Psych. Anpassungsreaktionen von Kindern und Jugendlichen bei chronischen körperlichen Erkrankungen. Manfred Vogt

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Psych. Anpassungsreaktionen von Kindern und Jugendlichen bei chronischen körperlichen Erkrankungen - Manfred Vogt


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4) Krankheiten mit progredientem Verlauf sowie lebenslimitierende Erkrankungen

      Krankheiten dieser Kategorie gehen mit infausten Prognosen und einer limitierten Lebenserwartung einher. Auch bei einem letalen Krankheitsverlauf gibt es deutliche Unterschiede: Einige Erkrankungen führen relativ schnell zum Tod, während bei anderen das Leben noch viele Jahrzehnte bei guter Lebensqualität weitergehen kann (z. B. bei einigen Stoffwechselerkrankungen, Muskeldystrophie vom Typ Duchenne, Mukoviszidose / zystischer Fibrose).

      Die Grenzen zwischen den einzelnen Erkrankungen können fluktuieren. So kann eine Krebserkrankung, bei der eine kurative Therapie nicht zum Erfolg führt, von einer akut lebensbedrohlichen Erkrankung zu einer Erkrankung mit letalem Verlauf werden. Auch kann infolge einer Krebserkrankung und -therapie ein breites Spektrum von Langzeitfolgen auftreten, weshalb Patienten nach erfolgreicher Therapie weiterhin an chronischen Erkrankungen innerhalb der Verlaufsformen 1 oder 3 leiden können.

       1.2Psychische Anpassungsanforderungen und Anpassungsreaktionen bei chronischen körperlichen Erkrankungen

      Chronische körperliche Erkrankungen gehen mit hohen psychosozialen Belastungen für den Patienten und seine Familie einher. Aus langanhaltenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen und Abhängigkeiten von medizinischen Maßnahmen resultieren dauerhafte Veränderungen des Lebensalltags der Betroffenen. So erzwingt die Erkrankung häufig drastische Lebensstilveränderungen und nimmt demzufolge Einfluss auf die psychische und soziale Entwicklung des Patienten. Da Erkrankungen die individuelle Belastbarkeit sowie die Leistungs- und Konzentrationsfähigkeit stark beanspruchen, können sowohl die schulischen und Ausbildungsmöglichkeiten als auch die sozialen Partizipationsmöglichkeiten beeinträchtigt werden. Ästhetische Spuren der Erkrankungen können mit einem reduzierten Selbstwertgefühl einhergehen. Die krankheitsbedingten Belastungen müssen zusätzlich zu normativen Entwicklungsaufgaben im Kindes- und Jugendalter bewältigt werden. Chronische körperliche Erkrankungen gelten als Risikofaktor für die Entwicklung psychischer Symptome wie von Ängsten und Depressivität, welche sich wiederum ungünstig auf den Verlauf der somatischen Erkrankung auswirken können (Pinquart 2013).

      Bei einer chronischen Erkrankung ist nicht nur das Kind selbst, sondern sein komplettes familiäres System betroffen. Sehr allgemein lässt sich festhalten, dass sich für einen Großteil der Betroffenen hohe Anpassungsanforderungen ergeben: Regelmäßige Arzttermine oder stationäre Aufenthalte bedeuten einen großen Zeitaufwand, der die Familie als Ganzes beansprucht (Erhart et al. 2011). Doch nicht nur Eltern sind von der Erkrankung mitbetroffen. Auch Geschwisterkinder müssen große Anpassungsleistungen vollbringen (Barlow a. Ellard 2006; Sharpe a. Rossiter 2002). Somit ist es wichtig, nicht nur das erkrankte Kind zu behandeln, sondern dessen Familie als komplettes System.

      Psychische Anpassungsstörungen und psychologische Komorbiditäten der Betroffenen müssen jedoch nicht zwangsläufig entstehen. Die Anpassung an die körperliche Erkrankung wird durch diverse Faktoren moderiert: Dauer, Schwere, Verlauf, resultierende Beeinträchtigungen und Häufigkeit der Arztbesuche und Krankenhausaufenthalte. Überdies beeinflussen lebensgeschichtliche Ereignisse und Belastungen die Persönlichkeit des erkrankten Kindes (Alter und Entwicklung, kognitive und psychosoziale Kompetenzen, Geschlecht, Bewältigungsfertigkeiten etc.), die soziale Umwelt sowie die familiäre Anpassung die Adaption des Kindes (Steinhausen 1996).

      Dieser Komplexität der Bewältigung chronischer körperlicher Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter werden therapeutische Versorgungskonzepte gerecht, die über die Behandlung der körperlichen Symptomatik hinaus psychische Anforderungen im Entwicklungskontext fokussieren. Eine solche Herangehensweise entspricht dem von der WHO vertretenen biopsychosozialen Verständnis chronischer Erkrankungen, welches Funktionseinbußen, Teilhabe und Versorgungsaufwand einbezieht (Wenzel u. Morfeld 2016).

