Mutter aller Schweine. Malu Halasa

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Mutter aller Schweine - Malu Halasa


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Christentum wie ein großer und ein kleiner Baum zusammengewachsen waren. Die Blätter waren unterschiedlich, aber der Schatten war derselbe. Er hat sich auch selbst das Lesen und Schreiben beigebracht.« Sie sah ihn nun vor sich, wie er im alten Haus stundenlang in der vorderen Fensternische saß und bei Tageslicht seine Bücher las. »Er liebte die Geschichte Arabiens. Unsere Töchter wurden nach großen islamischen Frauen benannt, manche von ihnen Kriegerinnen. Möchtest du sein Lieblingsgedicht hören? Das war ihre Gutenachtgeschichte.«

      Mutter Fadhma setzt sich auf und rezitiert ein wenig nervös:

      »Wir sind die Töchter des Morgensterns,

      Wir gehen auf weichen Kissen,

      Perlen zieren unsre Hälse.

      Moschus duftet in unsrem Haar.

      Kämpft ihr, umarmen wir euch,

       Weicht ihr zurück, verlassen wir euch

      und nehmen Abschied von der Liebe.

      Das Lied haben Hind und die anderen Rebellinnen aus Mekka auf dem Schlachtfeld gesungen«, sagt sie. »Sie haben ihre Trommeln geschlagen und ihre Männer angefeuert, Muslime zu töten, die aus Medina gekommen waren, um Mekkas einträglichen Handel mit Karawanen und Pilgern an sich zu reißen.«

      Zu guter Letzt fühlt sich Mutter Fadhma nun doch wohl. Seit Husseins Problemen ist ihr ein Lieblingshobby versagt geblieben, nämlich beim Morgenkaffee mit den älteren Damen der Stadt Geschichten auszutauschen. Weder Muna noch Samira zeigen etwas vom Esprit oder Temperament ihrer alten Freundinnen, aber als Publikum sind die beiden jungen Frauen zu gebrauchen. Fadhma würde ihnen noch vieles mehr erzählen, was sie über Hinds Mut und Grausamkeit auf dem Schlachtfeld weiß oder deren Streit mit dem Propheten Mohammed; die Bekehrung der Heiden, die zuerst die christlichen Heiligen bekämpft hatten, und der brutale Anbruch einer neuen Zeit, die nur noch dem Einen Gott gehörte. Es wäre eine Geschichtsstunde, auf die ihr Ehemann stolz gewesen wäre, auch wenn ihm oftmals nicht bewusst war, wie häufig er seine eigenen Geschichten wiederholte. Schon spürt Fadhma, wie in Samiras Zimmerecke die Langeweile aufsteigt, also bewahrt sie sich ihre Geschichten für ein anderes Mal auf und fragt: »Und was habt ihr heute vor?«

      Samira antwortet: »Vielleicht fahren wir nach Amman und sind dann rechtzeitig zur Hochzeit heute Abend wieder da. Oder wir könnten am Nachmittag ins Internetcafé gehen. Wir haben uns noch nicht entschieden.« Muna nickt eifrig.

      »Bewegt euch nicht zu weit fort«, warnt Fadhma. »Heute Nachmittag erwarten wir Gäste.«

      »Gäste?«, fragt Samira erstaunt.

      »Es kommen ein paar Leute vorbei, um Muna kennenzulernen«, sagt ihre Mutter stolz.

      »Na ja, vielleicht sollten wir trotzdem versuchen, eine SIM-Karte für mein Handy zu bekommen«, schlägt Muna vor, »auch wenn es wahrscheinlich nicht funktioniert. Ich habe gehört, dass die Stadt schlechten Empfang hat« – sie klingt fast, als wollte sie sich entschuldigen – »wegen des Dschabel Musa, aber der Berg ist gar nicht das Problem, sondern ich. Ich bin richtig internetsüchtig.«

      Samira blickt verständnisvoll drein, auch wenn Fadhma nicht weiß, warum sie das sein sollte. Die Jugend spricht eine andere Sprache, und Fadhma kann das Gefühl in ihren alten, müden Knochen nicht ignorieren, dass ihre Tochter ihr etwas verheimlicht. Wo ist sie in den letzten Monaten immer hin? Mit wem verbringt sie ihre Zeit? Mit einem Mann? Nur weil Muna zu Besuch ist, soll Samira bloß nicht denken, dass sie das ausnutzen kann. Fadhma weiß nur zu gut, dass jetzt nicht der richtige Moment ist. Eher würde sie sich den Mund mit Stroh zunähen, als eine Szene zu machen und so eine Spur von Spekulationen zu schaffen, die ihren Weg zurück bis nach Cleveland, Ohio, finden würde. Plötzlich kommt ihr das Zimmer heiß und klaustrophobisch vor. Wortlos legt Fadhma die Briefe zurück in den Karton.

