Unsagbare Dinge. Sex Lügen und Revolution. Laurie Penny

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Unsagbare Dinge. Sex Lügen und Revolution - Laurie Penny


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täusche ich mich ja auch. Vielleicht kann es wirklich nicht besser werden. Vielleicht war 1989 wirklich das Ende der Geschichte,16 und wir müssen uns mit dem Stand der Dinge abfinden. Vielleicht geben wir uns zufrieden damit, dass so viele Mädchen mit Angst und Missbrauch aufwachsen, dass so viele Frauen gezwungen sind, sich zu ritzen und sich zu zügeln, schön und still zu sein, bis die Männer keine Verwendung mehr für sie haben, dass sich so viele Männer und Jungs eine Kiste aus Gewalt und Trägheit bauen, in die sie ihren Schmerz und ihre Wut einsperren und deren Tür sie leise von innen verschließen. Vielleicht haben wir etwas in uns, dem es so lieber ist.

      Folgendes schlage ich vor: Ich werde euch nicht sagen, wie ihr eine bessere Version derer sein könnt, die ihr schon seid. Ich werde euch nicht noch ein Regelwerk vorsetzen, das euch beibringt, euch zu benehmen, immer schön nachzugeben und das bravste Mädchen der Welt zu werden. Und ich schwöre euch, ich verspreche hoch und heilig, ich sage euch nicht, ob ihr euch das Schamhaar wegrasieren sollt, und ich beurteile euch nicht nach dem Zustand eurer Achseln. Mir ist eure Körperbehaarung scheißegal.

      Dieses Buch gehört auch nicht zu der Flut der Ratgeber, die euch bei der Navigation durch die heimtückische Maschine des Patriarchats hilft, wo wir die Maschine doch zerstören und mit möglichst vielen Freunden die Fabrik verlassen müssen. Die Welt braucht keinen weiteren Leitfaden dafür, wie wir uns in Würde in eine Welt fügen, die uns in den Selbsthass treibt. Besonders Frauen und Mädchen brauchen keine weiteren Regeln dafür, wie sie leben, arbeiten, sich pflegen, lieben sollen. Es gibt schon zu viele Regeln, und oft widersprechen sie einander. Seit meinem fünften Lebensjahr lese ich neben Bergen feministischer Theorie auch die rosaroten Ratgeber, und trotzdem habe ich keine Ahnung, wie ein braves Mädchen aus mir werden soll, und wenn ich es wüsste, würde ich es euch nicht sagen.

      Ich will euch nicht vorgeben, wie ihr Feministinnen werdet oder ob ihr überhaupt welche werden sollt. Ich bezeichne mich als Feministin, um Leute ins Bett zu kriegen und mir in der Bar die Widerlinge vom Hals zu halten, aber Feminismus ist keine Identität. Feminismus ist ein Prozess. Nennt euch, wie ihr wollt. Wichtig ist, wofür ihr kämpft. Fangt jetzt an.

       1

       Abgefuckte Mädchen

      »Sie werden mich lieben für das, was mich zerstört.«

      Sarah Kane, 4.48 Psychose

      Der Teppich hat die Farbe von Rotz und stinkt nach Bleiche. Ich weiß das, weil ich mein Gesicht hineinpresse. Ich liege reglos da, damit mich die Krankenschwestern nicht finden, auf dem schaurig schnodderfarbigen Boden, aus dem der Schmutz menschlicher Schädel herausgeschrubbt wurde, bis in die tiefste Faser, wie überall auf der Station. Kein Staubkrümel, kein Fettfleck ist in diesem Krankenhaus erlaubt, in dem sogar die Freundlichkeit klinisch rein ist und mich erstickt wie eine desinfizierte Zudecke. Ich bin siebzehn Jahre alt und verstecke mich unter dem Bett.

      Es ist das Jahr 2004, und ich müsste mich in der Schule auf meine Prüfungen vorbereiten. Stattdessen bin ich auf einer psychiatrischen Station für Menschen mit lebensbedrohlicher Magersucht und verwende meine gesamte Energie darauf, mich immer wieder vor den Krankenschwestern zu verstecken, die Tag und Nacht alle zehn Minuten vorbeikommen und nachsehen, ob wir unser Proteinpulver ausgekotzt oder eine CD zerbrochen und mit den Splittern wütende Worte tief, sehr tief in das Fleisch unseres Unterarms geritzt haben. Beides ist in den vergangenen Wochen vorgekommen. Ich weiß es noch, weil das mit dem Ritzen meine Zimmergenossin war und sie meine Sleater-Kinney-CD dafür benutzt hat. Ich habe nichts so Groteskes vor. Ich will nur mehr als zehn Minuten am Stück allein sein mit meinem Notizbuch, allein mit meinen Gedanken, irgendwo, wo mich niemand ansehen kann.