      Als Ausdruck der psychischen Belastungen treten bei kindlichen und jugendlichen Patienten mit chronischen körperlichen Erkrankungen sowie ihren Angehörigen die in Abbildung 3 aufgeführten Symptome häufig auf. Zeigen die psychischen Symptome einen eigenen Krankheitswert, werden sie als Komorbidität einer organischen Erkrankung und einer psychischen Störung erfasst. In der Störungskategorie ICD-10: F43 werden akute Belastungsreaktionen, Anpassungsstörungen oder posttraumatische Belastungsstörungen klassifiziert, welche primär als Reaktion auf außergewöhnlich belastende Lebensereignisse wie die Diagnose einer chronischen Erkrankung oder bei Angehörigen durch eine lang anhaltende überfordernde Pflege des Kindes oder Jugendlichen Anwendung finden. Eine weitere relevante Störungskategorie ist die ICD-10: F40.2, hier werden spezifische Phobien auf eng umschriebene Situationen, wie zum Beispiel spezielle körperliche Untersuchungen, beschrieben. Außerdem wird in der Praxis die Kategorie ICD-10: F41.2 angewendet, mit ihr wird das gleichzeitige Bestehen von Angst und depressiver Reaktion klassifiziert.

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       Abb. 3: Ausgewählte Störungskategorien (ICD-10) bei chronischen körperlichen Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter

      Pinquart (2013) konnte in einer Metaanalyse zeigen, dass von chronischer körperlicher Krankheit betroffene Kinder und Jugendliche im Vergleich zu Kontrollgruppen körperlich gesunder Kinder stärker unter Depressivität, Angstsymptomen und Verhaltensproblemen leiden. Die internalisierenden Probleme werden oft als Reaktion auf Verlust, Einschränkungen und Unsicherheiten bezüglich des Krankheitsverlaufs interpretiert. Externalisierende Probleme sind meist als Reaktion auf die mit der Erkrankung einhergehende Frustration zu verstehen. Betroffene leiden ebenso vermehrt unter sozialen Problemen, schizoidem bzw. zwanghaften Verhalten und Aufmerksamkeitsproblemen. Im Vergleich zu jüngeren Kindern sind ältere Kinder ab sechs Jahren stärker von Symptomen betroffen, da mit höherem kognitivem Niveau eine bewusstere Wahrnehmung von Belastungen möglich ist und auch Folgen abgeschätzt und Vergleiche angestellt werden können. Zudem unterscheidet sich das Ausmaß der psychischen Reaktionen je nach körperlicher Einschränkung: Vor allem solche mit deutlich nach außen sichtbaren Symptomen wie Adipositas oder starken Funktionseinschränkungen im Alltag wie bei dem chronischen Erschöpfungssyndrom gehen mit erhöhter psychischer Belastung einher.

      Auch die Eltern chronisch erkrankter Kinder sind durch die zum Teil hohen emotionalen und organisatorischen Anforderungen vergleichsweise häufiger von Angst, Depressionen oder psychischem Stress betroffen (Teubert u. Pinquart 2013). Vor allem bei unklaren Prognosen, Angst vor dem Voranschreiten der Erkrankung und geringen Heilungschancen sowie Sorgen bezüglich der eigenen beruflichen Zukunft aufgrund der Notwendigkeit der Versorgung des Kindes entstehen negative Auswirkungen auf die psychische Gesundheit von Eltern. Da erkrankte Kinder häufiger Verhaltensauffälligkeiten zeigen, leiden betroffene Eltern zudem vermehrt unter Stress im Rahmen ihrer alltäglichen Erziehungspraxis. Bei Geschwisterkindern zeigen sich eher geringe Effekte auf die psychische Gesundheit. Hier sind vor allem internalisierende Reaktionen relevant, was dahingehend interpretiert wird, dass Geschwister eigene Bedürfnisse zurückhalten, um Eltern und erkranktes Kind nicht zusätzlich zu belasten (Tröster 2013). Auf der anderen Seite können Geschwister bei gelungener Anpassung eine hohen Sozialkompetenz mit besonderen empathischen Fähigkeiten entwickeln (Williams 1997).

      Die individuellen Bewältigungs- und Entwicklungsergebnisse des erkrankten Kindes und seiner Familie reichen jedoch grundsätzlich von einer psychischen gestörten Anpassungsreaktion über eine subklinische Beeinträchtigung der Lebensqualität oder eine ungestörte Entwicklung bis hin zum Gewinn von Resilienz (Noeker 2013). Das Adaptionsergebnis ist dabei kein statischer Zustand, sondern ein Funktionsniveau, das sich ständig verändert, da es in Wechselwirkung mit Einflussfaktoren wie beispielsweise dem Verlauf und der Schwere der Erkrankung sowie personellen, familiären oder sozialen Ressourcen steht (vgl. Abb. 4).

       Abb. 4: Schematische Darstellung der Einflussfaktoren und Entwicklungsergebnisse


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