Die Zuckermeister (2). Die verlorene Rezeptur. tanja Voosen
Читать онлайн книгу.hinein.
Ihr klopfte das Herz bis zum Hals und sie wusste nicht, wohin sie zuerst schauen sollte. Der Platz, auf dem sie standen, war nicht länger nur ein einsamer, leerer Platz. Mit einem Wimpernschlag waren Geräusche und Farben und Magie da, als habe man einen grauen Schleier von Elinas Augen gehoben.
Auch Charlie hatte die Sichere Sicht durchbrochen und staunte. »Ich habe an das Lied vom singenden Brief gedacht und jetzt – wow!«
»Daran habe ich auch gedacht!«, jauchzte Elina.
Herr Schnotter zwinkerte ihnen zu. »Überwältigend, nicht wahr?«
Elina nickte. Ein magischer Ort … das war er!
Sie befürchtete, jeden Moment würde sie blinzeln und alles wäre wieder weg, doch das geschah nicht. Elina wirbelte nach links und rechts und wieder zurück und in ihrer Brust stieg solche Freude auf, dass sie auflachte. In der Mitte des Platzes befand sich ein Brunnen mit einer Schwanenstatue, aus deren Schnabel dunkle Schokolade sprudelte!
Um sie herum gab es so viele Häuser und Geschäfte zu bestaunen, die bunt und verrückt und einzigartig aussahen. Elina hatte immer geglaubt, das Heim der Zuckerhuts entspringe nur dem ausgefallenen Geschmack der Familie, aber die Süßigkeitenwerker hier setzten dem Ganzen die Kirsche auf!
Es schien, als wäre sie im echten Schlaraffenland gelandet, denn jedes Gebäude hatte Elemente, die irgendwie an Süßigkeiten erinnerten. Da war ein Eisladen, der knallig pinkrot wie Erdbeereis gestrichen war und Sahnekleckse statt Dachschindeln hatte. Eine Schneiderei, braun wie ein Lebkuchenhaus, deren Fenster von Zuckerstangen eingerahmt wurden, und eine Chocolaterie, deren Fassade aus Keksen zu bestehen schien. Manche Türknäufe wirkten wie übergroße Schokolinsen und einige der Fassaden hatten Zuckergussverzierungen.
»Schwatzende Schokokugeln!«, rief jemand. »Small Talk war gestern! So gelingt jedes Gespräch im Nu! Heute im Supersonderangebot! Wer hat Lust zu probieren?« Elina schaute zu dem Mann, der sich ein Tablett umgeschnallt hatte und versuchte, zwischen den anderen Menschen Kostproben zu verteilen.
Auf dem Platz war sowieso eine Menge los! Kleine Grüppchen von Jugendlichen, Eltern mit ihren Kindern, Pärchen oder einzelne Leute wuselten wie Ameisen hin und her. Viele trugen normale Kleidung und waren nicht weiter auffällig, aber andere wirkten, als seien sie auf dem Sprung zu einem Kostümfest. Flatternde Umhänge, strenge Uniformen oder altmodische Kleider waren nur einige Sachen, die Elina ins Auge sprangen. Ein Gürtel voller Fläschchen und Gerätschaften, wie Frau Zuckerhut ihn besaß, war hier gar nicht mal selten! Elina erhaschte sogar einige Blicke auf verschiedene Pon, die aus Taschen ragten.
»Was ist das für ein Platz?«, fragte Elina schließlich.
»Der Fondant-Platz«, antwortete Herr Schnotter. »Er bildet das Zentrum der Bittersüßen Allee. Früher einmal gab es hier nicht viel außer einer Handvoll Läden und Häuser. Doch im Laufe der Zeit wurde aus der kleinen Allee etwas Größeres. Inzwischen leben und arbeiten Süßigkeitenwerker von überall auf der Welt hier.«
»Werden in all diesen Läden magische Süßigkeiten verkauft?«, fragte Robin.
»In vielen! Ihr werdet sehen, dass die Dinge hier etwas anders laufen.«
»Die Zuckermeister erlauben all das?«, fragte Elina.
»In der Bittersüßen Allee gibt es tief verwurzelte Traditionen, mit denen nicht mal die Zuckermeister brechen konnten«, erklärte Herr Schnotter. »Hier wird getauscht, gehandelt, Rezepte und Süßigkeiten verkauft – und sich amüsiert. Die Magie bleibt den Regeln des Picot-Pakts entsprechend vergänglich. Ich denke, es ist eine Art Kompromiss, denn das Concilium täte sich keinen Gefallen damit, die Süßigkeitenwerker gegen sich aufzubringen. Nicht, nachdem …«
»Nachdem … was?«, fragte Elina.
