Arkadien. Emmanuelle Bayamack-Tam
Читать онлайн книгу.freundlich, und ich kann nachvollziehen, dass man seine Freunde nicht verspeist, aber ein Huhn? Gott weiß, wie sehr ich Arkady liebe, doch wenn er auf die Kanzel steigt, um sich für die Tiere stark zu machen, verschwimmt alles vor meinen Augen, bekomme ich Ohrensausen, fliehe ich in Gedanken, renne meine Steilhänge hinunter, klettere die Bäume hoch, wälze mich im Gras mit seiner Glasur aus Herbstzeitlosen, warte darauf, dass dieses Wiederkäuen Claudelschen Unsinns ein Ende nimmt. Ja, Arkady, der zwar wenig liest, jedoch gern als Literaturkenner auftritt, hat Victor Hugo, Marguerite Porète und Paul Claudel zu seinen Lieblingsautoren erklärt und plündert sie im großen Stil, um seine verblasenen Predigten zu untermauern, anstatt sich auf seine eigenen Geistesgaben zu verlassen, so beachtlich diese sind – als weise seine herrliche Intelligenz einen blinden Fleck auf, einen toten Winkel, der sich seiner Vernunft entzieht und dafür wahnwitziger Tierliebe und der Verkündung von so absurden wie erniedrigenden Gaumenverboten Vorschub leistet.
Ich fordere alle auf, die gegen das Stopfen von Gänsen sind, eine halbe Stunde in deren Gesellschaft zu verbringen. Nach einigen Schnabelhieben werden sie vermutlich weniger Skrupel haben, sich ihre Foie gras schmecken zu lassen. Außerdem ist die Gans ein scheußliches Tier, mit ihren gelb umrandeten Augen, den schuppigen Füßen und diesem Hals, den sie streckt, als wollte sie einen Rekord brechen, den bisher Schwan oder Strauß halten – die ebenso hässlich und gemein sind. Zur Krönung des Ganzen gibt es in unserem Hühnerhof auch ein Pfauenpärchen. Das Weibchen mag ja noch angehen, das sich mit seinem unscheinbaren Gefieder nicht aufspielt, der Hahn ist dagegen unerträglich, mit seinen furchtbaren Schreien, dem vorgeschobenen Kropf und der aufbrausenden Entfaltung seines Prachtbürzels. Erwartungsgemäß hat Victor ihn zu seinem Totemtier gemacht: Als filigrane Figur ziert der Pfau seine Visitenkarten und sogar seinen Siegelring, ein Schmuckstück, das er als uraltes Erbstück zur Schau trägt, dabei hat er für dessen Fertigung verschiedene Ohrringe und sein Taufkettchen einschmelzen lassen. Aber zeichnet sich der Pfau nicht gerade durch seine Gefallsucht aus, ist er nicht, abgesehen von seinem dekorativen Aspekt, das unnütze Tier schlechthin?
Je mehr ich mit der Tierwelt zu tun habe, desto weniger verstehe ich, dass Arkady auf seine Vorherrschaft über niedere Wesen und auf die Möglichkeit ihrer größtmöglichen Ausbeutung verzichtet. Das äußere ich umso gelassener, als ich Tiere liebe und am glücklichsten bin, wenn ich einem Igel begegne, unverhofft auf ein Füchslein stoße oder auf einen Bussard mit wildem Blick. Und natürlich habe ich an unserer Meute von verkrüppelten Hunden und Katzen einen Narren gefressen. Denn das Liberty House nimmt nicht nur gesellschaftliche Außenseiter auf, es ist auch eine Zuflucht für Tiere, da Arkady und Victor ständig Laborkaninchen, Schafe, die für den Abdecker bestimmt sind, oder Kläffer, die man am Straßenrand ausgesetzt hat, retten. Unsere Hunde und Katzen werden selbstverständlich mit vegetarischen Kroketten gefüttert, wobei die Katzen sich ihren Anteil an tierischen Proteinen dadurch sichern, dass sie die Feldmäuse des Anwesens dezimieren, die sie zuvor ganz langsam bei lebendigem Leibe zerlegen. Und auch hier gilt: Man braucht nur etwas Zeit mit einer Katze zu verbringen, um zu erkennen, dass sie von allen Vivisektierern der grausamste und hemmungsloseste ist, ohnehin ist Grausamkeit in der Tierwelt, und der Mensch ist da natürlich inbegriffen, überaus verbreitet.
