Das Wolfskind und der König. Bettina Szrama

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Das Wolfskind und der König - Bettina Szrama


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konnte sich Grete nun nicht mehr enthalten und trat in das Waschhaus.

      „Ach sieh, Jungfer Grete“, begrüßte sie der Kommissar erfreut. „Wo haben Sie nur gesteckt, die ganze Zeit. Wir hätten Ihre Hilfe gebraucht. Ohne die Dompteuse bekommen wir das Raubtier nicht gebändigt. Seht, was er ohne Sie angerichtet hat.“

      „Vielleicht kennt er gar kein Fleisch. Vielleicht mag er lieber Gemüse?“ Auffordernd hielt Grete dem Kommissar den Korb hin.

      „Bohnenstängel?“ Er bekam große Augen. „Ich kenne kein Tier, was so etwas frisst. Aber versuchen Sie es ruhig“, sagte er und wies auf den Jungen, der nun wieder, wie Gott ihn geschaffen hatte, in seiner Ecke am Boden hockte und sich vor ihren Augen den Arm zerbiss.

      Grete warf ihm den Korb mit dem Bohnenkraut zu, um ihn abzulenken.

      „Kommt, meine Herren“, sagte der Bürgermeister und wandte sich angeekelt ab. „Müller wird jeden Augenblick mit dem Feldscher zurück sein. Für uns hat sich die Angelegenheit erledigt. Wenn man mich fragt, was ich von ihm halte, dann würde ich sagen – er ist nicht ganz richtig im Kopf und wahrscheinlich deswegen auch ausgesetzt worden. Wir haben nur unsere Zeit verschwendet.“

      Die Herren waren bereits in der Tür, als Grete aufgeregt rief: „Seht nur, er isst die Bohnenstängel!“

      Der Kommissar, der als Letzter das Waschhaus verließ, drehte sich nach ihr um. „Dann machen Sie es zu seiner Hauptspeise. Aber sperren Sie ihn gut ein, damit er uns nicht die Felder leerfrisst.“ Mit einem Lächeln auf den Lippen ließ er sie sprachlos zurück.

      Noch am Abend war der Feldscher bereit das Übel mit der angewachsenen Zunge mit zwei Schnitten zu lösen. Doch als der Knabe sich wieder wie eine Furie gebärdete und ihm dabei fast ein Ohr abbiss, unterließ er es. Danach wurde der Knabe von Müller und seinen Knechten in eine Kammer in die untersten Kellerräume gebracht. Um einer Flucht vorzubeugen, vernagelte er das einzige Fenster mit Holz und starken Nägeln und versperrte die Tür mit Eisenriegeln. Nun war Peter wie ein wildes Tier gefangen und Grete wusch heimlich den Hemdfetzen. Als er trocken war, bestaunte sie das feine Gewebe. Sie schob es nachdenklich zwischen den Fingern hin und her, bis sie an einer Naht neben dem Rest einstiger Spitzenrüschen die Umrisse eines verblassten Wappens entdeckte. Bis nach Mitternacht versuchte sie in ihrer Kammer im trüben Schein des Talglichts, das Wappen zu entschlüsseln. Doch die Initialen behielten ihr Geheimnis. Enttäuscht verbarg sie es beim dritten Gongschlag der Kirchturmuhr in ihrem Mieder, in der Hoffnung des Rätsels Lösung irgendwann auf die Spur zu kommen.

