Gesammelte Werke von Joseph Roth. Йозеф Рот
Читать онлайн книгу.Ich glaube nicht, daß ich die Revolution liebe – in diesem Sinn.« »Gott kann man lieben«, erklärte Kapturak dezidiert.
»Ein Gläubiger sieht ihn vielleicht«, meinte Savelli. »Vielleicht müßte ich die Revolution sehn – –«
»Wenn Sie fliehen«, sagte Kapturak, »wer soll sie denn machen?«
»Wer soll sie machen«, rief Savelli. »Sie kommt. Ihre Kinder werden sie sehn!«
»Gott bewahre meine Kinder!« sagte Kapturak.
Friedrich wußte, wer Savelli war. Unter dem Namen Tomyschkin figurierte er in den Berichten der Zeitungen. Er hatte die berühmt gewordenen Überfälle auf die Banken und Geldtransporte im Kaukasus und im südlichen Rußland ausgeführt. Seit Jahren suchte ihn die Polizei vergebens.
»Er hätte«, meinte Kapturak, »noch lange bleiben können. Er scherte sich nicht um die Polizei. Aber man bedürfe seiner jetzt im Ausland.« Savelli blieb ein paar Tage in der Herberge. »Sind Sie mit Parthagener verwandt?« fragte er einmal Friedrich. Und als Friedrich verneinte – »Was machen Sie in der Gesellschaft dieser Banditen?«
»Ich will Geld sparen, um zu lernen«, sagte Friedrich. »Ich werde bald nach Wien fahren.«
»Dann kommen Sie gelegentlich zu mir!« sagte Savelli. Und er gab ihm seine Adresse in Wien, Zürich und London.
Friedrich empfand für den berühmten Mann jene Art peinlicher Dankbarkeit, die ein Patient seinem Arzt entgegenbringt, der mit schonender Güte den langwierigen Verlauf der Krankheit ankündigt. Fremd, hart, finster war Savelli. Verhaßt war Friedrich das Opfer, die Anonymität des Opfers, die freiwillige Nachbarschaft, die der Kaukasier mit dem Tode pflegte.
Ungeheuer weit, unberechenbar reich an Jahren und an Abenteuern dehnte sich vor Friedrichs Jugend das Leben. Wenn er das Wort »Welt« vor sich hinsagte, sah er Freuden, Frauen, Ruhm und Reichtum.
Er begleitete Savelli zur Bahn. In einer einzigen, kurzen Sekunde, Savelli stand schon auf dem Trittbrett, glaubte Friedrich zu fühlen, daß sich der Fremde seiner Jugend bemächtigt hatte, seines Lebens, seiner Zukunft. Er wollte ihm die Adresse zurückgeben und sagen: Ich werde Sie nie aufsuchen. Aber jetzt streckte ihm Savelli die Hand entgegen. Er nahm sie. Savelli lächelte. Er schlug die Waggontür zu. Friedrich wartete noch. Savelli kam nicht mehr zum Fenster.
V
Friedrich lernte, wie man log, Papiere fälschte, die Ohnmacht, die Dummheit und selbst noch die Brutalität der Beamten benützte. Andere in seinem Alter entrannen eben der Angst vor einem Klassenbuch und vor einem Sittenzeugnis. Er wußte bereits, daß es keinen unbestechlichen Menschen in der Welt gab; daß man mit Hilfe des Geldes alles machen konnte und beinahe alles mit Hilfe des Verstandes. Er begann zu sparen. In freien Stunden bereitete er sich für das Abiturium vor. Er war zu diesem Zweck mit einem Studenten der Rechte bekannt geworden, der aus irgendeinem verschwiegenen Grunde die Universität hatte verlassen müssen. Der Student lebte vorläufig hier als Schreiber bei einem Advokaten und erklärte, eine günstigere Zeit abwarten zu wollen. Er nannte sich einen »freien Revolutionär« und hielt noch bei den Idealen der Französischen Revolution. Er bedauerte die mißlungene von Achtundvierzig. Er sprach von den großen Tagen in Paris, von der Guillotine, von Metternich, vom Minister Latour wie von nahen und lebendigen Ereignissen. Er wollte einmal Politiker, oppositioneller Abgeordneter werden. Und er besaß auch schon die robuste, heitere, solide Angriffslust eines Parlamentariers, der einen zarten Minister des alten Regimes wohl aus der Fassung bringen konnte. Indessen beschränkte er seine politische Tätigkeit auf die Teilnahme an den Versammlungen, die zweimal in der Woche beim Schuster Chajkin stattfanden.
