So große Gefühle!. Anselm Grün

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So große Gefühle! - Anselm Grün


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mit DIN-genormtem Spielmaterial. Die Natur bot so vieles! Die Räume hier musste man sich erst erobern, Erwachsene waren ausgeschlossen. Man blieb unter sich und seinesgleichen! Was für ein Glück!

      Da existierte eine Kinderrepublik. Das war kein Ort von basisdemokratischer Glückseligkeit, da ging es auch oft zur Sache. Und trotzdem machte man sich jeden Tag nach dorthin auf, weil man wusste, wer da war und woran man war. Da gab es Regeln, die man selbst schuf – manchmal nicht unbedingt fair und sozial verträglich. Aber man hatte einen Raum für sich.

      Heute gibt es natürlich auch noch die Natur, aber jetzt sitzt hinter jedem Busch (meist) eine Mutter. Und wenn das Gedränge dahinter irgendwann zu groß wird, werden die Büsche abgeholzt – Blick frei auf die ungezügelten Kinder.

      Auch auf Sportplätzen geht es ja mittlerweile zu wie im Affenzoo. Dort sitzen die kleinen Affen in ihren Käfigen – auf dem Fußballplatz oder in der Turnhalle – und schauen sich die Besucher an, die sie anglotzen. Und damit Stimmung und Bewegung aufkommt, werden die Äffchen von ihren Mamas und Papas mit Bananen gefüttert.

      Auf Spielplätzen gibt es keine Früchte, dafür aber Ratschläge bei unbotmäßigem Verhalten. »Jonathan, bitte hör auf!« Oder: »Julius! Julius, müssen wir gehen?« Oder: »Benedikt, was haben wir abgesprochen?« Sollten die Kinder auf diese Weise stillgelegt sein, geht das Gedröhn der Eltern draußen weiter, was man alles für die Kinder tue. Hochleistungspädagogik pur! Und da soll Freude aufkommen?

      KINDER WOLLEN SICH SPÜREN

      Kinder wollen aber mal für sich sein, möchten unbeobachtet und nur für sich »mal die Sau rauslassen«, ohne dass ihr Verhalten kommentiert oder bewertet wird. Manches Mal gewinnt man den Eindruck, die Mädchen und Jungen benötigten gegenwärtig eine ungeheure Kraft, den Raum und die Zeit ihrer Kindheit gegen ständig anglotzende Erwachsene zu verteidigen.

      Kinder brauchen Räume, die sie erobern, die ihnen gehören und für ihre Vorhaben geeignet sind. Im Lied vom »Hänschen klein« heißt es in der zweiten Zeile: »Hänschen klein ging allein!« Welch revolutionärer Satz, der die Bedürfnisse eines Kindes nach körperlicher Tätigkeit spiegelt: Hänschen geht, es wird nicht gefahren, Hänschen (die Hanna natürlich auch) erprobt sich und seinen Körper. Dazu braucht es Wege, die sich im Winter anders anfühlen als im Herbst und im Frühling anders als im Sommer. Was es dazu braucht, ist angemessene Kleidung. Mehr nicht! Und Freunde und Freundinnen, die es begleiten.

      Wer Wege geht, Räume erkundet, der gebraucht seinen Körper, der fordert ihn. Nun gibt es tatsächlich auch Wege, die Risiken bergen. Aber mit dem Hinweis auf mögliche Gefahren werden kindliche Körper stillgelegt, entkörperlicht man Erfahrungen, lässt glückhafte Flow-Erlebnisse des sich selbst Erlebens nicht mehr zu. Ein Kind liebt – egal ob Junge oder Mädchen – das Rangeln, das Raufen, das Um-die-Wette-Rennen, weil es ihm und seinem Körper guttut. Wer die körperliche SELBSTERFAHRUNG seines Kindes nicht fordert, nimmt ihm wichtige, für seine gesunde Entwicklung unentbehrliche Erlebnisse.

       FALLGESCHICHTE

      Veronika, eine Erzieherin, berichtete von einer Erfahrung der besonderen Art: Die fünfjährige Anna hatte einen sehr eng getakteten Tagesablauf, in dem Bewegung eher am Rande vorkam. Deshalb liebte sie zwei Dinge im Kindergarten besonders: »Das Rennen und das Toben mit mir und den anderen Kindern! Sie konnte davon nicht genug kriegen!« Und sie habe sie auch gelassen. Sie hätte ihre Freude daran gehabt und ihre Augen hätten danach jedes Mal vor Zufriedenheit gestrahlt. So weit, so gut. Bis eines Tages Annas Mutter mit bitterbösem Blick auf Veronika zukam und um ein Gespräch bat. Sie wolle nicht mehr, so eröffnete sie mit gestrenger Miene und einem noch gestrengeren Stimmklang, dass Anna im Kindergarten so viel tobe. Als Veronika irritiert schaute und nachhakte, warum die Mutter das unterbinden wolle, lautete die Antwort wie aus der Pistole geschossen: »Weil Anna dann so viel schwitzt!« Veronika wäre perplex gewesen und hätte nur ein irritiertes »Wie bitte?« murmeln können. Dann habe Annas Mutter sie – von oben herab – angelächelt und ganz cool gemeint: »Nicht, dass wir uns falsch verstehen: Meine Anna darf natürlich schwitzen!« Das Kind würde jede Woche zum Ballett gehen: »Da schwitzt sie dann richtig!« Veronika wäre der Kinnladen heruntergefallen, als sie das vernahm: »So etwas hatte mir noch niemand gesagt! Ich konnte erst mal nichts erwidern!«

