Solo für Schneidermann. Joshua Cohen

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Solo für Schneidermann - Joshua  Cohen


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sie stangenweise hortete (nicht darüber hinwegkam, dass die Fabrik sie im amerikanischen Jahrhundert für ihn drehte, und den Tagen der Selbstgedrehten nachtrauerte; ein Probenklavier ruinierte er, indem er losen Tabak in die Zwischenräume der Tasten rieseln ließ),

      stangenweise hortete er osteuropäische, nachrömische Zigaretten, viel billiger als das, was man hier bekommt, zumal jetzt, wo die Steuern ein Luxus sind, den sich ein Schneidermann einfach nie leisten wollte oder konnte, selbst die Portokosten eingerechnet, die Schneidermann ihnen aber sowieso nie erstattete, Zigaretten, die immer nur als eine einzelne Stange geschickt wurden, um Zoll zu sparen, den Einfuhrtribut zu umfahren – auf Halde gestapelt wie für die Apokalypse oder zumindest globale Tabakwarenengpässe und gehortet in seinem Zimmer (das immer ein Engpass war, Slim Fit, 5,40 × 5,40 in seiner Wohnung, die Schneidermann immer seine flat nannte),

      Schneidermann, er wagte sich weiterhin unweigerlich täglich hinaus zum Eckladen, Kiosk sage ich (Schneidermann, er sagte immer Trafik),

      zum Laden an der Ecke, um sich ein frisches, neues, glänzendes Päckchen LUCKYS oder MARLBOROs zu holen, die Teuren, die ihn letztendlich nicht umbringen würden, denn nichts konnte ihn umbringen, letzten Endes, das nie kam,

      ein weniger finales Ende – allerdings handelte er sich mit ihnen gravierende maxillofaziale und Nebenhöhlenprobleme ein, gegen Ende, das kein Ende war, Schwierigkeiten mit den oberen Atemwegen (der Halbdollar in der Lunge),

      und am Ende, wenn auch nicht seinem,

      hatte er das Vergnügen, genauso ernsthafte Pillen einzuwerfen:

      gegen das Emphysem, von meinem Arzt verschrieben, PREDNISON, alles auf Rezept für mich – da Schneidermann zu Fehldiagnosen und Fehlselbstdiagnosen neigte, von der Dosierung bis zur Überdosierung und jeden einzelnen gottverfluchten Tag für Tag für Tag kleine grüne Eifersuchtspillen schluckte (meine Ärzte erinnern sich garantiert noch alle daran, wie ich nachts an Schlaflosigkeit litt und sie wegen ausgefallenster Symptome aus dem Bett klingelte),

      mittelgroße Antiverstopfungstabletten,

      große Pferdetabletten, wie eine Arche im Wasserglas – Schneidermann, er definierte sich liebend gern in der Enzyklopädie der Medizin, dem Merck Manual:

      Schneider, C.V. – deutscher Anatom (1614–80), Entdecker der Schneider-Membran,

      Schneider, F.C. – deutscher Chemiker (1813–97), Erfinder der Karminessigsäure,

      Schneidermembran, auch Membrana Schneideria, die Auskleidung der Kieferhöhle mit dem respiratorischen Epithel, erstmals beschrieben von C.V. Schneider, dem deutschen Anatom des 17. Jahrhunderts,

      Symptome ersten Ranges nach Schneider – Symptome, die auf Schizophrenie hindeuten, sofern andere Ursachen wie organische Erkrankungen oder die Einnahme toxischer Substanzen ausgeschlossen sind: Beeinflussungswahn, Gedankenausbreitung, Gedankenentzug, Gedankeneingebung, Gedankenunterbrechung, Wahnwahrnehmungen, Gedankenlautwerden, akustische Halluzinationen, die das eigene Verhalten kommentieren, akustische Halluzinationen von Stimmen, die ein Gespräch führen, und so weiter,

      Schneidersitz – eine typische Sitzhaltung, bei der die Oberschenkel gegrätscht und Unterschenkel bzw. Füße (»im Indianerstil«) über Kreuz darübergelegt werden, zu beobachten bei Patienten mit ausgeprägter Phenylketonurie und (in Deutschland) für gewöhnlich bei arbeitenden Schneidern zu sehen,

      mit der Brille auf der Nase nur, wenn er (immer am Lesen), wenn Schneidermann und ich in die Matineefilme gingen und erst in den letzten Jahren und nicht mal mit seiner richtigen Brille,

      nur ein Paar Vergrößerungs- und Vervollkommnungsgläser mit UV-Schutz, die Schneidermann mal, unterwegs zu einem Matineefilm, in einem Drugstore aus dem Regal geklaut hatte – ging das Licht aus, kamen die Gläser raus, Schneidermann, er legte Wert auf Werbung und Trailer, Schneidermann, er holte die Brille raus:

      riesige, bernsteinfarbengetönte, gedankenrunde Hemisphären, die ihm ein seltsames Aussehen gaben,

      professoral, ja, aber schmierig professoral, schleimig, oberlippenschweißig.

