Clans von Cavallon (2). Der Fluch des Ozeans. Kim Forester
Читать онлайн книгу.sah wieder nach vorne. Jaren musste sich irren. Seine Version der Geschichte konnte nicht stimmen, oder doch? Trotzdem fiel sie nicht wieder in den Singsang der anderen ein, als sie die Saga zu Ende erzählten.
Als Baros’ Stimme wie die Flügelschläge ihrer ins Exil vertriebenen Vorfahren im Wind verhallte, machte Zadia in der Luft einen Purzelbaum. »Noch mehr! Ich will noch eine Saga!«, rief sie und flatterte mit ihren kurzen Flügeln. Schwungvoll schloss sie zu Aquilla auf. »Erzählst du uns die Saga von dem Menschen, der zum Pegasus wurde? Bitte?«
»Dem Menschen, der was wurde?«, fragte Jaren.
Aquilla lachte. »Sie meint die Geschichte über dich, du Dussel.« Zu Zadia sagte sie: »Ich glaube, diese Saga braucht einen schöneren Namen. Jaren hat sich ja nicht verwandelt. Die Ältesten haben ihn in unsere Herde aufgenommen, weil in ihm das Herz eines Pegasus schlägt, und das schon immer.«
Zadia musterte Jaren nachdenklich. »Ja«, antwortete sie schließlich. »Das sehe ich.« Jaren lachte erfreut.
Aquilla holte tief Luft und sammelte ihre Gedanken. Sie hatte noch nie als Erste eine neue Saga erzählt – das war ein großes Ereignis im Leben eines Pegasus. Sie räusperte sich. »Dies ist die Saga von Jaren«, begann sie. Erleichtert stellte sie fest, dass ihre Stimme klar und fest klang. »Einem tapferen Menschenjungen aus einem kleinen Bergdorf, der sich auf die Suche nach dem Abenteuer machte.« Sie drehte sich zu Jaren um, dessen Augen vor Freude funkelten. »Er kletterte gerade einen steilen Berghang hinab, als ein fürchterlicher Sturm losbrach …«
Die anderen kamen dichter herangeflogen, um Aquilla zu lauschen, während sie beschrieb, wie sie und Jaren sich in der Berghöhle begegnet waren, wo sie beide vor dem Unwetter Schutz gesucht hatten. Zadia wiederholte jeden Satz mit großem Ernst und Aquilla stellte sich vor, wie die kleine Pegasusstute die Geschichte in einigen Jahren selbst an die jüngsten Fohlen der Herde weitergeben würde. Der Gedanke erfüllte sie mit Stolz.
Als Aquilla zu der Stelle kam, wo die Zentauren Jaren einsperrten, stieg die Angst, die sie ausgestanden hatte, plötzlich wieder in ihr hoch und ihr versagte die Stimme.
Jaren übernahm für sie. »Sie steckten mich – ich meine, Jaren – in eine winzige Zelle mit einem winzigen Fenster, das so weit oben war, dass er es nicht erreichen konnte. Er dachte, sein letztes Stündlein habe geschlagen, doch dann hörte er lautes Getöse und wisst ihr, was? Aquilla war gekommen, um mich zu retten! Ich meine, ihn.« Seine Worte klangen nicht ganz so feierlich, wie es für eine Saga üblich war, aber das hielt die anderen nicht davon ab, gebannt zuzuhören.
»Doch die Wachen der Zentauren führten Jaren fort«, erzählte Aquilla weiter, die ihre Fassung wiedergefunden hatte. Sie verwob ihre Geschichte geschickt mit der Saga von der Schlacht in den Splittern, wo Jaren das gegnerische Heer bewusst in die Irre geleitet hatte, sodass die Pegasus die feindlichen Clans besiegen konnten, indem sie erst eine Schneelawine und dann einen Felssturz auslösten. »Und auch der Felssturz, der den Pegasus den Sieg brachte, war Jarens Idee gewesen«, schloss Aquilla. »Als Zeichen ihrer Dankbarkeit und Wertschätzung machten die Pegasus ihn zu einem der ihren. Und so war Jaren der erste Mensch in der Geschichte Cavallons, der Teil einer Pegasusherde wurde.«
»Sehr schön erzählt, Aquilla. Und du auch, Jaren. Eine ausgezeichnete erste Saga«, lobte Odelia, eine Älteste mit goldenem Fell. Sie war den ganzen Tag vorneweg geflogen, hatte sich nun aber zurückfallen lassen, um Aquillas Erzählung zu lauschen.
Die anderen stimmten Odelia zu und Aquilla nahm ihre Glückwünsche mit einem dankbaren Nicken entgegen. Trotz aller Bescheidenheit konnte sie ihre Freude darüber nicht ganz verbergen. Sie blickte sich zu Jaren um – er grinste von einem Ohr zum anderen. Wir sind ein gutes Team, dachte sie.