      Aber sie sei ja nicht unbedingt auf den Mund gefallen und als sie ihre Fassung wiedergefunden hatte, habe sie lächelnd gemeint: »Das ist für mich heute ein besonderer Tag!« »Wieso denn das?«, wollte Annas Mutter wissen. Veronika: »Heute habe ich gelernt, dass es ein pädagogisch wertvolles und ein anarchistisches Schwitzen gibt!« Nun habe Annas Mutter merkwürdig dreingeschaut, als wolle sie ausdrücken, was denn diese Bemerkung nun solle: »Und wissen Sie, was ich mehr mag?« Ohne eine Antwort abzuwarten, setzte Veronika noch einen drauf: »Das Anarchistische, weil es so streng riecht!« Denn alle Kinder wären nach dem Toben reif für eine Dusche gewesen … Die Mutter hätte sich kopfschüttelnd abgewendet und habe nie mehr mit ihr geredet.

      Man kann über diese Situation lachen oder auch den Kopf schütteln. Wer die Räume eng macht, so weiß jeder Fußballtrainer, macht es dem Gegner schwer, sein Spiel aufzuziehen. Wer die Spielräume der Kinder einengt, wer sie ständig mit wertenden Augen beobachtet und klassifiziert, beengt Kinder in ihrer Entwicklung und verhindert Gefühle von Glück und Ausgelassenheit.

      Vergleicht mich nicht immer!

      Wer viel beobachtet, kommt dazu, sein Kind mit anderen zu vergleichen – und wird ihm so nicht gerecht. »Vergleiche nie ein Kind mit einem anderen, es sei denn mit sich selbst«, formulierte Pestalozzi schon vor mehr als 200 Jahren, noch ohne Ahnung von entwicklungspsychologischen Erkenntnissen.

      Vergleiche führen allzu häufig dazu, Kinder unter dem Gesichtspunkt zu betrachten, was sie nicht können. Man legt dann alle Energie darauf, mögliche Defizite oder sogar Störungen zu kompensieren. Alle Kompetenzen eines Kindes, alles, woraus es Selbstvertrauen und Glücksgefühle schöpfen kann, weil es bestimmte Fähigkeiten schon erworben hat und Tätigkeiten eigenständig erledigen kann, das alles bleibt außen vor. Wer Kinder nur als Ansammlung von Defiziten sieht, schwächt ihr Selbstbewusstsein.

      DAS KIND IN SEINER INDIVIDUALITÄT BETRACHTEN

      Kinder entwickeln sich unterschiedlich, das ist eine ganz banale Erkenntnis, die sich aber nicht immer im Alltagswissen von Erwachsenen niedergeschlagen hat. Die individuellen Unterschiede können groß sein, das kalendarische Alter sagt manchmal nur wenig aus: Da ist ein Kind vier Jahre alt, aber in emotionaler Hinsicht kommt es wie ein dreijähriges daher, während ein anderes wie ein fünfjähriges empfindet. Und dann sind da noch die individuellen Unterschiede zu berücksichtigen. Entwicklung stellt keine stete Aufwärtsentwicklung dar. Manchmal will ein Kind nicht groß werden, es möchte auf einer Stufe verharren, um sich möglicherweise anzusehen, ob es früher schöner war. Kinder vergleichen eben auch. Solch Vergleiche sind aber wertvoll und dienen ihrer Persönlichkeitsbildung.

      Kinder vergleichen sich auch untereinander. Dann tun sie dies häufig unter zwei Perspektiven: Was kann ich besser? Und: Was kann ich noch nicht? Einerseits hebt man sich ab und sieht sich in seinen Kompetenzen bestätigt, was das Selbstwertgefühl stärkt. Und die zweite Frage spornt das Kind an, eine weitere Fertigkeit zu erlernen. Kinder lernen viel durch andere Kinder. Gerade ältere sind Vorbilder, denen es nachzueifern lohnt. Auch wenn manche Eltern das nicht allzu gern sehen, wenn ihr Kind den etwas lebenserfahreneren Freund anhimmelt und ihm nachzueifern versucht.

      Lasst mir meine Zeit!

      Um einen zentralen Wunsch von Kindern zu beleuchten, lohnt sich ein Blick in die Vergangenheit. Vergleicht man einmal ein achtjähriges Kind von heute mit einem vor sechzig oder siebzig Jahren geborenen Achtjährigen, so fallen große Unterschiede auf. Die heutigen Kinder scheinen im Vergleich zu den Generationen davor körperlich stabiler, wirken größer, »erwachsener«, was sich nicht selten im Sprachgebrauch niederschlägt: Man spricht von »großen Kindern«, setzt die Eigenschaft »groß« gleich mit »vernünftig«


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