Bevor wir über die ungerechte Behandlung unserer tierischen Freunde Tränen vergießen, schlage ich allen eine Schnupperlehre im Dschungel vor, wohlwissend, dass der Dschungel gleich vor unserer Tür beginnt. In jedem Vorstadtgarten, auf jeder Grünfläche findet man ganze Populationen von kleinen Folterknechten im Feder- oder Fellkleid. Von Insekten gar nicht zu reden, die in der Universalgeschichte der Grausamkeit ein eigenes Kapitel verdienten. Jeder Garten ist zunächst ein Garten der Qualen, die anderen im Humus oder harmlosen Blätterrauschen verborgen bereitet werden. Und die Krustentiere stehen dem in nichts nach. Wenn Sie diese für ungefährlich halten, zu nichts anderem fähig als mit Mayonnaise garniert auf Ihrem Teller zu enden, dann haben Sie noch nicht von der Cymothoa exigua gehört, die nach und nach die Zunge des Wirtsfisches vertilgt, um dann ihren Platz einzunehmen, indem sie sich mit den Beinen am Stumpf festkrallt. Und was soll man zum Sackkrebs sagen, der seinen Sadismus bekanntlich an der Strandkrabbe auslebt, indem er, neben anderen Misshandlungen, deren Geschlechtsorgane umfunktioniert. Antispeziesisten wissen ja gar nicht, wie recht sie haben, wenn sie behaupten, das Schlimmste spiele sich im Meer ab, auch wenn sie dabei nur an den Schaden denken, den die Schleppnetzfischerei anrichtet, aber vollkommen außer Acht lassen, was die Meerestiere sich gegenseitig antun. Und so kann Arkady sich noch so lang und breit über das beeindruckende Gehirn der Kopffüßer auslassen oder über die Solidarität unter Affen, mir ist das völlig schnuppe: Ich weiß nun mal Bescheid und werde auch künftig meinen Cheeseburger essen, im Gegensatz zu den Mitgliedern meiner erweiterten Familie und ohne dass sie es merken, da ich jeden Tag mit der ehrlichen Miene und dem matten Blick eines waschechten Vegetariers heimkomme – denn ich bin eine Schlange, was in unserem Eden einiges heißen will. Was soll’s. Ich stehe zu meinen Schandtaten, meinen Eidbrüchen und deren Verschleierung, wenn das die Voraussetzung sein soll für ein halbwegs friedliches Dasein an diesem Ort, den mein Umfeld beharrlich als Garten der Lüste betrachtet, und zwar aus purer Unfähigkeit heraus, die Seiten voller Mord und Blut zu lesen, die dort Tag für Tag geschrieben werden.
Als ich hier ankam, teilte ich die irrationalen Ängste meiner Eltern, doch mit den Jahren haben meine eigenen die ihren verdrängt. Bald bin ich fünfzehn, mit irgendwelchen Weichmachern oder elektromagnetischen Strahlen kann man mir keinen Schrecken mehr einjagen. Es liegt mir fern, deren schädliche Wirkung abzustreiten, doch in Wahrheit beunruhigt mich das, was der Mensch dem Menschen antut, weitaus mehr als Umwelthormone und krebserregende Substanzen. Wenn man schon eine Todesursache braucht, wäre mir eine lange Krankheit lieber als die Kugel einer Kalaschnikow: Bei einer langen Krankheit hätte ich Zeit, die Dinge auf mich zukommen zu lassen, Zeit, mich an den Gedanken zu gewöhnen, Zeit, die Freunde auszuwählen, die ich um mich scharen, und den Ort, an dem ich den Tod erwarten würde – tief im Herzen meines Reichs kenne ich eine Schlucht, nein, keine richtige Schlucht, nur eine kleine Bodensenkung, mit weichem Gras ausgelegt und von einem Nussbaumwäldchen umschlossen, die sich dafür perfekt eignet. Vorausgesetzt, ich sterbe nicht vorher, von einer Maschinengewehrsalve oder der Explosion einer Apexbombe dahingerafft. So unwahrscheinlich ein gewaltsamer Tod in meinem Fall auch ist, denke ich unwillkürlich an ihn, sobald ich die Umfassungsmauer des Liberty House hinter mir lasse, die im Fall einer Invasion zwar nichts Abschreckendes an sich hätte, aber sehr anschaulich macht, was uns von all jenen trennt, die sich nicht für den Weg der Weisheit in sieben Stufen entschieden haben.
Was uns trennt, wird mir an jedem Werktag aufs Butterbrot geschmiert. Ich brauche nur in den Bus zu steigen, der die Schulkinder einsammelt, entlang eines Flusses, dessen Namen ich nicht nennen werde. Obwohl ich mich immer vorne hinsetze und meine Stirn an die Scheibe presse, heimse ich binnen einer halben Stunde so viele blöde oder beleidigende Bemerkungen ein, dass es für ein ganzes Leben reichen dürfte. Nicht, dass sich diese Bemerkungen gegen mich richten – gegen mich oder sonst jemanden. Sie werden geradezu mechanisch unter den Gymnasiasten gewechselt, und alles andere passt dazu: das Gegrinse, das Spucken, die Steppjacken mit den Kapuzen aus Webpelz, die Rucksäcke mit demselben schwarz-roten Logo, bei allen dieselbe Hässlichkeit, nur ich habe meine eigene. Es geht gar nicht darum, dass ich jeden Morgen aufs Neue von der Grobheit und Engstirnigkeit meiner Altersgenossen eingeholt werde: Wenn ich nur meine Schulzeit aushalten müsste, würde ich mich damit abfinden, vor allem, weil sie bald vorbei ist. Nein, mich beunruhigt, dass ich bei den Erwachsenen genauso wenig Güte spüre wie bei den Kindern – von den Jugendlichen gar nicht zu reden, denen Boshaftigkeit zur zweiten Natur wird. Außerhalb meiner kleinen geheimen Bruderschaft haben die Menschen keine Lust, gut zu sein, sie denken auch nicht daran, besser zu werden, nach Höherem zu streben, sich zu bilden. Mit ihrer krassen Ignoranz kommen sie sehr gut zurecht. Und wenn sie die Gelegenheit bekommen, auf mich zu schießen, werden sie es tun. Dafür braucht es keinen Grund: Wahnsinn reicht. In der Außenwelt heißt es alle gegen alle und jeder für sich – nein, nicht einmal das: Jeder tötet zunächst sein Inneres ab, denn man muss gestorben sein, ehe man in den Krieg zieht.
Letztlich hat mich meine Erziehung weder darauf vorbereitet, Gewalt zu verstehen, noch darauf, sie zu erleiden – und erst recht nicht, sie anzuwenden. Um sich auf dem Gebiet der Barbarei auszukennen, genügt es nicht zu beobachten,