahrgang Friedrichs hatte man längst einberufen. Er mußte jedem Polizisten auf der Straße verdächtig erscheinen. Die großen Mobilisierungsplakate, auf denen er genannt war, klebten verwelkt und zerfetzt an den Wänden, nur noch Bestätigungen dafür, daß die Angehörigen dieses Jahrgangs gefallen waren und schon zu vermodern anfingen. Friedrich, dem eine bestimmte Staatsbürgerschaft nicht nachzuweisen war, konnte verhaftet werden und in ein Lager kommen. An der Grenze und unterwegs hatte er erzählt, daß er aus Rumänien komme, um einzurücken. Man hatte es ihm geglaubt, es gab viele seinesgleichen im Zug. Ein Gendarm, der die Papiere kontrollierte, erzählte es ihm. Die Männer kamen aus fernen Ländern, um ein Gewehr zu nehmen. Auch hier waren die Züge mit Laub geschmückt. Die Soldaten sangen andere Lieder und trugen andere Farben und Mützen als in Rußland. Vor einem Monat waren sie alle in Zivil, drüben und hier, kaum zu unterscheiden. Woher konnten sie denn alle auf einmal singen? Sie hatten nie gesungen, wenn sie in den Zügen gesessen waren, als Reisende in Parfüms, als Advokaten, als Beamte, die in Urlaub gingen oder wieder zu ihrem Dienst zurückkehrten. Hatten Sie keinen Respekt vor dem Tod? Achteten sie ihn nur, wenn er mit den feierlichen Abzeichen auftrat, die sie ihm in regelmäßigen Zeiten und auf regelrechten Friedhöfen, in Sarghandlungen und Leichenbestattungsunternehmungen zu verleihen liebten?
»Ich wurde mir langsam klar über meinen alten Zorn gegen die Autorität«, schrieb mir Friedrich später ins Feld. »Ich rebellierte nur gegen die vorläufige, gegenwärtige Autorität. Denn sie ruht nicht auf legaler Voraussetzung. Ebensowenig wie dieser Buchhalter, der jetzt singend in den Krieg zieht, ein Held ist, sowenig ist der Polizist ein Polizist, der Minister ein Minister, der Kaiser ein Kaiser. In friedlichen Zeiten sieht man es nicht. Aber jetzt enthüllen die hunderttausend Advokaten und Oberlehrer, die sich plötzlich in Offiziere verwandelt haben, die Ungesetzlichkeit auch der Berufsoffiziere. Es ist kein Zweifel, die Gesellschaft gibt sich zu erkennen, obwohl sie sich verkleidete.
Ich war in dem Verein der jungen Arbeiter, den Sie ja kennen. Die Donnerstagabende finden immer noch statt. Ich las das Programm im Hausflur. Dies die Titel der Vorträge: ›Die Mittelmächte und der Krieg‹. ›Der Sozialismus und Deutschland‹. ›Der Zarismus und das Proletariat‹. ›Der mitteleuropäische Gedanke und die Freiheit der Völker‹. Ich suchte den Vorsitzenden, einen jungen Metallarbeiter. Er war trotz seiner Jugend vom Militärdienst vorläufig befreit, weil er in einer Munitionsfabrik arbeitete und wegen seiner besonderen Kenntnisse. ›Oh, Genosse!‹ sagte der junge Mann erfreut. Er trug ein Abzeichen im Knopfloch, dessen Form ich kaum erkennen konnte und das gleichzeitig ein Kreuz war, ein Stern und ein Hammer. Ein Zeichner, der in der Munitionsfabrik beschäftigt war, hatte es entworfen, und es war behördlich geschützt worden als ein Abzeichen der Hinterlandshelden, wie die Metallarbeiter genannt werden. ›Wie herrlich, daß Sie entronnen sind!‹ sagte der Junge. ›Wann rücken Sie ein? Wollen Sie noch vorher einen Vortrag bei uns halten? Wir sind jetzt wenige. Die meisten sind eingerückt!« Wie er so sprach, hatte er die Fröhlichkeit eines Festkomiteepräsidenten. Auf seinem Tisch lagen Stöße von rosa Feldpostkarten, stand ein Aschenbecher, den er selbst aus einer der Granaten, die er erzeugen half, hergestellt hatte. An der Wand hing einer der bekannten Drucke,