Solo für Schneidermann. Joshua Cohen

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Solo für Schneidermann - Joshua  Cohen


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an der Decke,

      stell mich auf den Flügel aus Eis

      und warte darauf, dass der Sommer mir das Geschlecht abreißt.

      Schneidermann zu mir: Hast du den Direktor gefragt, ob du mein Schüler werden kannst?

      Schneidermann zu mir: Die Akademie, sie hat mir seit einem Monat kein Gehalt gezahlt.

      Schneidermann, er war mein erster Lehrer. Schneidermann, er war mein einziger Lehrer. Schneidermann, sein erster Lehrer hieß ebenfalls Schneidermann, zufälligerweise sein Vater, ein bis zu seinem Tode unbekannter Pianist und danach erst recht, und Schneidermann der Jüngere wurde von der Kompositionslehre und den neun Schwestern seines Vaters adoptiert, den neun – kümmerlichen, bürgerlichen – musikalischen Tanten, die ihn ab dem fünften Lebensjahr aufzogen,

      ab dem siebten Lebensjahr,

      ab dem zehnten,

      dem zwölften,

      auch Musen und, ja,

      ja, ich unterstelle Inzest nicht von Krafft-Ebings idealisierter Art, sondern schmutzige, schmutzige, schmutzige Ursprünge dieses Mystagogen (eines seiner Lieblingswörter, Schneidermann, er verbrachte viel Zeit über dem M im Webster’s: Matrizid, Millionär, Moderne),

      dieser kunstvolle Mann, dessen Kunst nie versiegte,

      dieser synoptische Mann und seine synoptische Kunstreligion: eine Art Gesamtkunstwerk des Lebens mit großem deutschem L angesichts aller Widerstände, versuchtem Genozid, Armut, die ganze heimatlos-Nummer – wie bist du heute Abend denn drauf, Fremdzüngiger?

      In der Zeit, als ich heran- und aus dem Jiddischen herauswuchs und lernen musste, grammatikkonformes Ungarisch zu sprechen, meine Ausdrucksweise, mein Verständnis und meine Formulierungskunst im Ungarischen zu vervollkommnen (was nie gelang), ich halte ja Ungarisch für die schwierigste aller Sprachen außerhalb von Afrika, Fernost und der Musik sowie abgesehen von der Sprache der Frauen meiner neuen Heimatstadt oder den Heimatstädten Buda und Pest (alle Männer, die ich kennenlernte, sprachen Deutsch mit mir, da ich Ausländer, Musiker und Genie war),

      aber die Frauen, o die Frauen! die akzeptierten entweder die Anträge, Andeutungen und Anspielungen oder beanstandeten die Vorstöße, die Stimmung und das Grabschen, und all das auf Ungarisch, und erst nach meinem ersten Studienjahr am Budapester Konservatorium verfügte ich über ein ausreichend nuanciertes Ungarisch, um die Zwischentöne dieser dunkeläugigen, dunkelhaarigen, mondhäutigen Frauen zu verstehen, die eigentlich noch Mädchen waren und entweder einfach Ja sagten (IGEN),

      einfach Nein sagten (NEM),

      oder aber Ja sagten und Nein meinten (was nur für Frustration sorgte: erst aufgeilen, dann abseilen),

      oder ob ihr Nein letztlich ein Ja meinte,

      ein Bitte (KÉREM)

      oder aber ein Bitte-mach-es-mir-jetzt-gegen-dieses-schmiedeeiserne-Geländer,

      allem Anschein der humanistischen Hemisphäre zum Trotz, in der wir leben, möchte ich das behaupten – und dann brachte ich sie in ihre Unterkünfte zurück oder in einen leeren, klavierlosen Übungsraum der Musikakademie und besorgte es ihnen, besorgte es ihnen nach Strich und Faden, wie sie es damals nur zuließen, durchstach ihre Menses mit der langsamen Larghetto-Regelmäßigkeit eines Metronoms, und sie stöhnten in Es, ob nun Dur oder Moll, eine bloße Tatsache, auf mein Zimmer konnte ich sie nun mal nicht mitnehmen, denn das teilte ich mir mit einem Cousin

