Flüchtiges Glück. Else Feldmann
Читать онлайн книгу.ist vollkommen wohl, jugendlich und frisch.
Er ruht auf dem Sofa, aber manchmal geht er auch im Zimmer umher mit seiner hohen, aufrechten Gestalt – was sind die Jahre für das Genie –, man muß bewundernd stehen bleiben und ihn anschauen: Welch ein schöner Mensch! In einem dunkelgrauen Anzug, weißem Kragen, dunkler Halsbinde; fein und vornehm sieht er aus. Das wundervolle Haupt mit dem hermelinweißen Seidenhaar, die Augen, die eine Welt der Güte und Liebe ausstrahlen. Alles an dem Mann ist so göttlich groß und menschlich zugleich.
Ich setze mich zu ihm und wir sprechen. Ich halte seine Hand in meinen Händen und ich fühle es wie etwas Heiliges – soll ich es Traum, erfüllte Sehnsucht, Glück oder Ehrfurcht nennen –, ich möchte die Stunde festhalten, den Tonfall der geliebten Stimme mit mir nehmen.
Wir sprechen von der »Nährpflicht«. Ich sage, was mir gerade durch die Seele geht: Die Nährpflicht wird Wahrheit. Das Geld ist nichts mehr, die Ware ist alles. Alle Reichtümer, aller Besitz ist nichts, wenn nicht die Arbeit da ist, die hervordringenden Arbeiter. Ich komme täglich zu Menschen, die im schrecklichsten Elend leben. Frühgealterte Männer, die das Leben gepeitschter Tiere hinter sich haben; Frauen, die weder Glück noch Liebe kennen gelernt, die Kinder geboren in Haß und Verzweiflung, Kinder, die nicht lachen und spielen können, nur stöhnen und klagen. Es sind oft liebenswerte Menschen, edel in ihrem Denken und Fühlen und trotzdem geschändet von Armut.
In einigen Jahren, wenn der Sozialismus das Gut der ganzen Welt geworden ist, werden sich die Menschen besinnen: Wohltätigkeit – welch trauriger Schwindel, welch ein Betrug an den Armen! Jemand schenkt von seinem Überfluß, aber erst dann, wenn der Beschenkte am Zugrundegehen ist. Wenn ihm nicht mehr geholfen werden kann. An Stelle der schandbaren Wohltätigkeit tritt die soziale Fürsorge. Aber auch soziale Fürsorge wird immer Stückwerk bleiben. Nie werden die »Verschämten« in den Dachkammern aufgefunden werden, nie die Mutter, die schweigend für ihre Kinder hungert. Immer werden viele zugrunde gehen, viele verhungern, viele ungeheilt dahinsiechen.
Erst das Gesetz der allgemeinen Nährpflicht wird die Menschheit von dem Übel der Armut und des Verhungerns erlösen.
Die größte Befreiungstat aller Zeiten, die nie ein Mensch für die Menschheit gefunden hat: Jeder im Staate ohne Ausnahme ist gesichert für Wohnung samt Einrichtung, Nahrung, Kleidung, ärztliche Hilfe und Krankenpflege.
Keine Mutter wird mehr von der Sorge zerfressen werden: Wo nehme ich für den nächsten Tag Brot für meine Kinder; kein alter Arbeiter wird mehr denken: Wohin lege ich mein müdes Haupt, wenn das Asyl für Obdachlose geschlossen ist.
Die allgemeine Nährpflicht wird Selbstverständlichkeit, wird Gesetz geworden sein. Es wird nicht mehr denkbar sein, daß Menschen das, was sie unbedingt zum physischen Leben haben müssen, nicht bekommen sollten.
Popper-Lynkeus wird es erleben. Es wird das Wunder geschehen, daß einer der größten Gedanken, der je von einem der größten Menschen gedacht wurde – verwirklicht werde.
Wie könnte es anders sein! Das wirtschaftliche Programm der Sozialdemokraten, wenn es eines gäbe, führt nicht aus dem Chaos.
Es ist einfach und klar wie der Tag: Nur das Gesetz der allgemeinen Nährpflicht kann Lösung und Heil der Zukunft sein.
Im Zimmer ist es finster geworden. Josef Poppers Augen schauen mich ernsthaft an.
In der Sofaecke lehnt der große Denker und Menschenbeglücker, leuchtet Lynkeus’ blasses Gesicht aus dem Dunkel.
BILDER DES ELENDS. RACHITIS
Neues Wiener Journal, 9. März 1919
Es kann nicht oft genug geschildert werden, in welchem Grade der Not Menschen leben.
Unmenschlich hart ist der Leidensweg einer Mutter mit ihrem rachitischen Kind auf dem Arm!
Die Rachitis ist eine Volkskrankheit, welche der Armut, der Sonnenlosigkeit, der unsozialen Bauart entspringt.
