Metamorphosen. Ovid
Читать онлайн книгу.nimm meine Hand, [585] solange es noch eine Hand ist, solange die Schlangengestalt noch nicht ganz von mir Besitz ergriffen hat.« Er will noch weiter reden; doch plötzlich ist seine Zunge in zwei Hälften gespalten, beim Sprechen gehorchen ihm die Worte nicht mehr, und sooft er eine Klage äußern will, zischt er. Diese Stimme hat ihm die Natur belassen. [590] Da schlägt sich die Gattin an die bloße Brust und ruft: »Cadmus, bleib hier und befreie dich, Unglücklicher, aus diesem Ungeheuer! Cadmus, was soll das bedeuten? Wo ist der Fuß, wo sind die Schultern, die Hände, die Farbe, das Gesicht und, während ich spreche, alles übrige? Warum verwandelt ihr Himmlischen mich nicht auch in solch eine Schlange?« [595] Sprach’s; er aber leckte seiner Gattin das Gesicht, schmiegte sich an die geliebte Brust, als erkenne er sie, umschlang sie und suchte den vertrauten Hals. Alle, die dabei waren – dabei war das Gefolge –, sind von Schrekken erfüllt, sie aber streichelt den schlüpfrigen Hals des kammbewehrten Drachen; [600] und plötzlich sind es zwei, und sie kriechen, gemeinsam sich windend, davon, bis sie im Schlupfwinkel des nahe gelegenen Hains verschwunden sind. Heute noch fliehen sie nicht vor Menschen, tun ihnen nichts zuleide und erinnern sich als zahme Drachen daran, was sie früher gewesen sind.
Perseus und Atlas
Freilich war beiden ihr Enkel ein großer Trost [605] für ihre Verwandlung. Ihn verehrte das eroberte Indien, Achaea erbaute ihm Tempel und feierte ihn. Als einziger hält noch Acrisius, der Sohn des Abas, obwohl er von demselben Stamme ist, den Gott von den Mauern der Stadt Argos fern und führt gegen ihn Krieg; er glaubt nicht, [610] daß er von Göttern stammt; hielt er doch auch Perseus, den Danae im goldenen Regen empfangen hatte, nicht für Iuppiters Sohn. Bald bereut Acrisius freilich – so wirksam setzt sich die Wahrheit durch! –, daß er den Gott beleidigt und seinen Enkel nicht anerkannt hat. Der eine ist nämlich bereits zum Himmel aufgestiegen, der andere aber [615] trägt schon das berühmte schlangenhaarige Haupt als Beute mit sich fort und durchmißt die zarten Lüfte mit schwirrenden Flügeln. Und als der Sieger über Libyens Sand schwebte, fielen blutige Tropfen vom Gorgonenhaupt, der Boden nahm sie auf und belebte sie zu schillernden Schlangen. [620] Daher ist jenes Land mit vielen Nattern verseucht.
Von dort tragen ihn die feindlichen Brüder, die Winde, durch den unermeßlichen Raum, bald hierhin, bald dorthin, wie eine wasserführende Wolke. Vom hohen Himmel blickt er auf die weit entfernten Länder hinab und fliegt über die ganze Welt. [625] Dreimal hat er die eisigen Bären, dreimal die Scheren des Krebses gesehen, oft wurde er nach Westen, oft nach Osten getragen. Und als der Tag zur Neige ging, fürchtete Perseus, sich der Nacht anzuvertrauen. So machte er am westlichen Ende der Welt im Reich des Atlas halt und suchte eine kurze Ruhepause, bis der Morgenstern die Glut [630] der Morgenröte hervorlocken würde und die Morgenröte den Wagen des Tagesgestirns. Hier wohnte der Sohn des Iapetus, Atlas, der alle Menschen an gewaltiger Körpergröße übertraf. Der Rand der Welt stand unter seinem Zepter und das Meer, das mit seiner Fläche die keuchenden Sonnenrosse auffängt und die heißgelaufenen Achsen aufnimmt. [635] Tausend Schafherden und ebenso viele Rinder streiften auf seinen Wiesen umher, und sein Grund und Boden wurde durch keine Nachbarschaft beengt. Auf den Bäumen bedeckte von gleißendem Golde schimmerndes Laub goldene Zweige und goldene Äpfel. »Fremdling«, sprach Perseus zu ihm, »wenn dir der Ruhm eines großen Geschlechtes etwas bedeutet, [640] so wisse: Iuppiter ist mein Stammvater. Bist du aber ein Bewunderer von Heldentaten, wirst du die meinen bewundern. Ich bitte um Gastfreundschaft und ein Nachtlager.« Atlas aber hatte einen alten Orakelspruch im Gedächtnis. Am Parnaß hatte Themis ihm folgenden Bescheid gegeben: »Es wird die Zeit kommen, Atlas, da dein Baum des Goldes beraubt wird, [645] und Iuppiters Sohn wird sich dieser Beute rühmen dürfen.« Aus Angst davor hatte Atlas seinen Obstgarten mit einer lückenlosen Bergkette umschlossen und von einem riesigen Drachen bewachen lassen und hielt alle Fremden von seinem Gebiet fern. So sprach er auch zu diesem: »Geh weit fort, damit der Taten Ruhm, [650] von dem du faselst, und Iuppiter dich nicht im Stiche lassen.« Auf die Drohungen läßt er Gewalt folgen und versucht, Perseus mit den Händen zu vertreiben, während dieser noch zögert und sanfte Worte mit mutigen mischt. Da er ihm an Stärke unterlegen ist – denn wer könnte dem starken Atlas gewachsen sein? –, spricht er: »Weil dir nichts an meiner Freundschaft liegt, [655] empfange ein Geschenk.« Und von links holte er das von Schlangen starrende Haupt der Meduse hervor, während er selbst sich zurückwandte. Groß, wie er war, wurde Atlas zum Berg: Bart und Haare wachsen sich zu Wäldern aus; Schultern und Arme bilden Bergjoche; was vorher das Haupt war, ist jetzt der Gipfel; [660] die Knochen werden zu Stein. Dann wuchs er nach allen Richtungen ins Unermeßliche – so habt ihr, Götter, es bestimmt –, und der ganze Himmel mit all seinen Gestirnen ruhte auf ihm.
