Einführung in die Theorie des Familienunternehmens. Fritz B. Simon

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Einführung in die Theorie des Familienunternehmens - Fritz B. Simon


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Fragestellungen, insbesondere die Familienforschung und Familientherapie, die Organisationsforschung und Organisationsberatung. Den umfassendsten und im Folgenden zugrunde gelegten Ansatz hat der Soziologe Niklas Luhmann in seiner Gesellschaftstheorie entworfen (Luhmann 1984, 1988a, 1997, 2000). Sie untersucht soziale Systeme aller Art und kann deshalb sowohl auf die Familie als auch das Unternehmen als soziales System angewandt werden. Da es sich um eine Theorie der Gesellschaft und ihrer spezielle Funktionen erfüllenden Subsysteme (wie Wirtschaft, Rechtssystem, Politik, Wissenschaft, Erziehung usw.) handelt, überschreitet sie von vornherein die traditionellen Grenzen der Einzelwissenschaften bzw. der von ihnen entwickelten Theoriearchitekturen.

      Umgangssprachlich wird der Begriff »soziales System« (griech. systema »Vereinigung«, »Zusammengestelltes«) zur Bezeichnung einer Vereinigung von Menschen (z. B. in der Familie oder im Unternehmen) gebraucht. Die Familie wird dann als zusammengesetzte Einheit (= System) betrachtet, die, beispielsweise, aus sechs Elementen besteht: Vater, Mutter, Tochter, Sohn, Oma und der Hund (na ja, über dessen Status als Familienmitglied kann man sich natürlich streiten). Allerdings schafft solch eine Definition Probleme: Wenn man die Individuen als die Elemente eines sozialen Systems betrachtet, dann wird es nahezu unmöglich, die Interaktionsdynamik einer Familie zu erklären. Die Komplexität, mit welcher der Beobachter konfrontiert ist, ist zu groß. Denn schließlich ist schon jedes der Familienmitglieder, jedes Individuum, jedes psychische System, ein hochkomplexes System und weder von außen in seiner Funktionsweise durchschaubar noch in seinem Verhalten berechenbar. Wenn nun fünf oder sechs solch komplexer Systeme miteinander in Interaktion treten und sich gegenseitig beeinflussen, dann potenziert sich die Komplexität – jeder Versuch, die Familiendynamik als Summe der Psychodynamiken ihrer Mitglieder zu analysieren, ist zum Scheitern verurteilt. Dasselbe gilt in noch stärkerem Maße für die interne Dynamik eines Unternehmens, bei dem ja manchmal Zigtausende von Individuen miteinander umgehen und ihr Verhalten koordinieren müssen.

      Mit dem Problem einer nicht zu beherrschenden Komplexität ist allerdings nicht nur der Wissenschaftler konfrontiert, der sich mit Familien und/oder Unternehmen beschäftigt, sondern jedes Mitglied von Familie und/oder Unternehmen. In der Familie mag es ja noch vorkommen, dass ein Einzelner versucht, alle »seine Lieben« zu verstehen (wenn auch in der Regel mit wenig Erfolg), in Unternehmen, deren Größe eine Handvoll Leute überschreitet, ist dies von vornherein unmöglich. Trotz dieser gegenseitigen Undurchschaubarkeit – ja gerade deswegen – gelingt jeden Tag in Unternehmen und anderen Organisationen die Kooperation einer Unzahl von Menschen, die sich nur oberflächlich kennen. Der Grund dafür: Sie orientieren sich und ihr Verhalten an Spielregeln der Kommunikation.

      In jeder Familie, in jedem Unternehmen gibt es bestimmte Weltbilder (»Wirklichkeitskonstruktionen«), die bewusst oder unbewusst von den Mitgliedern geteilt werden. Dazu gehören Erwartungsmuster, die das Verhalten und den Umgang miteinander steuern. Man erwartet vom anderen bestimmte Verhaltensweisen, und man erwartet, dass sie von einem selbst auch erwartet werden. So stabilisieren Erwartungen und Erwartungs-Erwartungen die Spielregeln des Umgangs miteinander. Mit anderen Worten: In jedem der genannten sozialen Systeme lassen sich Verhaltensweisen benennen, die den Mitgliedern (offen oder verdeckt) vorgeschrieben sind, und andere, die ihnen (wiederum offen oder verdeckt) verboten sind (v. Wright 1963). Innerhalb des durch derartige Gebote und Verbote gesetzten Rahmens haben sie einen Spielraum für ihre freien Entscheidungen. Das Überschreiten seiner Grenzen ist mit dem Verlust der Mitgliedschaft in Familie oder Unternehmen bedroht. Dass in Familie und Unternehmen unterschiedliche Verhaltensweisen geboten/verboten sind, dürfte deutlich sein, und dass es schwerer ist, aus (s)einer Familie »rauszufliegen« als aus einem Unternehmen, ebenfalls …

      Solche Spielregeln werden kommuniziert, indem sie praktiziert werden, und sie betreffen nicht nur das Verhalten, sondern die gesamte Kommunikation. Wer neu dazukommt, schaut sich in der Regel erst einmal genau an, »wie man das denn hier macht«, um dann nach einiger Zeit zu wissen, welche Verhaltensweisen man besser unterlässt (z. B. Vorgesetzte beleidigen) und welche man auf jeden Fall realisieren muss (z. B. zur Arbeit erscheinen).