       Flucht

      Grete war gerade eingeschlafen, als sie durch ein Poltern geweckt wurde. Erschrocken fuhr sie hoch und rieb sich völlig benommen die Augen. Auf ihrem Gesicht lag noch das Lächeln eines Traumes, dessen letzte Fetzen durch ihre Erinnerung schwebten. Sie sah den Kommissar in seinem schneidigen, schwarzen Rock, dem Dreispitz auf dem im Nacken zu einem Zopf geflochtenem Haar und den glänzenden, langen Stiefeln. Sah, wie er sich über sie beugte, und hörte seine schmeichelnden Worte. „Ich werde den wilden Knaben zum König machen. Und Sie werden seine Königin.“ An seiner Seite lächelte Peter sie an, ein hübscher kleiner Junge mit einer Perücke und in goldenen Kleidern. Gern hätte sie noch mehr davon erfahren und so ließ sie sich wieder auf den Strohsack fallen, um weiterzuträumen. Doch diesmal riss sie das Gebrüll des Vaters aus dem Bett. Sie war sofort hellwach. Rasch warf sie sich einen Umhang über die Schultern. Dann ergriff sie die verlöschende Kerze vom Tisch, blies in die Flamme, um ihr mit ihrem Atem neues Leben einzuhauchen, und stürzte zur Tür. Als sie sie ungestüm aufriss, um die Stufen in die Küche hinabzueilen, stolperte sie dem Vater direkt in die Arme. Nachdem sie sich von ihrem Schreck erholt hatte, kam sie nicht umhin, sich ein Lächeln zu verkneifen. Im Halbdunkel des Flures hätte sie ihn eher für einen Bettler gehalten, barfuß und nur im Hemd, in lose geschnürter Hose, mit der Laterne in der Hand. Aber nicht nur das. Er hatte sein gewohntes herrisches Auftreten verloren und kam ihr müde und hilflos vor. Außerdem vermisste sie den glasigen Schimmer in seinen Augen, was ihr verriet, dass er nicht betrunken war. Ohne seinen Freund, den Alkohol, war er unsicher und zu schwach, sich den Anforderungen des Lebens zu stellen. In solchen, viel zu seltenen Augenblicken hoffte sie auf seine Liebe. Hoffte immer noch nach so vielen Jahren. Schließlich war er ihr Vater. Den Kampf um die Liebe der oberflächlichen Mutter, die ihre Freier wechselte wie ihre Hemden, hatte sie längst verloren.

      „Er ist weg“, hörte sie ihn stottern. „Du musst mir helfen, ihn zu suchen!“

      „Der Knabe?“, entfuhr es ihr erschrocken und sie bereute es sofort, nicht noch einmal nach ihm gesehen zu haben. „Wie kann so etwas geschehen, Vater? Ich habe doch selbst gesehen, wie Ihr die Tür zu seiner Kammer verriegelt habt“, fragte sie bestürzt.

      „Das habe ich auch. Aber der Wilde ist durch das Fenster geflohen. Grete, wir müssen ihn noch in dieser Nacht finden, bevor es andere tun“, flehte er. „Dir scheint er zu vertrauen. Oh, Herr im Himmel, bewahre mich vor dem Spott“, flehte er und bekreuzigte sich. „Der Bürgermeister hat bereits für seine Unterkunft bezahlt. Wie stehe ich nun vor der Obrigkeit da? Die ganze Stadt wird über mich lachen.“

      Das war es also. Der Vater fürchtete sich davor, sich lächerlich zu machen. Der kleine Funken Hoffnung, dass er aus Liebe zu ihr gekommen war und sie deshalb brauchte, starb so schnell, wie er aufgeflammt war. „Aber Herr Vater, Ihr habt doch vor den Herren geprahlt, dass kein Bär aus dieser Höhle herauskäme, geschweige denn ein kleiner Junge. Wo sollen wir ihn denn jetzt suchen? Der Morgen graut bereits. Er befindet sich vielleicht schon lange außerhalb der Stadttore.“

      „Du gehst zum Stadtschulzen am Markt und fragst nach dem Herrn Burchardy. Er schien mir der Fähigste von den Herren zu sein. Bring den Kommissar unter einem Vorwand dazu, dir zu vertrauen. Nur verrate ihnen nicht die Wahrheit. Ich gehe ins Wirtshaus und frage dort nach dem Knaben.“

      „Ins Wirtshaus? Aber da ist doch jetzt kein Mensch. Ihr sucht nur wieder nach einem Vorwand zu trinken, Vater. Um Peter aufzuspüren, müsst Ihr bei klarem Verstand sein. