Der Glöckner von Notre Dame. Victor Hugo

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Der Glöckner von Notre Dame - Victor Hugo


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hatte seit langer Zeit die Wahrheit entdeckt, daß Jupiter die Menschen in einem Anfalle von Menschenhaß geschaffen habe, und daß im Leben des Weisen das Schicksal die Philosophie im Belagerungszustande hält. Was ihn betraf, so hatte er die Blokade noch niemals so vollständig gesehen; er hörte seinen Magen Generalmarsch schlagen, und er fand es recht dumm, daß sein böses Geschick seine Philosophie durch Hunger bedrängte.

      Dieser melancholische Gedanke bemächtigte sich seiner mehr und mehr, als ein seltsamer, wiewohl lieblicher Gesang, ihn plötzlich aus seiner Träumerei weckte. Es war die junge Zigeunerin, welche sang.

      Mit ihrer Stimme war es, wie mit ihrem Tanze und mit ihrer Schönheit. Es lag etwas Unerklärliches und Liebliches, etwas Reines und Wohlklingendes, so zu sagen Leichtes, Geflügeltes darin. Es waren fortgesetzte Ergüsse, Melodien, unerwartete Cadenzen, bald einfache Worte voll scharfer und zischender Töne, bald Tonleitersprünge, welche eine Nachtigall verwirrt hätten, aber stets voll Harmonie, bald weiche Octavengänge, welche sich hoben und senkten, wie der Busen der jungen Sängerin. Ihr schönes Gesicht begleitete mit seltsamer Beweglichkeit alle Einfälle ihres Gesanges, von der tollsten Begeisterung bis zur keuschesten Würde. Man hätte sie bald eine Wahnwitzige, bald eine Königin nennen mögen.

      Die Worte, welche sie sang, gehörten einer für Gringoire unbekannten Sprache an, und schienen ihr selbst unbekannt zu sein, so wenig paßte der Vortrag des Gesanges zum Sinne der Worte. Daher waren folgende vier Verse in ihrem Munde von einer närrischen Lustigkeit:

       Un cofre de gran riqueza

       Hallaron dentro un pilar,

       Dentro del, nuevas banderas,

       Con figuras de espantar.

      Und gleich darauf, bei dem Tone, mit welchem sie folgende Strophe sang:

       Alarabes de cavallo

       Sin poderse menear,

       Con espadas, y los cuellos

       Bellestas de buen echar.

      fühlte Gringoire, wie ihm die Thränen in die Augen traten. Doch athmete ihr Gesang vornehmlich Freude, und sie schien wie ein Vogel heiter und sorglos ihr Lied zu singen.

      Der Gesang der Zigeunerin hatte Gringoire in seinen Träumen gestört, aber so wie der Schwan das Wasser aufregt. Er hörte ihr mit einer Art Entzücken und gänzlicher Vergessenheit zu. Seit mehreren Stunden war es der erste Augenblick, wo er sich nicht unglücklich fühlte.

      Dieser Augenblick war kurz.

      Dieselbe Frauenstimme, welche den Tanz der Zigeunerin unterbrochen hatte, störte jetzt ihren Gesang.

      »Wirst du wohl schweigen, du Höllencikade?« rief sie wiederholt aus demselben dunkeln Winkel des Platzes her.

      Die arme »Cikade« blieb stecken. Gringoire hielt sich die Ohren zu.

      »Ach!« rief er, »die verfluchte zahnlose Säge zerbricht die Lyra!«

      Auch die übrigen Zuschauer murrten wie er. »Zum Teufel mit der Nonne!« sagte mehr als einer. Und die alte, unsichtbare Freudeverderberin hätte ihre Angriffe auf die Zigeunerin bald bereuen sollen, wenn nicht in diesem Augenblicke die Menge von dem Zuge des Narrenpapstes angezogen worden wäre. Dieser war durch eine Menge Straßen und Gassen gezogen, und ergoß sich mit allen seinen Fackeln und mit großem Lärme auf den Grèveplatz.

      Dieser Zug, den unsere Leser aus dem Palaste haben abziehen sehen, hatte sich unterwegs gebildet, und aus allem, was an Taugenichtsen, Dieben und Vagabunden in Paris vorhanden war, zusammengesetzt; darum bot er einen beachtenswerthen Anblick dar, als er auf dem Grèveplatze ankam.

      Voran ging Aegypten: der Herzog von Aegypten an der Spitze, zu Pferde, begleitet von seinen Grafen zu Fuße, welche ihm Zaum und Steigbügel hielten; hinter ihnen Zigeuner und Zigeunerinnen durch einander, mit ihren schreienden Kindern auf den Schultern; alle zusammen, der Herzog, die Grafen, das gemeine Volk in Lumpen und Flitterstaat gehüllt. Dann kam das Königreich Rothwälschland: das heißt alle Diebe Frankreichs, stufenweise nach ihrer Rangordnung einherschreitend, die Geringsten zuerst. So zogen sie vier und vier vorbei mit den verschiedenen Abzeichen ihrer Würde in dieser befremdlichen Gilde; die meisten gelähmt, diese hinkend, jene einarmig: die Ladendiener, die Pilger, die Einbrecher, die Epileptischen, die kindischen Alten, die Schnorrer, die Zotenreißer, die künstlichen Krüppel, die Spieler, die Siechen, die Abgebrannten, die Krämer, die Rothwälscher, die Diebesgenossen, die Erzgauner, die Meisterdiebe: – ein Volk, dessen Aufzählung Homer ermüden müßte. In der Mitte des Conclaves der Meisterdiebe und Erzgauner konnte man kaum den König der Bettler, den großen Coësre, erkennen, welcher auf einem kleinen, von zwei Hunden gezogenen Wagen hockte. Nach dem Königreiche der Gauner kam das Kaiserreich Galiläa. Wilhelm Rousseau, der Kaiser von Galiläa, schritt majestätisch in seinem weinfleckigen Purpurkleide einher, während Possenreißer vor ihm hergingen, die sich schlugen und Waffentänze ausführten, und seine Scepterträger, Helfershelfer und die Schreiber seiner Rechnungskammer ihn umgaben. Schließlich kam die Gilde der Parlamentsschreiber mit ihren blumenbekränzten Maien, in ihren schwarzen Gewändern, mit ihrer Musik, die eines Hexensabbathes würdig war, und mit ihren langen Kerzen von gelbem Wachs. Im Mittelpunkte dieser Menge trugen die hohen Beamten der Narrenbrüderschaft auf ihren Schultern einen Tragsessel, der mehr mit Kerzen überladen war, als der Reliquienschrein der heiligen Genoveva zur Zeit der Pest: und auf diesem Tragsessel strahlte, mit dem Krummstabe, Bischofsmantel und Mitra geschmückt, der neue Narrenpapst: der Glöckner von Notre-Dame, Quasimodo der Bucklige.

      Jede Abtheilung dieses phantastischen Zuges hatte ihre besondere Musik. Die Zigeuner ließen ihre Balafos und afrikanischen Tamburins erschallen. Die Gauner, eine sehr wenig musikalische Sippe, bedienten sich dazu der Viola, des Bockshornes und der gothischen Rebec des zwölften Jahrhunderts. Das Kaiserreich Galiläa war kaum viel fortgeschrittener; mit Mühe bemerkte man bei seiner Musik eine erbärmliche Fiedel aus der Kindheit der Kunst, die noch in drei Töne d–a–e eingeschlossen war. Aber in der Nähe des Narrenpapstes enthüllten sich in einer großartigen Katzenmusik die ganzen musikalischen Reichthümer des Zeitalters: lauter Discant-, Alt- und Tenorgeigen vernahm man da, ohne die Flöten und Blechinstrumente zu zählen. O weh! die Leser erinnern sich, daß es das Orchester Gringoire's war.

      Es ist schwer, eine Vorstellung von dem Grade stolzer und seliger Freude zu geben, zu welchem das finstere und scheußliche Gesicht Quasimodo's auf dem Wege vom Palaste bis zum Grèveplatze gekommen war. Das war der erste Genuß der Eigenliebe, den er jemals empfunden hatte. Bisher hatte er nur Erniedrigung, Verachtung gegen seine Lebenslage und Ekel vor seiner Person gekannt. Daher verschlang er, trotz seiner Taubheit, wie ein wahrhaftiger Papst die Beifallsrufe dieser Menge, welche er haßte, weil er sich von ihnen verabscheut fühlte. Daß sein Volk eine Bande von Narren, Lahmen, Dieben, Bettlern war, was thut's? Es war doch immer ein Volk, und er ein Herrscher. Und er nahm für baaren Ernst alle diese spöttischen Beifallsäußerungen, alle lächerlichen Ehrfurchtsbezeugungen, in die sich sicherlich von seiten der Menge etwas wirkliche Furcht hineinmischte. Denn der Bucklige war stark, der Krummbeinige behend und bei seiner Taubheit boshaft: drei Eigenschaften, welche das Spaßhafte an ihm verminderten.

      Uebrigens sind wir weit entfernt, zu glauben, daß der neue Narrenpapst sich selbst Rechenschaft gab von den Empfindungen, welche er empfand, und von denen, welche er einflößte. Der Geist, welcher in diesem mangelhaften Körper wohnte, hatte nothwendigerweise selbst etwas Unvollkommenes und Unempfindliches angenommen. Daher war das, was er in diesem Augenblicke empfand, für ihn durchaus unbestimmt, unklar und verworren. Nur die Freude blickte durch, der Stolz herrschte vor. Diese düstere und unglückliche Erscheinung hatte auch ihr Glück.

      Nicht ohne Staunen und Schrecken sah man daher, daß plötzlich, in dem Augenblicke, wo Quasimodo im Triumphe und halbberauscht vor dem Säulenhause vorbeizog, ein Mann aus der Menge hervorstürzte und ihm mit zorniger Geberde das Abzeichen seiner närrischen Papstwürde, den Bischofsstab von vergoldetem Holze, aus den Händen riß.

      Diese tollkühne Person war der kahlköpfige Mann, welcher kurz zuvor


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