Das Wolfskind und der König. Bettina Szrama

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Das Wolfskind und der König - Bettina Szrama


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Diese Verletzung würde uns sicher gern eine Geschichte erzählen.“ Sein Blick wanderte dabei von dem Knaben zu ihr. Er blieb wohl einen Moment zu lange an ihrem Gesicht hängen, was sie, trotz seines wohlwollenden Interesses an dem Knaben, verwirrte. Die Haut zuckte, als sie das schlecht vernarbte Wundmal berührte und sie zog sie rasch wieder zurück. Dabei fiel ihr der Hemdfetzen ein, den der Junge um den Hals getragen hatte und dem bisher niemand sonderlich Aufmerksamkeit schenkte. Sicherlich hatte er mit dem Hemd die Narbe verdeckt. Sie spielte dem Kommissar gegenüber geschickt die Verlegene und wich seinem Blick aus. Gleichzeitig suchte sie unauffällig den Boden nach dem Stofffetzen ab. Als Tochter eines Gildemeisters hatte sie Schreiben und Lesen gelernt, wobei die Entbehrungen und das Leid der Kindertage es nicht geschafft hatten, ihr die kindliche Neugierde und den wachen Verstand zu nehmen. Sie begriff, dass dieser Fetzen Stoff einen wichtigen Hinweis auf die Herkunft des Knaben geben könnte, und ihr Herz hüpfte vor Freude, als sie ihn zwischen den Holzzubern entdeckte. Ich muss es verhindern, dass die Männer das Hemd finden, dachte sie und wandte sich nun mit vermehrtem Interesse wieder dem Knaben zu. Dabei drehte sie sich mit ihrer Kehrseite geschickt in die Richtung der Fundstelle, wo sie mit der Fußspitze heimlich nach dem Stofffetzen angelte.

      Den Mund des Kommissars umspielte ein heimliches Lächeln. Er beobachtete sie. Hatte er etwas bemerkt? Sein Lächeln kam ihr plötzlich seltsam glatt vor. Sie forschte in seinem Gesicht. Doch es schien undurchdringbar. Galant schmeichelte er ihr: „Nur zu, Jungfer, Sie sollten es sich genau ansehen. Vielleicht wird einmal eine Ärztin aus Ihnen.“

      Seine Aufmerksamkeiten endeten jedoch abrupt mit den nüchternen Worten des Barbiers, der die Maulsperre in seinen Händen, die den Mund des Knaben gewaltsam offen gehalten hatte, nachdenklich betrachtete. „Seine Zähne müssten abgeschliffen werden und die Unfähigkeit zu sprechen, könnte von der Zunge herrühren. Mir scheint, sie ist ihm an beiden Seiten festgewachsen.“

      „Was sagt Er da? Da muss unbedingt der Feldscher her. Vielleicht lässt sich diese Missbildung operieren“, stellte der Bürgermeister fest und befahl sogleich Müller: „Rufe Er ihn rasch! Der Barbier wird ihm assistieren.“

      Müller zeigte sich bedrückt. „Einen Feldscher …?“, druckste er. „Es gibt nur den Barbier im Spital.“

      Grete hob blitzschnell das Stück Stoff vom Boden auf. Ohne dass es jemand bemerkte, ließ sie den Hemdfetzen unter ihrem Rock verschwinden.

      „Wieso keinen Feldscher? Hat Er das Geld für ihn auch ins Wirtshaus geschafft?“, knurrte der Schulze.

      „Der Feldscher hat unser Spital verlassen, auf eigenen Wunsch“, rechtfertigte sich Müller demütig. „Er war schon alt und der Arbeit nicht mehr gewachsen.“

      „Ach rede Er nicht. Unsere kurfürstliche Gnaden hatte zur Erneuerung des Spitals zum Heiligen Geist großzügigerweise einen Wundarzt im besten Alter verpflichtet. Wie soll uns ein Barbier vor Epidemien und der schwarzen Pest beschützen? Weiß Er, was die Bettler und Vagabunden ihm hier einschleppen? Er wird wohl Seinetwegen gegangen sein. Wer soll es auch mit Ihm aushalten. Es wäre an der Zeit einmal zu überdenken, was Er seiner Familie antut. Er hat wohlgeratene Kinder, einen warmen Herd und eine wunderbare Köchin.“

      „Nun gut“, lenkte der Bürgermeister ein und nickte Müllers Weib säuerlich lächelnd zu. „Es ist nun nicht mehr zu ändern. Beeile Er sich und laufe Er rasch zum Pferdemarkt zur Hauptwache, zum Regiment von Reden! Sage Er dem Festungskommandeur, dass ich Ihn schicke, um mir den Feldscher auszuleihen! Sage Er ihm, dass es dringlich ist.“

      Müller verbeugte sich tief und lief zur Tür. Auf dem Weg ergriff er Gretes Zöpfe und zog sie mit sich. Nachdem er die Tür hinter sich geschlossen hatte, nahm er einen Korb mit Bohnenstängeln von der Wand und drückte ihn ihr in die Arme. Dann drohte er ihr warnend mit der Peitsche.

