Liebe, Tod und Pflege. Michael Weiß

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Liebe, Tod und Pflege - Michael Weiß


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einem späteren Weltkrieg zum Opfer fallen sollten, alleine groß zu ziehen. Als Hitler Polen überrannte war sie bereits dreiundzwanzig, seit vier Jahren verheiratet und bereits Mutter von zwei Söhnen. Als in der Nacht vom neunundzwanzigsten, auf den dreißigsten August neunzehnhundertzweiundvierzig der schwerste Luftangriff der Sowjetunion über Berlin hereinbrach, hatte sie drei Wochen zuvor ihre erste Tochter zur Welt gebracht. In dieser Nacht, in der die sowjetische Luftwaffe unzählige Tonnen Sprengstoff auf die Hauptstadt warf, saß sie mit ihren sechs und drei Jährigen Söhnen und ihrer neu geborenen Tochter in einem Keller in Kreuzberg und war sich sicher, dass sie nun alle in dieser Nacht sterben würden. Der Keller war vollkommen überfüllt, es war dunkel, man sah die Hand vor Augen kaum. Der Lärm muss ohrenbetäubend gewesen sein. Jeder Zentimeter in diesem Keller wackelte und bebte. Sie erzählt diese Geschichten sehr oft und ich bekomme jedes Mal eine Gänsehaut, wenn sie von dem näherkommenden Pfeifen, den stetigen Erschütterungen, dem unbeschreiblichen Lärm, dem Donner und der dauernden Ungewissheit ob die Decke beim nächsten Mal über einem einstürzen und sie alle unter sich lebendig begraben würde, berichtet. Das einzige, dass sie außer ihrem Leben und ihrer blanken Angst in dieser Nacht besaßen, waren die Kleider die sie am Leibe trugen und ein Eimer Wasser um die Windeln des Kleinkindes auszuwaschen. Nach dieser Nacht besaßen sie nichts mehr. Es ging ums nackte Überleben. Ihr Mann war zu dieser Zeit seit etwa sechs Monaten an vorderster Front und kehrte erst vierzehn Jahre später, als einer der letzte von insgesamt etwa 890.000 deutschen Kriegsgefangenen aus der Sowjetunion zurück. Größtenteils zu Fuß legte er den Größten Teil dieser unendlich langen Distanz zurück.

      Nachdem der Krieg vorüber war hieß es improvisieren. Aus den Trümmern und aus dem Schutt, also aus dem was die Bomben, das Feuer und die freie Witterung übriggelassen hatten und was „Der Russe“ wie sie es nannte nicht geplündert hatte, mussten sich die Überlebenden eine neue Existenz aufbauen. Sie erzählt diese Geschichten immer, während sie in ihrem alten beigen Ohrensessel sitzt und eine selbstgestrickte Wolldecke aus bunten Karos auf ihren Beinen ruht. Besonders berührt mich immer eine Szene, in der Sie schildert wie Sie mit ihren Kindern in den Wald geflohen war, aus Angst vor Vergewaltigung und Peinigung und Sie seit Tagen nicht genügend zu trinken hatten, ihr Durst wurde immer stärker, die Angst entdeckt zu werden allerdings auch. Da habe der liebe Gott es leicht schneien lassen und Sie habe die dünne Schneeschicht mit einem Kaffeelöffel von den Blättern und den Ästen aufgesammelt um es in einem kleinen Topf zu schmelzen, dies habe Stunden in Anspruch genommen.

      Ich bin jetzt 36 und habe mir gerade mein viertes Sofa gekauft, meinen sechsten Fernseher und überlege jeden Monat aufs Neue, was ich mir denn als nächstes in die Wohnung stellen könnte. Ich habe noch niemals wirklich richtigen Durst oder Hunger verspürt, zumindest nicht aus tatsächlichem Mangel oder gar annähernd in einer ausgeprägten Intensität.

      Fr. Drechsler sitzt einfach nur da. Sitzt in dem Sessel den Sie schon seit Jahrzehnten besitz. Sitzt da und schaut aus dem Fenster. Es läuft kein Radio, kein Fernseher und Sie scheint in sich zufrieden zu sein. Sie jammert nicht. Sie jammert nie. Sie sagt Sie sei einfach nur zufrieden. Zufrieden mit sich. Zufrieden mit ihrem Leben, der erlebten Vergangenheit und der jetzigen Gegenwart. Und Sie sein unheimlich stolz, dass Sie all ihre Kinder lebendig durch diese Zeit gebracht hatte und das aus allen etwas Anständiges geworden sein. Das kann Sie in meinen Augen auch sein, eigentlich noch viel viel mehr als das. Eigentlich ist Sie eine Heldin und ich habe das Glück sie zu treffen und sie unterstützen zu dürfen. Ich habe schon sehr viele Helden und Heldinnen getroffen.

      In unserer Einrichtung, welche nach dem offenen Hausgemeinschaftskonzept aufgebaut ist, leben drei und dreißig Senioren in drei Gruppen und jeder von ihnen, hat seine ganz eigene, individuelle und persönliche Geschichte zu erzählen. Ich höre jedem einzelnen von ihnen, sobald es meine Zeit erlaubt, immer wieder gerne zu. Man kann sich heute, sehr vieles von dem was in der Vergangenheit geschehen ist nicht mehr, oder nur sehr schwer vorstellen. Auch wenn diese Geschichten, selbst auf mich, heute sehr unwirklich und surreal wirken, kann man aus ihnen auch heute noch sehr viel lernen, vorausgesetzt es besteht die Bereitschaft sich darauf einzulassen.

