Solo für Schneidermann. Joshua Cohen
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einen Einkaufszettel für eine Woche – hab vergessen, bei der Polizei auszusagen, dass Schneidermann, er buchstabierte seinen Namen in privaten Autogrammen, in Autogrammen, mit denen er bei mir oft sein Mittagessen bezahlte, da buchstabierte er Schneidermann in den meisten Fällen
$chneidermann, d. h. er ersetzte das S durch ein Dollarzeichen (wozu Schneidermann übrigens immer Thaler sagte, nach der ältesten Münzprägeanstalt des Westens in Joachimsthal, wo),
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oder,
und,
wie eine Scherbe, das zerschlagene Scheibchen einer alten Langspielplatte (irgendein Sänger and the Imperials schlitzten das Innenfutter einer Hosentasche auf),
Johnny Walker and the Imperials,
Lil’ Jimmy and the Beamers schlitzten das Innenfutter der Taschen seiner ziemlich groß aussehenden Jacke auf, die Schneidermann im an sein Gebäude angrenzenden Müllcontainergässchen gefunden und erlöst hatte, ohne sie aber zu waschen, eine Jacke, in der er, um genau zu sein, fünf Taschen hatte, und in einer davon steckte eine aus einer landesweit verkauften – und aus meiner Toilette im Grand gemopsten – Zeitschrift ausgeschnittene Liste, die die Namen und die Minderjährigkeit von achtundsechzig bekannten und nachgewiesenen Suiziden auflistete,
achtundsechzig Teenager, die das Leben eines Rockstars bis zum bitteren Ende nachgeahmt hatten: ein Schuss mit der Schrotflinte in die Schläfe nach einer dreifach tödlichen Dosis extrem reinen Heroins, und manche Leute versuchen immer noch nachzuweisen, dass es Mord war, und vielleicht war es das auch, aber wenn, spielt das überhaupt eine Rolle?, denn der anfängliche Grund – das erklärte Schneidermann mir immer wieder, darauf beharrte Schneidermann –, denn die anfängliche Ursache, sagte Schneidermann immer und tippte sich mit der ergrauten Zungen- an die Nasenspitze, ist weniger wichtig, hat nicht die praktische Bedeutung der dadurch ausgelösten Wirkung,
denn Gott ist nicht so wichtig wie dein Mitmensch, und – um der skelettartigen Idee ein bisschen Fleisch auf die Knochen zu schippen – die Geschichte ist nicht so wichtig wie die Gegenwart, die sie zerstört:
denn der I. Satz dieses vergangenen 20. Jahrhunderts ist so wenig anzuhören wie zu spielen, der I. Satz dieses vergangenen 20. Jahrhunderts sollte von seinem Komponisten nicht mal eine eigene Opuszahl erhalten, und wir alle wissen ja nur zu gut, wer der Komponist ist, dieser Artifex, dieser Pseudokünstler, dessen Potenzial oder Impotenz, dessen Talent oder Talentmangel, je nachdem auf welcher Seite man sich positioniert, bei den Achsenmächten oder den Alliierten, in der riesigen, technisch grauenerregenden oder einfach nur grauenhaft unpassenden Kadenz der Geschichte in der Jahrhundertmitte gipfelte,
einer improvisierten Geschichte, einer angepassten Aufzeichnung, die mich beinahe, aber nicht ganz gegen jegliche Romantik einnahm, meine geliebte Romantik – denn das müssen Sie verstehen: Wenn die Welt romantisch ist, ist die Kunst klassisch und umgekehrt, und Romantik und Kunst halten sich selbst jeweils für das Gegenteil, lesen Sie Ihren Nietzsche mit Sonnenbrillen, die für Sie nicht verschreibungspflichtig waren, wohl aber für Schneidermann:
der, obwohl er eine Brille dringend gebraucht hätte, Schneidermann, er besaß nie eine und trug auch keine, bis auf einmal die verspiegelte Panoramabrille, die er verschmäht hatte, und in den letzten ein oder zwei Jahren trug er bei den Matineefilmen eine Vergrößerungsbrille aus dem Drugstore,
Schneidermann, er hatte ein brillantes Gedächtnis, weil sein Sehvermögen so schauderhaft war, Schneidermann, er erinnerte sich an alle Vorläufer oder behauptete das jedenfalls, die Vorboten, und sah doch nichts kommen, blind für das Schwarzweiß,
und taub, kaum zu fassen, aber selektiv taub, was wir Musiker schon allein wegen der Trommelwirbel sein müssen,
dem Marsch ins Märchen,
nichtsahnend oder wie vor den Kopf geschlagen, glaube ich, von all diesen dürftigen und depperten Orchestrierungen, Zwischenspielen, Intermezzi und Ouvertüren der Weltgeschichte im improvisierten Stil:
ein einziger Egoist, der sein Solo auf dem Instrument der Menschheit spielte
oder drauflossägte? wie ein Zauberkünstler?