Perseus und Andromeda
Verschlossen hatte Hippotes’ Sohn die Winde im ewigen Kerker, und der Morgenstern, der zum Tagewerk mahnt, war hoch am Himmel herrlich leuchtend aufgegangen. [665] Da greift Perseus wieder zu den Federn, bindet sie rechts und links an die Füße, schnallt sein gebogenes Schwert um und eilt auf hurtigen Flügelsohlen durch die klare Luft dahin. Nachdem er zahllose Völker, die ringsum in der Tiefe wohnen, hinter sich gelassen hat, erblickt er die aethiopischen Stämme und das Gebiet des Cepheus. [670] Dort hatte der ungerechte Ammon Andromeda unverdient für die Reden ihrer Mutter büßen lassen. Sobald der Urenkel des Abas ihre Arme an die harten Felsen gefesselt sah – hätte nicht ein leichtes Lüftchen ihr Haar bewegt und ihr Auge heiße Tränen vergossen, [675] hätte er sie für ein Marmorbild gehalten –, ergreift ihn unbemerkt die Liebesglut. Er staunt. Hingerissen vom Anblick der schönen Gestalt, hätte er beinahe vergessen, in der Luft mit den Flügeln zu schlagen. Kaum stand er auf festem Boden, sprach er: »Du verdienst nicht diese Ketten, sondern diejenigen, mit denen sich sehnsüchtig Liebende verbinden. [680] Verrate mir auf meine Frage den Namen deines Landes und den deinen und warum du gefesselt bist.« Zuerst schweigt sie und wagt als Jungfrau nicht, mit einem Mann zu sprechen. Die Hände hätte sie sich schamhaft vors Gesicht gehalten, wäre sie nicht gefesselt gewesen; doch die Augen ließ sie von hervorstürzenden Tränen überfließen – denn das war ihr noch möglich. [685] Da er immer inständiger in sie dringt, will sie nicht den Eindruck erwecken, sie habe ein eigenes Vergehen zu verbergen, nennt ihm den Namen ihres Landes und den ihren und berichtet, wie stolz ihre Mutter auf ihre Schönheit war. Doch noch ehe alles erzählt war, rauschte das Wasser auf. Vom unermeßlichen Meer kommt ein bedrohliches Untier [690] und nimmt mit seiner Brust die weite Meeresfläche ein.
Das Mädchen schreit auf, der trauernde Vater und die Mutter stehen dabei, beide unglücklich, doch sie hat es mehr verdient; keine Hilfe bringen sie mit, nur Tränen und Klagerufe, wie sie dem Augenblick entsprechen, und klammern sich an die Gefesselte. [695] Da spricht der Fremde: »Zum Weinen werdet ihr noch lange Zeit haben; doch kurz ist die Frist, um Hilfe zu bringen. Würbe ich um sie, ich, Perseus, der Sohn Iuppiters und der Danae, die er in ihrem Verlies mit fruchtbarem Golde schwängerte, Perseus, der Überwinder der schlangenhaarigen Gorgo, [700] der auf flatternden Flügeln durch die ätherischen Lüfte zu wandern wagte – würbe ich um sie, so würde ich gewiß allen anderen als Schwiegersohn vorgezogen werden. Ich versuche zu so vielen Gaben auch noch ein Verdienst hinzuzufügen, sofern mir nur die Götter hold sind. Dafür bedinge ich mir aus, daß sie, wenn meine Tapferkeit sie rettet, die Meine werde.« Sie nehmen die Bedingung an – wer hätte da gezögert? –, ja, sie flehen ihn an [705] und versprechen ihm obendrein das Königreich als Mitgift. Und siehe, wie ein schnelles Schiff mit dem Schnabel am Bug die Wasser durchfurcht, von den Armen in Schweiß gebadeter Männer vorangetrieben, so zerteilte das Untier die Wogen durch den Aufprall seiner Brust. Schon war es von den Felsen nur noch so weit entfernt, wie eine balearische Schleuder [710] ihr Blei durch den Himmel schießen kann, als sich plötzlich der Jüngling mit den Füßen vom Boden abstieß und hoch zu den Wolken emporstieg. Kaum ist auf dem Spiegel des Meeres der Schatten des Mannes sichtbar geworden, stürzt das wilde Tier sich wütend auf den Schatten; und wie wenn Iuppiters Adler eine Schlange, [715] die ihren blauen Rücken sonnt, auf freiem Felde gesehen hat, sie von hinten überrumpelt und, damit sie ihr mörderisches Maul nicht rückwärts wende, die gierigen Krallen in den schuppigen Nacken schlägt, so warf sich Perseus kopfüber in schnellem Flug durchs Leere, landete auf dem Rücken des Tieres und stieß dem Schnaubenden [720] das Schwert bis zum gekrümmten Haken in den rechten Bug. Schwer verwundet erhebt es sich bald in die Luft, bald verbirgt