Ein leises Wiehern lenkte ihre Aufmerksamkeit wieder an die Spitze der Gruppe, wo Rostro, Erster der Herde, sich zu den anderen umgedreht hatte. Seine graue Mähne tanzte im Wind, während er kraftvoll mit den Flügeln schlug, um sich auf der Stelle zu halten. Die Herde scharte sich um ihn, damit ihn alle hören konnten.
»Unsere Suche nach einem neuen Nachtlager hat uns über weite Strecken und an viele Orte geführt«, sagte Rostro, »und doch haben wir nichts gefunden, was unseren Bedürfnissen entspricht. Ich fürchte, uns bleibt nur noch eine Option – die Flügelbruchspitze.«
Ein entsetztes Raunen ging durch die Herde. Die kleine Zadia vergaß vor Schreck, mit den Flügeln zu schlagen, und sackte einige Pegasuslängen in die Tiefe, bevor sie in einen Luftstrom geriet, der sie sanft wieder aufwärtstrug.
Stirnrunzelnd flog Odelia zu Rostro und flüsterte ihm etwas zu. Ihre flachsgoldene Mähne war vom Wind ganz zerzaust.
»Was ist so schlimm an der Flügelbruchspitze?«, fragte Jaren Aquilla mit gesenkter Stimme. »Abgesehen vom Namen, meine ich.« Aquilla musterte ihn über ihre Schulter hinweg. Bei allen Sternen, die Menschen wissen wirklich nichts über den Krieg von Cavallon.
»Dort haben unsere Vorfahren ihre Waffen niedergelegt«, erklärte sie. »Sobald das Friedensabkommen unterzeichnet war, sind sie dorthin geflogen, haben ihre Waffen auf dem Gipfel gelassen und geschworen, nie wieder in den Kampf zu ziehen.«
Jaren stieß ein leises Pfeifen aus. »Das heißt – die Waffen sind alle noch da?«
»Das nehme ich an.« Aquilla war noch nie auf der Flügelbruchspitze gewesen. Aber sie war natürlich auch erst dreizehn und damit viel zu jung, um das Ende des Krieges selbst erlebt zu haben. Rostro war der Einzige, der sich an den Krieg von Cavallon erinnern konnte. Die Sagas aus jener Zeit priesen ihn als einen der größten Kämpfer der Pegasus.
»Moment mal«, fragte Jaren. »Wie konnten die Pegasus die Waffen eigentlich benutzen? Oder sie überhaupt herstellen?« Er wedelte mit einer Hand. »Braucht man dafür nicht so was hier?«
Aquilla schnaubte. »Nicht für magische Waffen«, antwortete sie. »Obwohl du nicht ganz unrecht hast. Es waren tatsächlich Menschen, die sie hergestellt haben. Damals, als wir noch mit euch Handel getrieben haben.«
Rostro erhob die Stimme, die trotz seines hohen Alters laut und kräftig war, um gegen das Flüstern und Tuscheln anzukommen, das durch die Herde ging. »Ich denke, dass wir uns dort wohl am besten vor dem Rest von Cavallon verstecken können. Die Flügelbruchspitze ist so abgelegen, dass die anderen Clans nicht einmal wissen, dass sie existiert. Und selbst wenn sie es wüssten, hätten wir nichts zu befürchten, denn die Hänge sind so steil und tückisch, dass niemand sie erklimmen kann.«
»Aber was ist mit unserem Schwur?«, warf Odelia ein.
»Haben wir den nicht ohnehin schon gebrochen?«, erwiderte Baros. »In den Splittern haben wir schließlich auch gekämpft.«
»Das war nur zu unserer Verteidigung«, stellte Rostro klar. »Der Schwur ist noch immer gültig – nie wieder werden wir gegen Cavallons andere Clans in den Krieg ziehen. Wir werden die Waffen dort nicht anrühren.«
Aquilla spürte die Wirkung, die Rostros ruhige, besonnene Stimme auf die Herde hatte. Der Widerstand wurde schwächer und mehr und mehr waren bereit, sich den Vorschlag zumindest durch den Kopf gehen zu lassen. Doch auch, wenn Rostros Argumente durchaus schlüssig waren, wusste Aquilla, dass keinem in der Herde diese Entscheidung leichtfallen würde. Auf der Flügelbruchspitze würden sie mit schmerzhaften Erinnerungen an die Vergangenheit konfrontiert werden und einmal mehr wurde ihnen allen bewusst: Die Pegasus würden ihre Vergangenheit niemals hinter sich lassen können.
»Lassen wir die Herde darüber abstimmen«, meinte Odelia. »Sprich, Rostro, Erster der Herde, und teile uns deine Entscheidung mit. Sollen wir uns auf den Weg zur Flügelbruchspitze machen?«
»Ich stimme für Ja«, verkündete Rostro. »Sprich, Odelia, Zweite der Herde. Was sagst du?«
»Ja«, antwortete Odelia.
So gab einer nach dem anderen seine Stimme ab, vom Ältesten zum Jüngsten. Die ersten stimmten alle dafür. Zwischendurch kamen sie bei der Reihenfolge etwas durcheinander, die sich geändert hatte, seit drei von ihnen in der Schlacht in den Splittern ums Leben gekommen