Mutter aller Schweine. Malu Halasa

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Mutter aller Schweine - Malu Halasa


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gewissermaßen ein Flüchtling, war dem Elend entkommen und hatte illegal Grenzen überquert: von den Sabbalin, den Müllsammlern Groß-Kairos, durch den Sinai und die Tunnel des Gazastreifens, unter der Nase der Hamas hindurch und dann über die Mauer – Hani sagte, man habe einen Hebezug aus einem Altersheim benutzt –, vorbei an illegalen jüdischen Siedlungen im Westjordanland und schließlich nicht über die Allenby-Brücke, sondern unter ihr hindurch, auf einem Floß über den Jordan.

      Sobald Abu Satar an seinen persönlichen Beitrag zur internationalen Küche denkt, wird sein Staubwedeln ehrfurchtsvoll. Er trifft nur selten Menschen, zu denen er wirklich Zuneigung und Vertrauen fasst. Seine Freundschaft mit Hani hatte einfach spontan gezündet, während bei Hussein Jahre, sogar Jahrzehnte nötig waren, um das Feuer der gemeinsamen Geschäftemacherei zu entfachen.

      An dem Morgen, als sein Neffe in die Stadt zurückgekehrt war, wischte der Fledderer gerade Staub. Mit dem Klemmbrett in der Hand inventarisierte Abu Satar nebenher ein wenig, und so achtete er kaum auf den Mann in Uniform, der bei den gefälschten Designeruhren herumlungerte. Wegen der immer misslicheren Lage an der Grenze unten im Tal war die Stadt zum regelmäßigen Zwischenhalt für Soldaten auf dem Weg zu den unterschiedlichen Stützpunkten geworden. Im Großen und Ganzen hatten die Soldaten alle kein Geld und waren somit nicht weiter von Interesse. Als der schnurrbärtige junge Mann höflich grüßte, antwortete Abu Satar also nur kurz und achtlos. Er war sich sicher, jegliches Gespräch würde nur zu den unvermeidlichen Fragen nach dem Aufenthaltsort des einzigen verfügbaren Mädchens der Stadt führen.

      Der Soldat vertrieb sich weiter die Zeit bei den Uhren. Als Abu Satar schließlich doch aufsah, blickte er verblüfft in das breit lächelnde Gesicht seines Lieblingsneffen. Er küsste ihn auf beide Wangen, packte ihn an den Schultern und hielt ihn eine Armlänge von sich, um zu begutachten, wie der Bursche sich seit ihrer letzten Begegnung verändert hatte. Der schmächtige, dröge Junge, der zum Militärdienst geflohen war, war – in den Augen seines Onkels – als Mann zurückgekehrt.

      »Und, wie war’s?« Ein so gutaussehender Kerl hatte doch sicherlich viele Abenteuer erlebt. Weil er an die kleine Stadt gebunden war, versetzte sich der Ladeninhaber gerne in die Geschichten unberechenbarer reisender Händler und Fernfahrer hinein. Aufgeregt stellte er Frage um Frage, doch Husseins ausweichende Antworten ließen vermuten, dass seine Erfahrungen nicht gänzlich befriedigend gewesen waren. Am Ende saßen Jung und Alt schweigend bei Arak und Argileh.

      »Amo«, setzte Hussein schüchtern an, wie früher, denn er hatte Abu Satars Gesellschaft schon immer faszinierend gefunden, »hast du die Zeitschrift aufbewahrt?«

      Er meinte die alte Ausgabe von Good Housekeeping, die sein Bruder Abd einst aus Amerika geschickt hatte. Früher hatten Hussein und Abu Satar sich stundenlang darin vertieft, an ihrem Englisch gearbeitet und sich über den Zweck so vieler bunter und ungewöhnlicher Haushaltsgegenstände gewundert.

      Sogleich zog Abu Satar das Heft aus seinem angestammten Versteck in der Schublade unter der Kasse hervor. Am Tag von Husseins Abreise hatte er es dort hineingelegt, als Symbol ihrer gemeinsamen Interessen. Hussein nahm die Zeitschrift und blätterte zu einer Doppelseite vor, die einen Supermarkt zeigte. Er war gerade aus Fort Knox von einem Ausbildungsprogramm der US-Armee für Auslandsoffiziere zurückgekehrt und konnte sämtliche abgebildete Lebensmittel, von Erdnussbutter bis Wiener Würstchen, benennen und einordnen, da er sie selbst erst in einem riesigen Supermarkt gekauft hatte, gewaltig wie der Dschabel Musa, der Berg, den die christlichen Touristenhorden den Nebo nannten.

      Der alte Mann wurde feierlich ernst. »Chappi …? Was ist das denn?«

      Hussein zögerte. Die Wahrheit würde ihn töricht aussehen lassen, doch wem konnte er sich anvertrauen, wenn nicht seinem Lieblingsonkel? Die Geschichte war zwar peinlich, aber wenn er Offizier werden wollte, musste er lernen, die eigene Dummheit ohne Weiteres einzugestehen. Er hatte sich von den schlichten Etiketten der Eigenmarke des Supermarktes irreführen lassen, mehrere Dosen gekauft und ein paar leckere Eintopfgerichte gegessen, bis er sein Versehen bemerkte.