      Um es auf eine Formel zu bringen: Die Spielregeln eines sozialen Systems zu verstehen, ist einfacher, als seine Mitglieder zu verstehen. Die Spielregeln einer Familie oder eines Unternehmens sind immer weniger komplex als die Psyche eines jeden Mitglieds.

      Dieser konzeptuelle Schritt ist es, den auch die neuere soziologische Systemtheorie vollzogen hat. Sie untersucht Kommunikationssysteme. Denn Kommunikation ist das Mittel, mit dessen Hilfe unterschiedliche autonome Akteure (z. B. Mitarbeiter, Familienmitglieder) ihr Verhalten koordinieren und gemeinsam zum Entstehen gemeinsam befolgter Spielregeln der Interaktion beitragen und sie erhalten. Deswegen werden in dieser Konzeptualisierung soziale Systeme als Kommunikationssysteme definiert und Kommunikationen als ihre basalen Elemente betrachtet.

      Wenn man die Unterscheidung zwischen Teil und Ganzem betrachtet, so sind in dieser Modellbildung nicht menschliche Individuen die Teile (Elemente) des Ganzen (soziales System), sondern die einzelnen Prozessschritte, die das Verhalten der Individuen koordinieren (d. h. einzelne Kommunikationen). Zu betonen ist hier, dass der Begriff »Kommunikation« nicht – wie es der alltägliche Gebrauch des Wortes nahelegt – die Handlung eines Menschen bezeichnet (»XY ist ein großer Kommunikator«). Betrachtet wird stattdessen ein Prozess, zu dem in der Regel mindestens zwei Akteure nötig sind: Ein Mensch redet und verhält sich in irgendeiner Weise (»Sender«), was von einem zweiten als »Mitteilung« irgendeiner Information »verstanden« (interpretiert) wird (»Empfänger«). Beide sind dabei aktiv, denn beide schreiben ihren Selbst- und Fremdbeobachtungen Bedeutung und Sinn zu. Der zweite Akteur reagiert auf die Aktionen des ersten, was nunmehr vom diesem als »Mitteilung« gedeutet wird usw. Im Laufe der Zeit entwickeln sich Erwartungen an das gegenseitige Agieren und Reagieren, die sich wechselseitig stabilisieren, das heißt, ein Kommunikationsmuster entsteht (vgl. Luhmann 1984, S. 193 ff.).

      Der Einzelne – das muss betont werden – kann das sich entwickelnde Muster nicht einseitig kontrollieren. Denn er kann nicht allein kommunizieren. Es sind immer die anderen, die seinem äußerlich beobachtbaren Verhalten einen Sinn zuschreiben (= es »verstehen«), und deren Interpretation muss nicht mit dem übereinstimmen, was er selbst »gemeint« hat oder ausdrücken wollte.

      Soziale Systeme lassen sich als Kommunikationssysteme definieren, die so lange ihre Struktur erhalten, wie die dazu nötige Kommunikation fortgesetzt bzw. reproduziert wird …

      Das macht sie zu »autopoietischen Systemen« (griech. autós »selbst«, poiéo »ich bringe hervor«). Mit diesem Begriff werden selbstorganisierte Systeme bezeichnet, die sich durch ihre eigenen, internen Prozesse erschaffen und erhalten, indem sie eine Innen-außen-Grenze ihren Umwelten gegenüber bilden (Maturana 1975). Als Prototyp solcher Systeme dienen lebende Systeme bzw. die Logik von Lebensprozessen. Am Organismus ist das Konzept entwickelt worden: Solange der Stoffwechsel funktioniert (= interne Prozesse), bleibt die Einheit und Struktur des Körpers erhalten; wenn das nicht mehr der Fall ist (= Tod), dann löst sich nicht nur die Innen-außen-Grenze (= Haut) auf, sondern auch die Einheit des Systems, das heißt, der Organismus verwest. Solche Systeme existieren, solange die Autopoiese, d. h. die Prozesse, welche diese Einheit herstellen und erhalten, fortgeführt werden.

      Übertragen auf soziale Systeme heißt dies: Solange die (Kommunikations-)Prozesse fortgesetzt werden, die ein Unternehmen oder eine Familie als abgegrenzte Einheit erzeugen und erhalten, bleibt das Unternehmen bzw. die Familie erhalten (Abb. 1).

      Abb. 1: Soziale Systeme lassen sich durch einen Kreis mit einem Pfeil symbolisieren, der für die durch den Kommunikationsprozess vollzogene und erhaltene Innenaußen-Unterscheidung steht.

      Wenn bislang von Spielregeln der Kommunikation die Rede war, dann auch, weil sich soziale Systeme in ihrer Dynamik gut mit Spielen (wie Schach und Fußball) vergleichen lassen. Sie sind durch ihre Regeln definiert und existieren so lange, wie nach diesen Regeln gespielt wird. Diese Regeln definieren auch,


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