Ängste von Kindern und Jugendlichen – Das Elternbuch. Wilhelm Rotthaus

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Ängste von Kindern und Jugendlichen – Das Elternbuch - Wilhelm Rotthaus


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Angstzentrums mit diesem Bereich blitzschnell abgleichen, ob es sich dabei um einen mehr oder weniger vertrauten Reiz handelt oder um etwas völlig Unbekanntes oder auch Gefährliches. Ist Letzteres der Fall, wird im Bruchteil eines Bruchteils einer Sekunde eine Notfallreaktion ausgelöst, um den Menschen in kürzester Zeit optimal für einen Kampf oder eine Flucht vorzubereiten.

      In den meisten Fällen allerdings wird die Erregung zur vorderen Hirnregion (dem präfrontalen Kortex) weitergeleitet, die die Aufgabe hat, in etwas ruhigerer Beurteilung, aber auch noch im Bruchteil einer Sekunde die Situation als bekannt oder unbekannt, gefährlich oder ungefährlich einzuschätzen. Kommt diese Hirnregion zu der Überzeugung, dass die Situation ungefährlich ist, werden hemmende Signale zum Angstzentrum gesendet, damit wieder Beruhigung eintritt. Erscheint die Sache zwar nicht lebensbedrohend, aber doch möglicherweise gefährlich, wird ein gewisses Maß an Angst aufrechterhalten, um den Menschen zu einem vorsichtigen Verhalten zu veranlassen.

      Bemerkenswert ist, dass der präfrontale Kortex die Hirnregion ist, die am spätesten ausreift – häufig erst im jungen Erwachsenenalter. Dieser neurologische Befund erklärt die bekanntermaßen oft heftigen Gefühlsschwankungen im Jugendalter, die eine noch geringe Kontrolle durch den präfrontalen Kortex erfahren.

      Angst – unser Freund und Helfer

      Wenn man selbst oder sein Kind unter einem Zuviel von Angst leidet, dann kann man sich schwer vorstellen, dass Angst unser bester Freund und Helfer sein soll. Aber tatsächlich ist Angst das wichtigste Gefühl, das Menschen – wie alle Lebewesen – haben. Es veranlasst sie, gefährliche Dinge nur mit großer Aufmerksamkeit auszuführen, und bewahrt sie davor, ein Verhalten zu zeigen, das lebensgefährlich ist. Hätten unsere Kinder keine Angst, würden sie ohne Vorsichtsmaßnahmen auf hohe Mauern oder Bäume steigen oder auf die Straße laufen, ohne rechts und links zu schauen. Manchmal wird die Angst allerdings zu groß. Sie verhindert dann normale, ganz und gar nicht gefährliche Verhaltensweisen und löst viel Leid sowohl bei dem Kind als auch in der Folge bei den Eltern aus.

      Schon vor zigtausend Generationen hat die Angst den Menschen im Kampf ums Überleben unterstützt und geschützt. Das geschieht, wenn unser Gehirn – wie oben dargestellt – in einem Bruchteil eines Bruchteils einer Sekunde zu der Überzeugung kommt, die Situation, in der sich ein Mensch befindet, könnte lebensgefährlich sein oder werden. Es wird dann eine Kaskade körperlicher Reaktionen ausgelöst, um den Körper in optimaler Weise auf Kampf oder Flucht vorzubereiten. Dieses Programm ist in allen Menschen – wahrscheinlich in ähnlicher Weise in allen Lebewesen – seit »ewigen Zeiten« fest verankert, und die meisten Menschen haben diese körperlichen Symptome in Augenblicken heftiger Angst bereits erlebt: Das Herz fängt an zu rasen und »schlägt bis zum Hals«, die Atmung wird schneller, was auch als Atemnot empfunden werden kann, die Muskeln werden angespannt, die »Knie schlottern«, wenn das Zittern der Muskeln Wärme produziert, und die Körpertemperatur steigt, sodass der Mensch anfängt zu schwitzen. Diese Reaktionen dienen dazu, den Körper in Gefahrensituationen auf Kampf oder Flucht vorzubereiten.

      Angst als Signal für einen anstehenden Entwicklungsschritt

      Angst schützt aber nicht nur, sondern sorgt auch für Entwicklung. Sie tritt auf, wenn sich beispielsweise einem Kind neue Aufgaben stellen, die seine Fähigkeiten herausfordern oder aber die Weiterentwicklung vorhandener Fähigkeiten verlangen. Das Kind erlebt dann Stress und Anspannung, was sich in dem Augenblick nicht angenehm anfühlt. Aber wenn die Herausforderung bewältigt wird, sind die Zufriedenheit und der Stolz umso größer. Allerdings kann es auch hier geschehen, dass die Angst und der damit einhergehende Stress ein so großes Ausmaß erreichen, dass die Fähigkeiten zum aktiven Handeln weitgehend blockiert und die Aufgaben nicht bewältigt werden.

