Gesammelte Werke von Joseph Roth. Йозеф Рот
Читать онлайн книгу.Nach vier Tagen wurden sie ausgeschifft, in eine große Halle geführt und einwaggoniert. Sie waren erfrischt, als sie wieder das Land betraten, und ihre Ketten hatten einen hurtigeren Klang. Noch unter den rollenden Rädern der Eisenbahn fühlten sie die Erde. Durch die vergitterten Fenster des Zuges sahen sie Gras und Felder, Kühe und Hirten, Birken und Bauern, Kirchen und blauen Rauch über Schornsteinen, die ganze Welt, von der sie getrennt waren. Dennoch war es ein Trost, daß sie nicht untergegangen war, daß sie sich nicht einmal verändert hatte. Solange die Häuser standen und das Vieh weidete, erwartete die Welt die Wiederkehr der Gefangenen. Die Freiheit war nicht wie ein Eigentum, das jeder einzelne verloren hatte. Sie war ein Element wie die Luft.
Gerüchte wirbelten durch die Waggons. In der Erinnerung an die Botschaften, die man in den letzten Gefängnissen gehört und ausgetauscht hatte, nannte man sie »Latrinenneuigkeiten«. Die einen sagten, der ganze Transport würde geradewegs nach Wjerchojansk kommen, was von den Kennern als Irrsinn bezeichnet wurde. Adrassjonow, der Unteroffizier, hatte einem der »Alten«, den er schon zum zweitenmal transportierte, gesagt, daß sie nach Tjumen kommen würden, in eines der größten Gefängnisse, in den Tjuremnij Zamok, das Zentralgefängnis für Verbannte. Die Erfahrenen, die schon dort gewesen waren, begannen, die Schrecknisse dieses Kerkers zu schildern. Zuerst schauderten sie bei ihren eigenen Worten und machten die Zuhörer schaudern. Aber allmählich, während sie erzählten, wurde die Begeisterung, die sie nur aus dem Erzählen bezogen, stärker als der Inhalt ihrer Rede und die Neugier der Zuhörer größer als der Schrecken. Sie saßen da wie Kinder, die Märchen von gläsernen Palästen hören. Panfilow und Sjemienuta, zwei alte, weißbärtige Ukrainer, schilderten die Einzelzellen sogar mit einer Art Wehmut, und vergeßlich, wie das menschliche Herz ist, und weil der Weg noch allen unendlich vorkam und das Ziel trotz der Versicherungen der Erfahrenen noch ungewiß blieb, glaubten alle für ein paar kurze Stunden nicht, sie selbst führen dem Elend der Gefängnisse entgegen, sondern ganz andre, Fremde.
Friedrich und Berzejew nahmen sich vor, möglichst nahe beieinander zu bleiben. Berzejew hatte Geld. Er wußte, wie man bestach, Listen und Namen austauschte, und während die anderen »Politischen« über die Bauern, die Anarchie, Bakunin, Marx und die Juden diskutierten, berechnete er, wem er eine Zigarette und wem er einen Rubel geben sollte.
Obwohl sie langsam fuhren, stundenlang auf Güterbahnhöfen standen, schien ihnen doch die Eisenbahnfahrt kürzer, als sie gedacht hatten. Noch einmal rasselten die Ketten, noch einmal verlas man die Namen. Sie standen auf dem letzten Bahnhof und nahmen Abschied von den reizvollen Einrichtungen der Eisenbahn, von ihren technischen Spielzeugen, von grünen Signalen und roten Fähnchen, von den schrillen Glöckchen aus Glas und den harten Glocken aus Eisen, vom unermüdlichen Ticken des Telegraphen und vom sehnsüchtig geschwungenen Glanz der Schienen, vom keuchenden Atem der Lokomotive und dem heiseren Schrei, den sie zum Himmel schickte, vom Ruf der Schaffner und vom Winken der Stationsbeamten, vom Brunnen und von einem Gartenzaun, vom kargen Büfett dieser verlorenen Station und von dem Mädchen, das hinter den Flaschen stand und einen Samowar bediente. Besonders von diesem Mädchen. Friedrich betrachtete sie, als wäre sie die letzte europäische Frau, die er sich ansehn durfte und sich gut merken müsse. Er erinnerte sich an Hilde wie an ein Mädchen, mit dem er vor zwanzig Jahren gesprochen hatte. Manchmal konnte er sich nicht mehr ihr Gesicht vorstellen. Es schien ihm, daß sie in der Zwischenzeit alt und grau geworden war, eine Großmutter.
Sie stiegen in Wagen, machten alle fünfundzwanzig Kilometer halt, wechselten die Pferde. Nur der Kutscher blieb auf dem ganzen Weg der gleiche. Ein großer Teil des Transports war zurückgeblieben und sollte tatsächlich in eines der großen Sammelgefängnisse eingeliefert werden. Sie bestanden nur noch aus einigen Gruppen. Friedrich und Berzejew, Freyburg und Lion saßen in einem Wagen. Ohne daß es alle sahen, drückte Friedrich Berzejews Hand. Sie schlossen ein verschwiegenes Bündnis.