       Der Alkohol

      Der Alkohol in seinem Blut hat wohl hauptsächlich dazu beigetragen, denn ich kann mir beim besten Willen überhaupt nicht vorstellen, dass sich jemand, auch wenn er momentan die aller aller tiefste depressive Krise durchleben sollte, die man sich überhaupt nur vorstellen kann, ohne massiven Einfluss dieser oder eventuell einer anderen, sich im falschen Moment sehr teuflisch auf die rationale und humane Entscheidungskraft eines Menschen auswirkende Substanz, sonst für genau diese sehr spezielle Art und Weise der Durchführung dieser sowieso überaus heiklen und alles in Frage stellenden Handlung entschieden hätte. Besagter Schritt war äußerst radikal, mehr als nur ungewiss persönlichkeitsverändernd. In seinen metaphysischen und transzendenten Konsequenzen absolut unklar und unübersichtlich. In der Vielschichtigkeit der möglichen Auswirkungen überhaupt nicht absehbar und das soziokulturelle Umfeld in einer Art und Weise beeinflussend, wie es kaum eine andere Handlung hätte auch nur ansatzweise hätte sein können.

      Und da lag er nun, dieses wirklich arme kleine Häufchen Elend und konnte nichts, aber auch wirklich überhaupt nicht das Geringste an der nun vorherrschenden Situation ändern. Nicht nur, dass er das eigentliche Kernziel seines Vorhabens zur Gänze verfehlt hatte und damit im besten Fall nur der ewigen Dunkelheit und der eventuell damit verbundenen Gleichgültigkeit entkommen ist. Nein, nun musste er sich im tiefsten Inneren seiner Seele auf kognitiver, rationaler, psychischer, emotionaler, sozialer und metakognitiver Ebene mit den nun sehr drastischen und unumkehrbaren Konsequenzen seiner Entscheidung auseinandersetzen. Dies war nun sein Schicksal. Sich das Schicksal selbst geschaffen, welches er von nun aushalten und ertragen, einfach nur ertragen, musste. In uns allen, das sah man dem ganzen Team eindeutig an, auch an den Ältesten und wenn man das so sagen kann Abgehärteten, ging das nicht ausschließlich Spur- und Emotionslos vorbei. Die Krankenhauspsychologin kam sogar und bat falls notwendig Vieraugengespräche an. Mir persönlich war nicht danach. Die Stationsleitung stellte es zunächst mal frei und fragte ob sich jemand nicht in der Lage sähe, seine/ihre ursprünglich erworbene individuelle Fachpflegerische Kompetenzen gepaart mit wenigstens ein wenig Fürsorgekraft und motivationalem Antrieb, an diesem ganz speziellen Pflegeklienten in praktischer Umsetzung zum Besten zu geben. Mir persönlich bereitete diese Vorstellung auf Anhieb keinerlei Probleme. Also verstehen sie mich nicht falsch. Nicht das ich auch nur den geringsten Furz von Mitleid oder Einfühlungsvermögen in den ersten Tagen diesem armen Häufchen Elend hätte entgegenbringen können, ob das nun falsch oder richtig ist oder war, sein mal kritisch dahingestellt. Aber ich empfand eben auch keine Abscheu oder gar Hass nein, ich traf komischer Weise auf vollkommene Emotionale Gleichgültigkeit in meinem Herzen. Nur um auch das klar zu stellen, heute in der Retrospektive geht das Geschehene in keinster Weise mehr emotionslos an mir vorüber, so dass ich damals auch sicherlich, wenn auch nur unbewusst, automatisch eine Art von psychoemotionalem Selbstschutz an den Tag gelegt haben musste. Bei einigen sah man es allerdings direkt in ihren Gesichtern, in ihrem Blick, ihrer Mimik ganz eindeutig nicht zwingend Hass, aber mindestens Verachtung und Abscheu und Verunsicherung. Nicht das meine Meinung die tatsächliche Teamstimmung in irgendeiner Art und Weise beeinflusst hätte, nein, dass sicherlich nicht, immer hin war ich nur der Praktikant. Diejenigen welche sich nun bereit erklärt hatten, wenigstens die zumindest zwingenden fachpflegerischen Maßnahmen an ihm durch zu führen, legten, nun die einen mehr, die anderen weniger, aber jeder auf seine ganz einzigartige Art und Weise, eine gewisse eigene Form und Farbe der Reserviertheit an den Tag. Denn jeder war in seiner subjektiven Erlebenswelt ganz klar der Meinung, dass das Ergebnis seiner Entscheidung unterm Strich ein verflucht, aber so richtig beschissener Tausch gewesen sei. Das sind diese Begebenheiten, bei welchen sich jeder auf seine ganz eigene Art und Weise, mit Fragen wie Sinnhaftigkeit, Göttlichkeit und Schicksalhaftigkeit auseinandersetzt.

      Und soll ich ihnen etwas sagen, er tat das auch, ganz sicher tat er das und er wusste es, er wusste, dass wir dies auch taten, er wusste es und er sah es sicherlich haar genauso. Sein Gesicht war leer, leer von allem, leer und regungslos doch das er das Leben aus seiner ganz eigenen wie schon zuvor von ihm festgestellten Sicht jetzt nicht nur nicht mehr ertragen konnte, sondern ab diesem Moment es vielleicht auch gar nicht mehr verdiene, dass sah man ihm eindeutig an. Er hatte sich aus Körperlicher somatischer Sichtweise zum Glück nur


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