ein Solist, der alle Aufmerksamkeit an sich riss, sich weit über die anderen stellte, im Stil einer Improvisation mit uns allen spielte und nicht nur das: er improvisierte wirklich,
erfand,
spielte aus dem Stegreif und mit allen Wendungen: Zusammentreiben, Deportation, Selektion, Invasion, Okkupation, Massenmord und so weiter und so fort weit nach Polen hinein,
ein Mann, der von der eigenen Bedeutung erfüllt war, eine kleine Ewigkeit lang mit unausstehlicher Verve die Weltgeschichte improvisierte, mit einem unglaublichen, beneidenswerten technischen Apparat, Virtuosität bis zum Überdruss, ein solcher Überfluss an Brillanz, dass das Verhängnis seinen Lauf nahm – denn haben Sie nicht das Gefühl, nicht Sie, antworten Sie nicht, dass manche Epochen, manche Zeitalter spontan zusammengeschustert werden? extemporiert und man wird nur noch benutzt, gekrümmt, verbogen? wir, ich und Schneidermann, waren hohe Noten in Hitlers Improvisationen,
in der Geschichtskadenz eines Europäers, in dessen weltweitem Konzert die verwegenen oberen Spektren der obersten Tessitur – obwohl Schneidermann, er ist in den Lagern gewesen, ist durch alle Lager gekommen, Lager für Lager für Lager für Lager, und ich, ich bin durch Amsterdam und London gekommen, habe letztlich nichts durchgemacht,
während Schneidermann in neuneinhalb Höllen hinabfuhr, begleitet nicht von Zugtrompeten oder Ventilposaunen (b-Moll), sondern nur von seiner blechern klingenden Damalsfrau und ihren Damalstöchtern; fuhr ich nur mit meinem sterbenden Vater – der nicht mal mein Vater hätte sein sollen – in diese Welt hinab, die wir Amerika nennen, ja, in den 1950ern landete ich im Fegefeuer mit all seinen Annehmlichkeiten, während Schneidermann die totale europäische Bildung zu spüren bekam; ich sammelte und speicherte nur, was ich konnte, während mein Vater, er,
seit ich drei war, brachte mein Vater und nicht mein Schneidermann mich von der Stunde nach Hause zur nächsten Stunde und nach Hause zur nächsten Stunde und nach Hause, und seit ich sieben war, seit meinem halb- oder viertelöffentlichen Konzertdebüt in Budapest, wo ich im Kasino der Leopoldstadt für meinen musikalischen Vetter Ziggi einsprang und dafür eine Gage von zehn Goldstücken zu je zehn Kronen bekam (fünf gingen an Ziggi),
wurde ich von zu Hause zur Stunde zum Konzert nach Hause zur nächsten Stunde und zum nächsten Konzert und nach Hause und wieder zur Stunde und zum Konzert geschleppt und fand daher nie die Zeit – nicht einmal während der Reisen, nicht einmal während meiner späteren Wanderjahre als Virtuose, neben