Chajkin gehörte zu jenen russischen Emigranten, denen die Armut verwehrt hatte, diese Grenzstadt zu verlassen. Obwohl er knapp für einen Tee, ein Stück Brot, einen Rettich verdiente, unterstützte er die Revolutionäre, die über die Grenze kamen. Den Ausbruch der Weltrevolution erwartete er jeden Monat. Er bildete sich ein, ihr wichtige Dienste zu leisten, und er wurde mit der Zeit das Haupt einer ohnmächtigen Verschwörung. Um ihn versammelten sich die Rebellierenden und Unzufriedenen. Denn es gab ihrer auch einige in dieser Stadt an der Peripherie der kapitalistischen Welt, in der die Gesetzbücher zwar nur noch eine abgeschwächte und profanierte Wirkung hatten, aber die ungeschriebenen Gesetze der Wirtschaft und der bürgerlichen Sitte ihre ganze Geltung bewahrten. Unter dem merkwürdigen und europafernen Lokalkolorit, in dem bizarren Tumult von Abenteuern, Sprachenwirrnis, halber Ländlichkeit schimmerte noch der faule Glanz einer patriarchalischen Unternehmergüte, wurden die Löhne der kleinen Handwerker und der wenigen Arbeiter gedrückt, die Armen in ihrer Untertänigkeit erhalten, die enthüllt in den Gassen lag neben den Gebresten der Bettler. Auch hier zeigten die Eingesessenen einen Haß gegen die Zugewanderten, jeden neu angekommenen Armen – und jede Woche kamen einige – empfing man ebenso feindselig, wie man selbst einmal empfangen worden war. Und sogar die Bettler, die von Almosen lebten, hatten Angst vor Konkurrenten wie die Ladenbesitzer. Von den Offizieren der Garnison ging ein metallener Glanz aus, dem die Töchter der kleinen Bürger erlagen. In Zeiten einer Abgeordnetenwahl rückten Soldaten und Gendarmen in die Stadt und verbreiteten Schrecken, und die Bürger waren genauso devot wie ihre Brüder in größeren europäischen Städten.
Die Empörer versammelten sich bei Chajkin. Der Theorie zuliebe nannte er die paar Gemeindewächter »Handlanger des Kapitalismus«, einen Kaufmann, der seinen Lehrling nicht bezahlte, »Ausbeuter und Unternehmer«, die Gemeinderäte »Nutznießer der Gesellschaft«, die Lehrlinge »Lastträger« und 120 Borstenarbeiter die »proletarische Masse«. Er veranstaltete Diskussionen. Er erläuterte das kleine und das große Programm. Er bereitete Demonstrationen bei verschiedenen Anlässen vor. Nichts hätte ihn seliger machen können als eine Verhaftung. Aber niemand hielt ihn für gefährlich.
An Chajkins Versammlungen nahm Friedrich regelmäßig teil. Er kam aus Neugier. Er blieb aus Ehrgeiz. Er lernte in der Diskussion, um jeden Preis recht zu behalten. Er entwickelte seine starke Begabung für falsche Formulierungen. Er liebte die Stille, die sofort eintrat, wenn er sich zu Wort meldete, und in der er seine Stimme schon zu vernehmen glaubte, noch ehe sie erklang. Er bereitete sich tagelang auf alle wahrscheinlichen Einwände vor. Er lernte, eine Schlagfertigkeit vorzutäuschen, die er in Wirklichkeit nicht besaß. Er sagte fremde Sätze aus Broschüren als seine eigenen auf. Er genoß Triumphe. Dennoch liebte er noch aufrichtig die Armen, die ihm zuhörten, und den roten Brand der Welt, den er entzünden wollte.
Der Welt! Welch ein Wort! Er hörte sie mit jungen Ohren. Sie strömte eine große Schönheit aus, und sie barg eine große Ungerechtigkeit. Zweimal in der Woche hielt er es für nötig, sie zu vernichten, und in den anderen Tagen bereitete er sich vor, sie zu erobern.
Zu diesem Zweck lernte er so eifrig, daß ihm eines Tages sein Freund, der Student, sagen konnte:
»Ich glaube, Sie können in zwei Monaten steigen. Trachten Sie, noch im Herbst zurechtzukommen.«
Friedrich zählte sein erspartes Geld. Es reichte für ein halbes Jahr. Er ging zu Kapturak um Dokumente. Eine Genugtuung lag darin, vor den Behörden der kapitalistischen Welt mit illegalen Papieren aufzutreten. Er hatte keinen Vater und keine Heimat. Seine Geburt war nirgends zur Kenntnis genommen worden. Er nahm es als ein Zeichen und ging zu Kapturak.
»Auf welchen Namen?«
»Friedrich Zimmer.«
»Warum Zimmer?«
»So hat mein Vater geheißen.«
»Russe oder Österreicher?«
»Österreicher.«
»Ganz recht«, meinte Kapturak, »ein junger Mann darf nicht in unserem Dorf bleiben. Geh in die Welt und studiere Jus. Das ist praktisch. Du wirst noch einmal Bezirkshauptmann.«
Es war ein Tag im Juli, als Friedrich Abschied nahm. Die Sonne drückte auf die niedrigen Dächer der Hütten, zwischen denen der Weg zur Bahn führte, und trieb den Rauch aus