      Die neurobiologische Wissenschaft lehrt uns, dass Angst im Laufe unserer Stammesgeschichte der Motor war, wenn die Menschen gezwungen wurden, neue Entwicklungsschritte zu gehen. Kam es zu mehr oder weniger dramatischen Änderungen in der Umwelt des Menschen, verwies die Angst darauf, dass die bisherigen Bewältigungskompetenzen nicht mehr ausreichten und neue Fähigkeiten und Fertigkeiten entwickelt werden mussten. Wenn dies gelang, kam es zu einem Zuwachs an Kompetenzen. Zuweilen allerdings waren die Anpassungsanforderungen so groß, dass alte Verschaltungsmuster im Gehirn zunächst abgebaut werden mussten, um neue aufbauen zu können. Solche Umbauprozesse werden durch große Angst und den damit einhergehenden Stress begünstigt. Diese sehr belastenden Stressreaktionen sind zuweilen erforderlich, damit Menschen sich ändern und neuen Anforderungen anpassen können.

      Als Botschaft seines Buches Biologie der Angst formuliert der Neurobiologe Gerald Hüther1:

       »Die Angst ist ein Signal, das im Gehirn entsteht und sich im ganzen Körper ausbreitet, wenn etwas nicht stimmt. Und wir brauchen diesen Schutzmechanismus, damit wir rechtzeitig die Kurve kriegen und unser Leben verändern. Hätten wir keine Angst, dann könnten wir auch nicht lernen, was wir anders als bisher machen müssen. Die Angst ist also nicht unser Feind, sondern unser Freund – manchmal ziemlich bedrohlich, aber bisweilen braucht es eben einen etwas kräftigeren Impuls, damit wir aufwachen und die gewohnten, aber unbrauchbar gewordenen Bahnen verlassen.«

      Länger anhaltende Angst kann deshalb als ein Signal verstanden werden, wenn ein Mensch vor anstehenden Entwicklungsschritten ausweicht oder notwendige Entscheidungen bezüglich seines weiteren Lebens nicht trifft. Bei Kindern und Jugendlichen werden diese anstehenden Entwicklungsschritte häufig auch als Entwicklungsaufgaben bezeichnet, die sich ihnen zu den unterschiedlichen Zeiten ihres Lebens stellen, sei es beispielsweise bei der Trennung von der wichtigsten Bezugsperson beim ersten Kindergartenbesuch, bei der Weiterentwicklung sozialer Kompetenzen als Schulkind und schließlich bei der Ablösung aus der Familie im Jugendalter.

      Allerdings werden diese im Laufe seines Lebens notwendigen Entwicklungsschritte nicht nur vom Kind allein vollzogen. Wenn ein kleines Kind beispielsweise den Schritt zu einem Kindergartenkind geht, muss gleichzeitig die Mutter von der ganz engen Verbundenheit mit dem Kleinkind Abschied nehmen, eine neue, etwas distanziertere Bezogenheit zu dem Kind entwickeln und die nun frei werdenden Stunden für eigene, persönliche Anliegen nutzen. Häufig noch schwieriger für die Eltern ist es, wenn etwa ihre jüngste Tochter im Alter von beispielsweise 17 Jahren zunehmend unabhängig wird und sich vom Elternhaus löst. Die Eltern müssen sich dann damit auseinandersetzen, zukünftig in einer Familie ohne Kinder zu leben: Sie müssen als Paar eine irgendwie neue Art der Beziehung zueinander entwickeln und anstelle der Erziehung und Betreuung des Kindes bzw. der Kinder einen neuen Lebensinhalt finden, um in den nächsten vielleicht 40 Jahren ein erfülltes Leben führen zu können. Der Wissenschaftler Klaus Schneewind spricht deswegen auch statt über Entwicklungsaufgaben von Kindern und Jugendlichen über Familienentwicklungsaufgaben. Im Anhang (S. 101) dieses Buches finden sie deshalb zwei Tabellen, in denen neben den in der Wissenschaft häufig beschriebenen Entwicklungsaufgaben eines Kindes und denen eines Jugendlichen jeweils die parallelen Entwicklungsaufgaben von Müttern und Vätern aufgeführt sind.

      Keine Angst haben wollen

      Wenn Kinder oder Jugendliche unter ihrer Angst leiden, die sie an vielen Dingen hindert, die sie gerne tun möchten, äußern sie den ganz verständlichen Wunsch: »Ich will keine Angst mehr haben.« Sie versuchen, ihre Angst zu »bekämpfen« und völlig zum Verschwinden zu bringen. Aber es geht ihnen dann wie allen Menschen: Wenn man versucht, Gefühle und Gedanken nicht zu haben und in den Griff zu bekommen, wird ihnen noch mehr Energie zugeführt. Man denkt ständig an die Angst, die verschwinden soll. Und dadurch wird sie stärker und stärker.

      So ergeht es einem Jugendlichen, der vor seiner Klasse einen Vortrag halten soll und seine Angst und Unsicherheit nicht zeigen will. Je mehr er die zu verbergen sucht, umso größer werden sie. Würde er den kleinen Trick anwenden, sich vor dem Vortrag bei seiner Angst dafür zu bedanken, dass er sich ihretwegen gut vorbereitet hat, würde sie sicherlich kleiner werden. Er könnte zudem seinen Vortrag damit beginnen, darauf hinzuweisen,


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