Ängste von Kindern und Jugendlichen – Das Elternbuch. Wilhelm Rotthaus

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Ängste von Kindern und Jugendlichen – Das Elternbuch - Wilhelm Rotthaus


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Die Symptome erreichen typischerweise innerhalb von 10 Minuten ihren Höhepunkt und gehen dann im Laufe der nächsten 20 Minuten langsam zurück. Ein weiteres Kriterium ist die Angst, eine erneute Panikattacke zu bekommen, die den Jugendlichen nicht selten in einen Teufelskreis aus Angst und Angst vor der Angst treibt.

      Über 90 % der ersten Panikanfälle treten an einem öffentlichen Ort auf, beispielsweise in Kaufhäusern, Kinos, öffentlichen Verkehrsmitteln oder bei Autofahrten. Die Jugendlichen vermeiden im weiteren Verlauf oft die Orte, an denen sie zuvor eine Panikattacke gehabt haben oder an denen nach ihren Befürchtungen eine Panikattacke auftreten könnte. Sie vermeiden auch Situationen, in denen möglicherweise keine Hilfe verfügbar wäre. Sie schränken ihre Aktivitäten ein. In schweren Fällen zeigen sie eine immer stärker werdende Tendenz, Alltagssituationen auszuweichen, bis sie sich schließlich weigern, das Haus überhaupt noch zu verlassen. Die meisten der Betroffenen fühlen sich nach einer Panikattacke müde, abgeschlagen und depressiv.

      Eine Panikstörung tritt zumeist erst im Jugendalter auf. Häufig haben die Jugendlichen bereits im Kindesalter eine Angststörung mit Trennungsangst gezeigt. Die Panikstörung beeinträchtigt das Leben in erheblichem Maße. Kurz vor ihrem Beginn ist bei vielen Jugendlichen (rund 80 %) ein schwerwiegendes Lebensereignis wie eine plötzliche, schwere Erkrankung oder der Tod von nahen Angehörigen oder Freunden beziehungsweise eine Erkrankung des Jugendlichen selbst vorausgegangen.

      Agoraphobie

      LEA, 16 JAHRE, besucht die neunte Klasse eines Gymnasiums. Sie klagt über große Ängste vor dem Fahren mit einer Straßenbahn oder mit einem Bus. Sie habe einmal in einem überfüllten Bus Angstzustände erlebt und gefürchtet, keine Luft mehr zu bekommen und den Bus nicht schnell genug verlassen zu können. Seitdem verweigert sie die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel. Beim Einkaufen vermeidet sie Geschäfte, in denen sich viele Menschen aufhalten. Sie äußert die Befürchtung, beim Auftreten von Ängsten nicht schnell genug das Geschäft verlassen zu können. Lea ist schon immer ein Kind mit vielen Ängsten gewesen. Zu Beginn des Grundschulbesuchs hatte sie heftige Trennungsängste gezeigt, derentwegen die Familie eine Beratungsstelle aufgesucht hatte. Die Mutter leidet selbst an gelegentlich auftretenden Panikattacken und hat kaum Kontakte nach außen. Auch Lea besucht nur noch selten ihre Freundinnen von früher. Die Situation in der Familie ist sehr schwierig geworden. Gemeinsame Familienunternehmungen sind praktisch nicht mehr möglich. Der Vater versucht neben seinem Beruf, seiner Frau und Lea so gut es geht zu helfen. Er fährt seine Tochter jeden Tag zur Schule und holt sie dort auch wieder ab. Er erledigt nahezu alle Einkäufe und übernimmt alle zu erledigenden Termine, zeigt sich aber sehr belastet, erschöpft und ein Stück resigniert.

      Die Agoraphobie ist eine Angststörung, die im Kindes- und Jugendalter selten auftritt und erst im jungen Erwachsenenalter den ersten Auftretensgipfel erreicht. Sie ist gekennzeichnet durch die Tendenz, bestimmte Situationen zu vermeiden, in denen Flucht oder Vermeidung nicht möglich oder Hilfe im Fall des Auftretens von Paniksymptomen nicht verfügbar ist. Charakteristisch ist die Angst vor dem Fahren in öffentlichen Verkehrsmitteln, vor dem Besuch von Räumen, in denen viele Menschen sind (Kaufhäuser, Kinos und Restaurants), sowie vor dem Fahren mit Autos oder dem Benutzen von Fahrstühlen. Die Jugendlichen fürchten beispielsweise, der Aufzug könne stecken bleiben oder im Kaufhaus würde ein Feuer ausbrechen und sie seien dann nicht mehr in der Lage, aus der Situation zu entkommen. Nahezu alle Situationen werden nun als bedrohlich erlebt, die eine Entfernung von einem »sicheren Ort« (meistens das Zuhause) oder eine Einschränkung der Bewegungsfreiheit bedeuten – Situationen, in denen die Jugendlichen das Gefühl haben, »in der Falle zu sitzen«.