      So liege ich zitternd unter dem Bett. Auf meinem Rücken wächst ein feiner weicher Flaum; das geschieht, wenn du in einem kalten Land lebst und gefährliches Untergewicht hast. Der Körper versucht sich auf jede erdenkliche Weise warm zu halten. Deshalb kauerst du, hemmungslos schlotternd, an einer Heizung und bemühst dich erfolglos, gegen die Kälte anzukommen, die dir mit eiskalten Fingern in die Knochen stochert. Deine Persönlichkeit rinnt davon. Du bist zu einer Kreatur geworden, die hungert, scheißt, kotzt und zittert, und das war’s auch schon. Du kannst nicht klar denken. Dein Äußeres verschreckt deine Freunde und deine Familie. Wegen des Nährstoffmangels treibt dich nur noch das Adrenalin an, du wirst zu einem primitiven Ding, das, ohne es zu wollen, jeder Art von Nahrung nachjagt, Mülleimer durchwühlt, sich mit den Händen Müsli in den Mund stopft, um es gleich darauf in Panik wieder zu erbrechen. Du bist ein Häuflein Elend. Die Haare werden dünn und fallen aus. Du machst zwanghaft Sit-ups und Liegestütze, rennst mehrere Kilometer am Tag, obwohl du nicht mehr als ein paar Löffel dünnen Haferschleim im Magen hast.

      Du machst das nicht um der Schönheit willen. Du weißt, du siehst grauenhaft aus. Du tust es, weil du verschwinden willst. Du willst nicht mehr angeschaut werden. Du bist es leid, angesehen und beurteilt und für mangelhaft befunden zu werden. Du willst nicht erwachsen werden, fülliger werden, dich auf gesunde und positive Weise auf Sex einlassen. Vor allem bist du es leid, beobachtet zu werden. Du hast das dir Mögliche getan, artig zu sein, und trotzdem hast du versagt, und nun bist du eins dieser abgefuckten weißen Mädchen, die den Bach runtergehen.

      Abgefuckte weiße Mädchen. Die Buchauslagen und Zeitschriftenständer in den Städten quellen über von Geschichten über abgefuckte weiße Mädchen, schöne kaputte Püppchen, die mit der Freiheit und den Chancen, die sie geerbt haben, nicht zurechtkommen, die armen Dinger. Wir fetischisieren diese Mädchen, fotografieren sie, retuschieren ihren geblähten Bauch und ihre spitzen Knochen, legen Glanz auf die matte Haut und die starren Gesichtszüge und bleichen sie mit dem Blitzlicht der klickenden Kamera, gerade so, als stimmte der alte Aberglaube und die käferschwarzen Geräte raubten einem Menschen mit jedem Schnappschuss die Seele. Das Scheitern ist zu einem Modeaccessoire geworden, einem Luxus. Dem Leben nicht gewachsen zu sein, ist cool. Das Koksen, das Saufen, die Essstörungen, die hauchdünne transzendente Schönheit einer jungen Frau, die reich genug ist, um sich im Falle eines Zusammenbruchs eines Unterstützungssystems gewiss sein zu können: Das ist mittlerweile ein fester Bestandteil des neoliberalen Weiblichkeitsmythos, und der Konsum – das junge Mädchen, in den Wahnsinn getrieben, beginnt, sich selbst zu konsumieren, Knochen zehren Muskeln auf, die sich ihrerseits von Drogen und Narzissmus nähren, eine prachtvolle Neurose –, dieser Konsum ist der Gipfel und die Verkörperung dessen, was Frauen sein sollen, was das moderne Leben sein soll: Wir essen uns von innen heraus auf. Wir streben nach Perfektion und sind kreuzunglücklich dabei. Alles zu haben, schließt die Selbstverwirklichung nicht unbedingt ein. Dafür sind ja die Läden da.

      Das elegante Sichauflösen ist das Spiel des reichen Mädchens, das Spiel des weißen Mädchens, das Spiel des Modemädchens. Das macht uns jedenfalls die Klatschpresse weis. Natürlich ist das Schwachsinn. Wenn man der Sache auf den Grund geht, bis auf das Fleisch, den Rotz und die Knochen, interessiert sich absolut niemand für das Innenleben des abgefuckten Mädchens, ihre unglamourösen alltäglichen Zusammenbrüche, das echte Bemühen, sich auf den Druck, die Widersprüche und die täglichen Demütigungen einzustellen, aus denen die weibliche Realität im Westen des 21. Jahrhunderts besteht, nicht nur in Chelsea und der Upper West Side, sondern überall. Im richtigen Leben erwischt es Mädchen verschiedenster Herkunft, in Vorstädten und in Gettos, in Provinznestern und auch auf der Südhalbkugel; sie schlucken ihre Wut hinunter und lassen sie an ihrem Körper aus, und überall wird es schlimmer.17 Nicht zufällig wird auch eine andere klinische Diagnose Frauen viel öfter gestellt als Männern: Anpassungsstörung.18 Du hast es eben nicht geschafft, dich angemessen den sozialen Erwartungen anzupassen.

       Raum einnehmen

      Acht Jahre später. Frühling in New York City. Das Mädchen, das mir am Tisch gegenübersitzt, macht seltsame Sachen mit einem Sandwich. Sie hat es in vier gleich große Teile geschnitten und nimmt jetzt mit spitzen Fingern jedes Viertel auseinander, als wäre es eine Bombe, die gleich explodiert; sie wischt die Mayonnaise mit einer Serviette vom Brot, stapelt Schinken und Salat sorgfältig zu gleich großen Häufchen, gibt auf jedes


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