      „Hier, damit verschwindest du jetzt in der Küche! Denkst du, die Arbeit im Haus erledigt sich von allein? Noch einmal so eine Ungehorsamkeit und es setzt was!“, drohte er ihr gefährlich leise und half mit der Peitschenspitze unter ihrem Kinn nach. Er hob es an, sodass sie ihn ansehen musste. Eingeschüchtert wagte Grete es nicht, ihm zu widersprechen. Instinktiv spürte sie, dass es besser war, ihn nicht noch mehr zu verärgern. Die Demütigungen, von denen er an diesem Tag schon genug hatte ertragen müssen, machten ihn zunehmend reizbarer. An der Tür zum Hof drehte er sich noch einmal nach ihr um und drohte ihr erneut mit der Peitsche.

      Gehorsam nahm Grete den Weg zur Küche. Doch auf der Hälfte überwog die Neugierde ihre Angst und sie drehte wieder um. An der Tür zur Waschküche angekommen, blieb sie unschlüssig stehen. Sollte sie hineingehen oder den Anordnungen des Vaters Folge leisten? Angst und Neugierde kämpften miteinander, während sie, die Hand auf der Türklinke, zögerte. Die Stimmen aus der Waschkammer drangen bis an ihr Ohr. Sie hörte, wie der Stadtschulze Müllers Frau die Anweisung gab, dem Knaben etwas zu Essen zu bringen.

      „Seine Haut ist weißer als Alabaster. Das ist nicht die Haut eines Bauernjungen“, erklang die Stimme des Bürgermeisters.

      „Bis auf seine Füße, die sind braun geblieben“, meldete sich das Weib. Es entstand eine Pause. Stille. Offensichtlich waren die Männer verblüfft, sprach Müllers Weib doch angeblich nur Französisch.

      „Wenn Ihr Herren wüsstet, dass sich die Mutter genauso vor dem Vater fürchtet wie ich“, murmelte Grete. „Dann verständet Ihr, weshalb sie lieber in einer fremden Sprache spricht.“

      „Die braunen Stellen könnten ein Hinweis auf Zigeuner sein. Deren Kinder tragen keine Stümpfe. Sie gehen immer barfuß“, erklang es.

      „Ein Zigeunerkind?“, hörte sie den Kommissar. „Zigeuner sind seit Jahren nicht mehr in Hameln registriert worden.“

      „Möglich ist aber auch, dass es sich sogar um einen Abkömmling des fürstlichen Hofes handelt. Vielleicht wurde er entführt?“, warf der Stadtschulze ein.

      „Möglich ist alles. Meiner Meinung nach ist der Junge in den Wald entlaufen. Aus welchen Gründen auch immer“, spann der Kommissar den Faden weiter. „Das würden die unzähligen Narben erklären. Vielleicht hat er sich ein paar Jahre im Wald durchgeschlagen. Hat auf Bäumen geschlafen. Die älteren Narben könnten von den Bäumen stammen, auf die er vor den wilden Tieren geflüchtet ist. Die Größeren könnten von Wölfen stammen.“

      „Einen Kampf mit einem Wolf hätte er nicht überlebt. Der Junge ist zwar von kräftiger Statur, aber bedenkt, er ist ein Kind. Nicht mal ein erwachsener Mann schafft das“, entgegnete der Bürgermeister. „Das Kind muss einen von Gott gesandten Schutzengel gehabt haben. Wahrscheinlich waren es die Wölfe selbst, die ihm Schutz gaben. Aber diese Wahrheit herauszufinden ist Eure Aufgabe, Herr Burchardy. Jetzt wollen wir erst mal sehen, wie ihm unser Essen schmeckt. Sicher wird er hungrig sein.“

      Immer mit einem Auge nach hinten und der Angst vor dem Vater im Nacken hatte Grete das Geschehen gebannt verfolgt. Sie hatte die Tür einen Spalt geöffnet, getraute sich aber nicht das Waschhaus zu betreten. Der Knabe saß angekleidet mit einem Hemd und einer Hose vor einem groben Holztisch. Die Kleidung kam Grete bekannt vor. Sie gehörte einem ihrer Brüder. Vor ihm stand ein Teller mit Fleisch. Daneben lag ein Kanten Brot. Beides schien seine Neugierde geweckt zu haben, doch der Knabe stierte das Fleisch lediglich an, ohne zuzugreifen, obwohl die Männer nichts unterließen, um ihn zu ermutigen. Irgendwann kam Bewegung in seinen Körper und er führte die Hand fast in Zeitlupe zum Tellerrand. Dann ging alles plötzlich sehr schnell. Er verfiel wieder in sein wildes Gehabe. Nachdem er das Essen wie ein Hund von allen Seiten berochen hatte, sprang er blitzschnell auf, schlug auf das Fleisch ein und zerfetzte es anschließend zwischen den Fingern. Gleichzeitig riss er sich die Kleider vom Leib und begann wie ein Irrer an den Wänden entlangzuflitzen.

      Die Anwesenden standen mit offenen Mündern sprachlos im Raum, bis der Bürgermeister das Spektakel verärgert beendete. „Gut meine Herren, wir haben alles versucht. Wie es scheint, ist der Wilde unverbesserlich. Wir werden uns jetzt zurückziehen. Der Knabe wird auf den Namen Peter getauft, wenn er gelernt hat, sich wie ein Mensch und nicht wie ein idiotischer Affe aufzuführen. Bis dahin wird er weggesperrt und August Müller wird sich um ihn kümmern. Der hat endlich eine Aufgabe, die ihm vom Wirtshaus fernhält. Ich gebe


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