Wenn einer von den Gefangenen die Mütze abnahm, sah man die linke kahl rasierte Hälfte seines Schädels, und sein Angesicht bekam den närrischen Ausdruck eines Irrenhäuslers. Einer erschrak vor dem andern, aber jeder verhüllte sein Entsetzen unter einem Lächeln. Nur Berzejew war es gelungen, den Friseur zu bestechen. Er hatte den ganzen Schädel kahl rasiert.
Die Gefangenen sangen ein Lied nach dem andern. Die Soldaten und die Kutscher sangen mit. Manchmal sang ein einzelner, dann war es, als sänge er mit der Kraft aller. Seine Stimme verrauschte im vielstimmigen Refrain, der wie ein Rückkehr aus dem Himmel zur Erde war. Am schönsten sang Komow, ein Weber aus Moskau, bei dem man eine Geheimdruckerei entdeckt hatte. Er fuhr in die Gefangenschaft für fünfzehn Jahre.
III
Eines Morgens begannen sie die Wanderung. Quer in eine wüste Fläche Landes gestellt war der Zug von Menschen mit Bündeln, Ketten, Stecken in den Händen.
Von den fünfzig Männern, die in Gruppen zu acht, sechs und zehn, von spitzen Bajonetten auf langen Gewehren bewacht, dahinschritten, verrieten nur die ältesten Müdigkeit. Der Vorschrift gemäß durfte jeder nur fünfzig Pud Gepäck mitnehmen. Einige, die sich noch auf dem letzten Bahnhof geweigert hatten, ihre Bagage zu verringern, warfen jetzt mit den überflüssigen Dingen auch die nützlichen fort. Die Soldaten sammelten alles ein, sie ließen es in den Jurten zurück, an denen sie vorbeikamen und die sie auf dem Rückweg wieder besuchten. Nur Berzejew warf nichts weg. Sein umfangreiches Gepäck trugen die Soldaten. Er konnte ihnen ein gutes Wort sagen, eine Zigarette in den Mund stecken und zuschnalzen wie Pferden.
Wenn sie schon lange schweigsam dahinmarschiert waren, befahl Berzejew: »Singen!« Sie sangen. Aber sie stockten schon nach der ersten Strophe. Den Refrain mußte jetzt erst eine zaghafte Stimme nach einer zagen Pause anfangen, es dauerte lange, bis die anderen einfielen. Die Melodie belebte nicht mehr die schweren Füßen. Sie kamen der Verbannung immer näher. Die Verbannung selbst kam ihnen entgegen. Weit hinter sich hatten sie die Eisenbahn zurückgelassen, Pferde, Wagen und Menschen. Der Himmel wölbte sich über die flache Erde wie eine runde Decke aus grauem Blei, festgelötet an den Rändern. Unter dem Himmel eingeschlossen waren sie. Im Kerker wußte man wenigstens, daß sich ein Himmel noch über den Mauern wölbte. Hier aber war die Freiheit selbst ein Gefängnis. An dem Himmel aus Blei gab es keine Gitter, die einen andern, einen Himmel aus blauer Luft ahnen lassen konnten. Die Größe des Raumes schloß noch mehr ein als eine Zelle.
Allmählich zerfielen sie in immer kleinere Gruppen. Tränen in den Augen und in den Bärten, nahmen sie voneinander Abschied. Friedrich, Berzejew und Lion blieben zusammen. Am ersten Tag sprachen sie noch von dem und jenem, mit dem sie gemeinsam gesungen hatten. Sobald sie zu dritt eines der Lieder anstimmten, das noch vor einigen Tagen allen Kehlen entströmt war, erinnerten sie sich an die andern, deren Stimmen sie nie mehr hörten sollten. Die Lieder waren eine Art klingender Bündnisse und Freundschaften gewesen. Sie hatten Fremde zueinandergebracht mit der Kraft gemeinsam vergossenen Bluts und gemeinsam erlittener Schmerzen. Dann vergaß man allmählich die Verschwundenen. Und nur manchmal erwachte in der Erinnerung ein Gesicht, das keinen Namen mehr trug, eine Träne in einem schwarzen Bart, der zu keinem Gesicht mehr gehörte, und ein Wort erklang, dessen Sprecher nicht mehr zu erkennen war.
Sie wurden weit und regellos herumgeführt, sie sahen die menschenleeren Ufer des Obi. Die zwei kleinen Siedlungen Hurgut und Narym erschienen ihnen wie große und belebte Städte. Sie übernachteten in Narym. Sie lernten, die Wanzen mit den Fäusten absammeln und in großen Kübeln ertränken; auch die schmalen, weißen Reihen Läuse von den Wänden in Papiertüten locken und verbrennen. Sie begannen, die einsam verstreuten Gefängnisse, in denen sie rasten durften, wie gastliche Heime zu schätzen. Sie sahen ferne Waldbrände, kauften durch Tausch bei chinesischen Händlern aus Tschifu sibirische Hafenhandschuhe und Stiefel aus Rentierfellen. Sie hörten die Legende der Jakuten vom Fluß Indigirka und vom Flüßchen Dogdo, das Gold auf dem Grunde führt.
Der Winter kam. Sie gewöhnten sich an 67 Celsiusgrade unter Null und an die matten Fensterscheiben aus Eis in den Jurten. Und sie erwarteten die vierzig sonnenlosen Tage in der Stadt Wjerchojansk,