      Prüfungsangst

      BEN, DER DIE KLASSE 5 besucht, klagt seit einem Jahr vor jeder Klassenarbeit morgens über Bauch- und Kopfschmerzen und bittet dann halb trotzig, halb jammernd die Eltern, ihm eine Entschuldigung zu schreiben, damit er zu Hause bleiben könne. Die Nacht, so berichtet er, habe er kein Auge zugetan und immer an die Klassenarbeit denken müssen. Die letzten Arbeiten seien sehr schlecht ausgefallen, auch dann, wenn die Eltern sich zuvor überzeugt hätten, dass er den Schulstoff beherrsche. Ben schildert, dass er bei Klassenarbeiten in letzter Zeit oft vor dem Heft sitze und »ein Brett vor dem Kopf« habe, dass er »an gar nichts denke« oder dass ihm ständig dieselben Gedanken durch den Kopf gingen, wie: »Du schaffst das sowieso nicht!«, »Jetzt habe ich alles vergessen!«, »Die Aufgaben sind viel zu schwer!«, »Wäre ich doch nur zu Hause geblieben!«. In der letzten Zeit hat Ben nach Angaben der Eltern immer häufiger geklagt, er wolle gar nicht mehr zur Schule gehen, er sei ein Versager.

      Von Prüfungsangst wird gesprochen, wenn Kinder oder Jugendliche auf Prüfungssituationen mit einem Übermaß von Sorge, körperlichen Reaktionen und als unkontrollierbar erlebten, sich selbst abwertenden Gedanken reagieren. Anders als bei anderen Ängsten wird die angstauslösende Situation aber eher selten vermieden, auch wenn ein Versagen bei schulischen Tests und Klassenarbeiten befürchtet wird.

      Prüfungsangst ist ein verbreitetes Problem, das von der Hälfte aller Kinder und Jugendlichen in einer Phase ihres Lebens berichtet wird. Kinder mit Prüfungsangst weisen schlechtere schulische Leistungen auf als ihre Altersgenossen ohne Prüfungsangst. Darüber hinaus betrachten sie sich selbst als weniger sozial kompetent, haben eine geringere Selbstachtung und machen sich mehr Sorgen als andere Kinder.

      Albträume

      LEONIE, FÜNF JAHRE, wird morgens oft gegen 4:00 Uhr in der Frühe wach, schreit, ist nass geschwitzt und weiß nicht, wo sie ist, bis ihre Mutter oder ihr Vater das Licht anmachen. Sie drängt ins Bett der Eltern. Dort auf ihren Traum angesprochen, erinnert sie sich: Sie musste um ihr Leben rennen, wurde verfolgt von einer Gestalt, die sie in ein dunkles Tuch wickeln und wegtragen wollte. Leonie stolperte, fiel zu Boden, fühlte schon die Hand des unheimlichen Mannes – und wachte auf.

      Fast die Hälfte der Kinder zwischen sechs und elf Jahren haben gelegentlich Albträume, 5 % sogar einmal pro Woche. Bis zur Pubertät leiden Jungen und Mädchen gleich häufig an Albträumen. Danach verschiebt sich das Verhältnis deutlich, und die Mädchen werden dreimal häufiger von angstmachenden nächtlichen Träumen heimgesucht. Aber solange das seltener als einmal die Woche geschieht und die Kinder keine Angst vor dem Einschlafen haben, besteht noch kein Grund zur Sorge. Albträume tauchen meist in der zweiten Nachthälfte auf.

      Wenn die Kinder aus dem Traumschlaf aufschrecken, erinnern sie sich fast immer lebhaft an die gerade durchlebten Emotionen und Bilder. Solche Angstträume handeln oft davon, dass sie von einer mächtigen Person verfolgt werden. In rund der Hälfte aller Albträume flüchten die Schlafenden und drohen, ins Bodenlose zu stürzen. Die bedrohlichen Figuren sind in der Regel menschlicher Natur; Tiere oder Fantasiewesen wie Monster und Hexen tauchen seltener auf. Der häufigste Auslöser von Albträumen ist offenbar Stress etwa in der Familie, in der Schule oder im Freundeskreis. Tatsächlich kommen in Träumen oft Erlebnisse des vergangenen Tages vor.

      Häufig mit Albträumen verwechselt wird der Pavor nocturnus, auch »nächtliches Aufschrecken« genannt. Er tritt üblicherweise im Tiefschlaf etwa eine Stunde nach dem Einschlafen auf – oft begleitet von einem Schrei. Die Eltern finden das Kind nicht selten im Bett aufrecht sitzend vor mit erhitztem Gesicht und in Schweiß gebadet. Es kann nicht über Angsterlebnisse berichten, äußert sich höchstens bruchstückhaft und unvollständig. Die Beruhigungsversuche der Eltern scheint es zunächst gar nicht wahrzunehmen. Wenn es dann aufwacht, blickt es erstaunt umher, ist verwirrt und kann sich an keine bösen Träume erinnern. Meist beruhigt es sich schnell und kann dann weiterschlafen.

      2ANGSTSTÖRUNGEN VERSTEHEN

      Die Kooperation des Angstzentrums mit der vorderen Hirnregion

      Im Gehirn arbeiten bestimmte Regionen eng zusammen, die für die Sicherheit und das Überleben des Menschen sorgen. Dabei handelt es sich zum einen um das Angstzentrum (die Amygdala), das mit einem nahe gelegenen Bereich des


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