Herr Schnotter schüttelte den Kopf. »Das ist kein Gespräch für einen Platz wie diesen. Wir sind wegen Robins Pon hier. Lasst uns weitergehen.«
Der alte Herr hinkte auf seinem Stock voran. Elina ließ es fürs Erste auf sich beruhen, nahm sich aber vor, ihn zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal danach zu fragen. All diese Andeutungen machten sie sonst noch verrückt.
Doch während sie den Fondant-Platz überquerten, wurde sie so sehr von der Umgebung abgelenkt, dass der Gedanke, der sie eben noch wie ein drückender Schuh geplagt hatte, einfach verschwand.
Charlie, Robin und Elina blieben an einem Schaufenster kleben, in dem Kaugummibällchen wie von Zauberhand von einer Schachtel in eine andere sprangen. Ein Schild verkündete den Namen: Spring-weit-Kaugummis.
»Woah!«, machte Robin fasziniert.
Elina hätte ewig zusehen können, wie die Dinger hin und her hüpften, doch das Räuspern von Herrn Schnotter, der sie mit strenger Miene bedachte, brachte sie dazu, sich von dem Anblick zu lösen. Sie zog die anderen mit sich.
Herr Schnotter deutete auf etwas, das sie zunächst an eine Fabrik erinnerte.
Das Gebäude war schmal, aber hoch und hatte zwei riesige Schornsteine. Auf dem Dach befanden sich seltsam verdrehte goldene Rohre und an der Front waren lauter Zahnräder in allen Größen befestigt, die sich drehten. In dicken Leuchtbuchstaben, die sperrig und etwas schief dort hingen, stand unübersehbar: Erfinder-Emporium.
Auch Charlie und Robin staunten nicht schlecht. Elina legte den Kopf in den Nacken und beobachtete, wie die Schornsteine gold-glitzerigen Rauch ausspuckten.
»Meine Eltern haben mir von so vielen Regeln erzählt, aber hier ist echt alles anders«, murmelte Robin. »Magie überall … das ist wie eine ganz andere Welt.«
»Wollt ihr da Wurzeln schlagen?«, rief Herr Schnotter.
Die drei schlossen zu ihm auf. Der alte Herr drückte die Türklinke auf, die wie ein Schraubenschlüssel geformt war. Irgendwo bimmelte ein helles Glöckchen.
Im Inneren war es stickig und von allen Seiten kamen verschiedene Geräusche. Zischen wie von einem Dampfkessel oder Quietschen wie von nicht geölten Zahnrädern. Kein Wunder, denn hier drinnen hausten so einige Kuriositäten, die sicherlich auch so einige kuriose Geräusche verursachten. Überall standen Regale, Kisten und Schaukästen, die von lauter Apparaturen und Werkzeugen überquollen. Eine merkwürdig krumme Treppe führte links in eine schwindelerregende Höhe zu weiteren Etagen hinauf. Und dann war da noch eine große Maschine, die mit ihren trompetenhaften Rohren an eine Orgel erinnerte.
Hinter einem Empfangstresen stand ein hagerer Mann in violettem Anzug, dessen graue Haare zauselig wie bei einem durchgeknallten Wissenschaftler abstanden. Er werkelte an etwas herum, das wie ein Fernglas aussah, und blickte nun gemächlich auf und in ihre Richtung. »Ich traue meinen Augen kaum! Wie ist das möglich?« Vor Schreck wurde der Mann käsebleich. »Emil, bist du es wirklich?« Er umrundete den Tresen und starrte Herrn Schnotter überwältigt an. »Nun sag doch was, Emil!«
»Hallo, Mortimer«, brummte Herr Schnotter.
Mortimer wirkte völlig geschockt. »Das ist alles? Kriege ich nicht mal ein vernünftiges ›Hallo‹? Ich habe dich bestimmt seit dreißig, ach, was sage ich, vierzig Jahren nicht gesehen! Dachte schon, du wärst klammheimlich gestorben!« Mortimer kniff die Augen zusammen. »Ein Wunder, dass ich dich überhaupt wiederkenne, aber dieses miesepetrige Gesicht gibt es eben nur einmal auf der Welt!« Er lachte über seine Worte, als seien sie ein Witz. »Und wer sind diese Kinder? Was ist hier los?«
Das würde Elina auch gerne wissen! Was sollte das heißen? Hatte Mortimer etwa nicht gewusst, dass Herr Schnotter im Exil lebte? Natürlich war sein Exil eine Bestrafung gewesen, aber sie hatte immer gedacht, dass es kein großes Geheimnis gewesen war, dass er aus der Gemeinschaft der Süßigkeitenwerker ausgeschlossen worden war. Hatte er etwa gar keinen Kontakt zu anderen Süßigkeitenwerkern mehr haben dürfen? Doch wieso hatte Frau Bonet ihm dann die Zuckerkreide gegeben?
»Ist eine lange Geschichte«, antwortete Herr Schnotter.
»Das glaube ich dir nur zu gern«, sagte Mortimer.
Elina sah Charlie