      (Juden haben ganz wie Afroamerikaner überall Cousins, ist mir aufgefallen), ein entfernter, fast schon shvartzer Cousin, den wir alle Ziggi nannten als Koseform von Zigeuner, der auch gern wie einer gespielt hätte, aber völlig hoffnungslos war, nur wie Nero vor den Aschen des Holocaust fiedelte, den er wahrscheinlich begrüßte, weil er ihn zumindest insgeheim erleichterte,

      denn Ziggi übte vergebens den ganzen Tag lang Geige, wurde aber nur von weiteren Schwächen belohnt und hatte immer mehr Schulden beim Leben, das wir in unserem nicht einmal spartanischen Zimmer in der Pension eines korpulenten schwäbischen Zahnarzts verbrachten, der ebenfalls als Musiker dilettierte und bei dem ich eigentlich debütierte, mit Schubert auf einer Pappscheibe, ein Mann namens Schoeller oder Schnoeller, genau weiß ich’s nicht mehr, mit buschigem Schnurrbart, und zwischen den beiden, zwischen Ziggi und dem Schwaben konnte ich alle Hoffnungen begraben, je eine willige Frau oder ein Mädchen nach Hause mitzubringen, aber ich weiß noch, dass Ziggi,

      der von der Asexualität weit entfernt war, so weit wie zu Fuß von Minsk nach Pinsk oder von Omsk nach Tomsk, wie Schneidermann immer sagte, einfach unbefriedigt, ja:

      Ziggi studierte immer diverse Bilder, Illustrationen und Fotografien, von Brüsten, von Mammae verschiedenster Form und Größe, variabelster Varietäten, um’s mal so zu sagen, wahrscheinlich um sich ein Bild davon zu machen, was ihm ästhetisch gefiel und wonach er im richtigen Leben trachtete, Ziggi hortete diese Bilder, bezog sie über einen Antiquar sowie – seltsamerweise – über eine nach außen ganz respektable Tierhandlung, gab dafür sein ganzes Geld aus, so dass seine Eltern ihm monatlich immer mehr schicken oder wie Marionetten drahten mussten, wobei Ziggi ihnen schwor, das ginge alles für Partituren und für Geigensaiten drauf, von denen ihm durch all die Emotionen, Frustrationen und die aufgestauten Aggressionen, die beim Üben kein Ventil fanden, im Lauf eines Monats so viele rissen,

      neun Monate lang hausten wir zusammen unter dem Dach des Schwaben, auf dem Speicher, in einer Mansarde, muss ich zugeben, zwei schmale Betten an gegenüberliegenden Wänden der Kammer, seines allerdings unter dem Fenster, weil er zwar als Zweiter einzog, ich aber immer rücksichtsvoll war, mich zurücknahm oder Mitleid mit seinem – angesichts unserer Verwandtschaft – skandalösen Talentmangel hatte, aber das hielt ihn nicht von seinem gesunden Schlaf ab,

      vielleicht förderte es den sogar, aber ich jedenfalls nie,

      ich meine, mir half das nie,

      ich konnte noch nie gut schlafen, bin schon immer aufgewacht, wenn es noch dunkel war,

      stygisch (Schneidermann, er mochte das Wort),

      umbrisch auch, aber Ziggi rührte sich nie im Schlaf, obwohl er auch nicht wie eine Leiche dalag:

      er schlief tief und fest, als hätte er nach den fruchtlosen Strapazen des Tages Erholung verdient,

      sein Hals schlief (meiner zeigte immer zehnfach manisch verspannte Sehnen),

      seine Schultern schliefen, während meine ständig zuckten,

      seine Zehen schliefen, während meine schleierlos tanzten, neun verschiedene Mazurken in elf verschiedenen Taktangaben,

      während ich so wach wie ruhelos war, und es gab da diese, sagen wir mal, Tradition, meine eigene, die bestand darin, dass ich die Bilder studierte, die Sammlung meines entfernten, dunklen Cousins, die er mir schon bald, nach fünf, sechs Monaten vermachte, besser gesagt vergaß er sie einfach, vergaß seine ganze frühere Fetisch-Manie, und ich stahl ihm einfach das ganze Geheimdepot, als er, als sich Ziggi als Freundin eine schwindsüchtige Christin angeschafft hatte, die eine taubstumme Mutter mitbrachte und mammale Eigenschaften, also die Freundin jetzt, die seinen genauen Spezifikationen entsprachen, wie wir mal hoffen wollen.

      Wenn ich sie unter meiner Matratze hervorzog, die Bilder, sie waren Lücken, Leeren oder Löcher in der dunklen Luft, Umrisse der Nichtigkeit – alles andere im Zimmer hatte eine Gestalt, brachte Form mit, Ziggis Kleidung etwa, sein Ziggi-Anzug,

      die Ziggi-Gabardine,

      die Ziggi-Unterwäsche mit Fleckenspuren von Ziggi

      und seine Socken, die über Doktor Schnöllers oder Schöllers darbende Möbel drapiert waren, da ich kein Licht anknipste,

      das hätte Ziggi geweckt, und Ziggi hätte gesehen, wie ich seine Bilder anschaute, seine Bilder, meine Bilder,

      nicht dass Ziggi das nicht gewusst hätte, er wusste natürlich alles über die Bilder, aber vielleicht wusste er nicht, dass er das wusste, oder gab sich selbst – mir selbst – gegenüber zumindest nicht zu, dass ich sie gestohlen hatte,

      denn


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