      Nicht dass er je gelehrt hätte. Er ging immer nur mit seinem Beispiel voran.

      Schneidermann zu mir: Pianisten machen bei Aufführungen Krach.

      Schneidermann zu mir: Pianisten machen beim Aufnehmen Krach.

      Schneidermann zu mir: Sie haben nicht die Disziplin, ruhig zu bleiben.

      Schneidermann zu mir: Keiner von denen, ausnahmslos.

      Schneidermann zu mir: Herrgott! (und dann kam Schneidermann, der Gould nicht mochte, ihm aber – wenn auch grummelnd – immer höchsten Respekt zollte,

      kam oft, wenn wir, wenn Schneidermann, der nur selten fachsimpelte, über Pianisten sprach, immer und sofort auf Richters Anschlag zu sprechen, auf die Richterskala von Richters Anschlag, und auf den ganzen Schmonzes darüber, dass Richter in den Achtzigern, als er selber siebzig Jahre und ein paar Zerquetschte war, uns hasste, mich hasste und Sie und alles, wofür wir stehen,

      alles, wofür Sie stehen, dass Richter einfach nur sagte, zum Teufel mit dem Westen und der ganzen wahnsinnig gewordenen Hemisphäre! wer braucht denn schon New York und sein Philharmonic Orchestra? Lieber spiele ich nur noch in Sibirien! als einer der größten Virtuosen der Welt bin ich überall gefragt und trotzdem immer ein aufrechter Bürger geblieben, meine Güte, hat Schneidermann – der sonst so wenig Naivität mitbrachte –, hat der ihn darum beneidet! um diese Haltung!

      dass Richter zum Westen nur Tut mir leid sagte und dann im Osten seine Pflicht erfüllte, One-Night-Stands am laufenden Meter in den heiligen Hallen von Orechowo-Sujewo, falls Ihnen das was sagt, in Petropawlowsk, Tschegdomyn und Zelinograd und wie)

      Schneidermann zu mir: Verzichte auf das Menschliche, und du hast eine vollkommene Musik, verzichte auf das Menschliche, und du hast keine Musik.

      Hör einen klanglosen geistlosen Ton, in dem Geist erklingt, den Schneidermann oft mit dem Herzen hörte,

      hör einen klanglosen geistlosen Klang des Geists, von dem Schneidermann mir mal vor seinem Späti erzählte, der von Arabern geführt wurde, die Schneidermann die ganze Woche über mit allem versorgten, was er brauchte, der rund um die Uhr geöffnete Araberladen, den Schneidermann mal als ARABERLADEN bezeichnete, mal als TAG- UND NACHTLADEN und mal einfach als den LADEN,

      Hör hin: Ein normaler Musiker hat zwölf Töne, aber ein normaler Pianist hat nur zehn Finger, und Schneidermann, er wollte immer wissen, warum,

      eine von diesen, wie sagt man, Fragen ohne Antwort, Schneidermann, er antwortete sich immer selbst, beispielsweise, warum wirbt der LADEN mit einem Klopapierausverkauf immer nur dann, wenn dem LADEN das Klopapier gerade ausgegangen ist?

      du hörst einen Interpreten, wo du nur einen Komponisten hören solltest, so Schneidermann, du hörst eine Interpretation, wo du eigentlich die Musik hören solltest, behauptete Schneidermann oft,

      lausch den virtuos Tüchtigen, und dann lausch den wahrhaft Kundigen, war Schneidermanns häufige Ermahnung, lausche dem Interpreten und dann lausche auf das Interpretierte, war seine häufige, wenngleich unerbetene, wenngleich nie unwillkommene Anweisung,

      hör also die Interpretation und hör dann das Interpretierte, darauf beschränkten sich Schneidermanns Anweisungen für mich,

      was mich an meine eigene Zeit als Dozent in der Uptown erinnert, an meine Schüler und ihre Schicksale, die jetzt untrennbar mit meinem verbunden sind,

      erinnert mich an den Skandal, den das Konservatorium aus der Presse heraushalten konnte, ein Paradebeispiel an Musiktratsch,

      Garderobenklatsch,

      den Inbegriff des Volksmärchens über angebliche Ereignisse hinter den Kulissen,

      das habe ich von meinem Exkollegen da aus dem Kaukasus gehört: ein annehmbarer Pianist, ein Jude, der all die Asiaten unterrichtet, diese Diplomaten- und Managerkinder und

      reiche junge Frauen, die en gros hierher verfrachtet werden,

      wie


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