      Für Abu Satar ist es Ehrensache, sich nie über aufrichtige Versehen lustig zu machen. »Dein Vater hat mir mal eine Geschichte über einen Beduinenstamm erzählt.« Gedankenverloren zupfte er an seinem zurückgehenden Haaransatz. »Zu bestimmten Zeiten des Jahres, wenn der Morgenstern aufging, schlachteten die Beduinen ein Kamel und aßen das rohe, noch schlagende Herz vor Sonnenaufgang. So sorgten die Stammesangehörigen dafür, dass der Geist des Tieres auf sie überging. Sie wollten die Ausdauer und Lebenskraft des Kamels in ihr eigenes Leben aufnehmen.«

      Prüfend blickte er zu seinem Neffen hinüber.

      »Also, was hast du mitgenommen?«

      »Wissen, das mich deprimiert hat, wann immer ich eine amerikanische Straße entlangging.«

      Hussein hatte auch seine Brüder mit ihren Familien in Ohio besucht und war erstaunt gewesen.

      »Meine Nichten kümmern sich um ihre Haustiere wie wir uns um Menschen. Sie reden lieb mit ihnen, umarmen und kämmen sie –« Seine Stimme versagte kurz vor Verwunderung. »Ich sag dir, bei denen leben die Hunde besser als wir.«

      Abu Satar stieß den dichten, süßen Rauch aus und murmelte: »Manchmal ist es besser, die Welt nicht zu kennen.«

      An jenem Tag hatte Abu Satar sich geschworen, diesem sensiblen jungen Verwandten, der so vielversprechend und voller Elan war, zu helfen. Nachdem Hussein die Armee verlassen hatte, war es Abu Satar, der ihn durch die Feinheiten des Verkaufs der väterlichen Ländereien führte. Selbst als Hussein darauf bestand, ein letztes Stück vom Erbe Al Dschids zu behalten, gab sein Onkel seinen Wünschen nach, auch wenn er einen sauberen Schlussstrich bevorzugt hätte – seine Provision wäre höher gewesen. Die Landwirtschaft hätte Hussein ohnehin nie eine Zukunft geboten. Als er schließlich in der Schlachterei gegenüber landete, zerbrach sich Abu Satar den Kopf, mit welchen schlauen Plänen er ihn von dort befreien könnte. Er wusste, der junge Mann war für Besseres bestimmt – auch wenn Hussein selbst eine Weile brauchte, bis er die ungewöhnliche Art von Abu Satars Hilfe ganz annehmen konnte.

      Als Hussein sich in seinem neuen Job eingelebt hatte, schickte Abu Satar, wann immer etwas Interessantes im Schnäppchen-Emporium ankam, seinen jüngsten Sohn Sammy bei ihm vorbei. Er hatte den pfiffigen, schlaksigen Vierzehnjährigen angewiesen, nie zur Schlachterei hinüber zu rennen, sondern immer nur lässig zu schlendern. Auf unnötige Aufmerksamkeit konnten sie verzichten. Doch wie ungeheuerlich Abu Satars jüngster Fang sein musste, ließ sich an den eindringlichen Rufen des Jungen erkennen, die die gesamte Hauptstraße hinunterhallten: »Ibn ammee«, »mein Onkel!«

      Bald nachdem Abu Satar Hanis einem Naturwunder gleiches Geschenk erhalten hatte, scheuchte er Hussein in das Gewirr von Räumen hinter dem Schnäppchen-Emporium, wo Fußboden und Tische voller Kisten mit Johnnie Walker Red standen, dem jüngsten Schmuggelgut der florierenden Schattenwirtschaft.

      Zum Auftakt wies Abu Satar Sammy an, ihm und Hussein Drinks zu mixen und für weitere Anweisungen bereitzustehen. Dann verschwand er hinter einer Tür. Er wirkte wie ein Magier, der gleich das Spektakulärste von allem hervorzaubern wird. Weder das Quäken, das durch die Tür drang und nach Baby klang, noch das unbewegte Gesicht seines Sohnes gaben irgendetwas preis. Der kleine Sammy war gut erzogen, dachte Abu Satar mit Wohlgefallen. Er konnte versiert Frozen Margaritas mixen und unanständige Witze erzählen. Vor allem aber hatte er gelernt, Geheimnisse zu wahren. Und so war sich Abu Satar sicher, dass der Junge, falls nötig, auch noch stundenlang stramm neben Hussein stehen bleiben würde.

      Ein paar laute Schläge und gedämpftes Gefluche von Abu Satar drangen durch die Tür, dann öffnete sie sich einen Spalt breit. Im dämmrigen Licht waren nur die Spitzen von Abu Satars gelben marokkanischen Lederpantoffeln zu sehen. Mit dem Rest seines Körpers steckte er im Stroh und versuchte, dort etwas zu fassen zu bekommen. Ein beißender Geruch platzte aus dem Zimmer, und Hussein prallte hustend zurück.

      »Tür zu!«, brüllte Abu Satar, doch es war schon zu spät. Als sich eine Kreatur mit schwarz-braun-rotem Fell an den Whiskykisten vorbeidrängte, für ihre Größe bemerkenswert agil, und quiekend durch die Gardinenabtrennung floh, verschüttete Hussein seinen Drink und stieß mit dem noch immer strammstehenden


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