       5

      Zwei Männer stehen neben einem Lastwagen und feilschen lautstark. »Jetzt entscheiden Sie sich mal«, poltert der größere und wesentlich ältere der beiden, ein Mann mit Halbglatze und Höckernase. Seine Schultern hängen herab wie Flügel, und er schlägt aufgeregt mit den Armen. Dünn, drahtig, streitlustig – eher Aasfresser denn Singvogel – hüpft er in kaum unterdrückter Erregung auf und ab. Der Blutdruck erhöht, die Klauen ausgefahren, macht er sich zum entscheidenden Hieb bereit. Er schwingt sich auf – und lässt sich wieder zu Boden trudeln, weil er genau merkt, dass er beobachtet wird. Der Hase muss nicht wissen, wann der Falke zuschlägt, denkt Abu Satar und scheucht seinen Fang hinein ins Schnäppchen-Emporium. Sein Nest muss fortwährend mit frischer Beute versorgt werden. Nicht umsonst trägt er den Spitznamen Ar-Risch Aschanah, der Fledderer.

      Nachdem das Geschäft abgewickelt, der Fahrer abgefertigt und die kostbare Ladung Kisten (im Grunde Plunder, Elektroteile und getragene T-Shirts der US-Armee) in einen Lagerraum geschafft ist, ärgert sich Abu Satar, dass er sich immer so aufregt. Andere Männer in seinem Alter entspannen bei Backgammon oder Kreuzworträtseln. Er unternimmt häufig Streifzüge durch die Schluchten seines Imperiums, wie jetzt gerade, nur mit Staubwedel und Mikrofasertuch bewaffnet, eine kurze Erholung von den stumpferen Freuden des Lebens. Diese Expeditionen erinnern ihn auch schlicht daran, dass seine kostbarsten Besitztümer, viele davon vor den Augen der Öffentlichkeit verborgen, einen Wert jenseits von Geld haben.

      Die Lagen über Lagen von Küchenutensilien, die importierten Lebensmittel (hauptsächlich aus Asien), Sport-, Freizeit- und Konfektionskleidung – für Herren, Damen, Kinder, Babys und Neugeborene –, absurd hohe Stöckelschuhe und fußbett-marternde Turnschuhe, Deko für sämtliche Feiertage, egal ob islamisch (schiitisch, sunnitisch, drusisch, alawitisch und ismailitisch), christlich (syrisch-christlich und syrisch-katholisch, griechisch-orthodox, armenisch, maronitisch und phalangistisch) oder heidnisch (jesidisch, zoroastrisch, druidisch) sowie alle großen Namen dazwischen (von Buddha bis Bhagwan); synkopische Türklingeln, chinesische Scherenschnitte, Hotel-Hosenbügelmaschinen, analoge Telefone, elektrische Schuhputzautomaten und Designer-Nagellacke: zusammen mit tausend anderen erstaunlichen Produkten und Gerätschaften weitaus mehr als ein Sammelsurium unzusammenhängender Artefakte. Würde ein Passant durchs Fenster blicken, man sähe es ihm nach, wenn er das Schnäppchen-Emporium für eine postmoderne Verirrung der Art brut hielte. Gegenüber Erstkunden betont Abu Satar gerne, dass nur er allein einen Artikel aus dem Berg von Waren ziehen könne, denn es bestehe akute Lawinengefahr.

      Früher betrachtete Abu Satar das Emporium als ein Denkmal seines Daseins auf der Erde; eines Tages, wenn die Zeit für ihn gekommen wäre, würde es aufgelöst, auf eine Deponie geschafft und vergessen werden. Doch dank Umm al-Chanasir, der Mutter aller Schweine, hat er die feineren Aspekte seines Geschäftes zu schätzen gelernt. Heute betrachtet er das Schnäppchen-Emporium als ein unvollendetes Projekt, bei dem es gar nicht unbedingt um ihn selbst geht, sondern das organisch gewachsen ist und einem universellen Zweck dient. Während er Regale abstaubt, debattiert der Fledderer aufgebracht mit seinen imaginären Kritikern. Falls ihn jemand fragen sollte, er würde darauf pochen, dass es ihm um Fortschritt im weiteren Sinne geht. Niemand sonst in der Stadt hat sich so sehr in den Dienst des Gemeinwohls gestellt, selbst wenn das bedeutet, ein abergläubisches Völkchen in die Gegenwart zu schubsen. Ob er nun richtig oder falsch, politisch korrekt oder zutiefst beleidigend handelt, er ist und bleibt ein APW – ein Agent des Progressiven Wandels –, Buchstaben, die auf dem Neonschild an der Emporiumsfassade hinter seinem Namen stehen sollten wie ein Abschluss der Universität des Lebens.

      Das heißt, wenn er sich nicht gerade von Nostalgie verführen, überfallen oder gleich ganz niederstrecken lässt. Nicht zufällig landet er bei seiner Inventurrunde durch die verschlungenen Gänge an einem sehr privaten Ort. Er nimmt den winzigen Schlüssel, den er immer und ausnahmslos in der Hosentasche trägt, und öffnet eine gesicherte Glasvitrine voller Schmuck, sein mit gutem Grund so genanntes »Diebesnest«. Seit dem Krieg in Syrien rennen ihm schöne Flüchtlingsfrauen die Türen ein, weil sie unbedingt ihr Gold verkaufen wollen. Doch der Ankauf dieser Stücke beschert Abu Satar nicht mehr die Gefühlsschauer von einst. Seine aktuelle Geschäftsunternehmung mit seinem Neffen zehrt so ziemlich all sein Wollen und Begehren auf.


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