Es gibt viele tausend Häuser mit Kellerwohnungen in allen Bezirken Wiens. Wenn man diese Häuser besucht, fällt vor allem eines auf: Die Ausnutzung des Raumes ist bis ins Fanatische gesteigert. Es gibt Häuser, in denen mehr als hundert Kinder leben. Ich habe vor zwei Tagen in der Brigittenau ein Haus gesehen, es ist das Doppelhaus Rauscherstraße 8/10, in dem nie Stiegen gekehrt werden, ein Hof, in dem vier Fensterfronten von vier Stockwerken gehen, ist ein einziger Kehrichthaufen; alle Parteien des Hauses entladen in diesen Hof – wahrscheinlich durch die Fenster – den Mist. Eine Straßenreinigung gibt es in diesen Gegenden überhaupt nicht, es wurde mir gesagt, der »Mistbauer« komme oft wochenlang nicht. Wie der Gesundheitszustand dieser Menschen aussieht, bei denen die zehn Plagen der alten Ägypter zu Hause sind, läßt sich denken. Von den Kindern aber sind fast alle rachitisch. In den größten Kinderkrankenanstalten, wo ich meine Studien der rachitischen Kinder machte, sagten mir die Ärzte, es gehörte zu den größten Seltenheiten, einmal ein Proletarierkind zu sehen, das ganz ohne Rachitis wäre.
Die Behandlung dieser rachitischen Kinder in den Spitälern ist – das muß gesagt werden – eine Farce, eine Komödie. Man kann es nicht begreifen, wie überhaupt sich Ärzte finden, die sich zu derartigem hergeben; daß nicht alle die Arbeit hinhauen und davonrennen. Ihr ganzes »Ordinieren«, die ganze »Ambulanz« ist für nichts. Die Ärzte können nicht helfen! Sie schauen die Kinder an; sie verschreiben Heilmittel, die nicht zu bekommen sind, Milch, die nicht zu bekommen ist. Sonne, Luft und Nahrung, dies alles ist nicht zu haben. Was also geschieht mit den Kindern? Nichts. Sie sterben auch nicht. Wenn nicht durch ein besonderes glückliches Eingreifen der Natur eine Diphterie oder Lungenentzündung eintritt und rasch einem unglücklichen Leben ein Ende macht, wachsen diese Kinder heran und erreichen sogar ein oft recht hohes Alter. Wie aber sieht das Leben solcher Menschen aus? Mit Ausnahme des Aussätzigen (Lepra) kann man sich keinen körperlich und seelisch unglücklicheren Menschen denken, als einen durch Rachitis in der Kindheit Verunstalteten. Durch äußere Deformation bleibt er für sein ganzes Leben ein Gezeichneter. In der Kindheit die Sorge und Qual der Mutter, wird er im schulpflichtigen Alter das Gespött der Kameraden, das Ziel grausamer Kindertyrannei, unfähig zum frohen Spiel, unfähig zum ernsten Lernen, wächst das Kind in das Jugendalter hinein. Es kann keinen Beruf finden, wo Körperkräfte nötig wären; es ist von vornherein bankrott. Unlust und Menschenscheu treiben es zur Grübelei und zur Schwermut. Es kommt die Zeit der Geschlechtsreife, der klopfenden Herzen, des stürmischen Blutes. Das verunstaltete Geschöpf muß einsam gehen. Das Mädchen oder der Mann, den es liebt, nimmt jemand anderen. Jahre des Grames, der Not, der Verlassenheit bringen vorzeitiges Altern, allgemeine Entkräftung, eine müde Bettlergestalt sucht und findet den einzigen Freund in dem Tod, der spät, aber doch kommt. Dies ist der gewöhnliche Verlauf des Lebens eines Kindes armer Leute, dessen Rachitis nicht zur Heilung kam, und das sein Gebrechen durch ein ganzes Dasein schleppen mußte, jede Stunde ein Fluch, jeder Tag eine Hölle.
Wir träumen von der Gleichheit aller Menschen, wenn einmal der kämpfende Sozialismus der siegende wird.
Von Geburt sind wir alle gleich. Alle waren einmal nackte, hilflose Kindlein. Von der Wiege bis zum Grabe ist nur eines für den Menschen entscheidend: Lebt er in der Atmosphäre des Kapitals oder in der Atmosphäre des Elends. In der Atmosphäre des Kapitals bedeutet: Es ist genug Geld da, dem Menschen durch die Zuführung von Nährwerten die Gesundheit seines Körpers zu geben und zu erhalten; Bildungsmöglichkeiten sind da, eine Fülle der Freude, des Vergnügens, der Feste; hat es eine Begabung, es kann sie in Ruhe ausbilden, ist es ehrgeizig, die höchsten Stellen stehen ihm offen.
Wie ganz anders der Arme, dessen Kindheit schon korrumpiert ist, der, von Hunger und Kälte gequält, im Lasterpfuhl heranwächst, nichts anderes kennt, als sich zu verlaufen, seine Seele, sein Herz, seine Lungen, das Mark seiner Knochen und – wohin verlaufen? –, um immer für den nächsten Tag den ärgsten Hunger stillen zu können. So leben Millionen Menschen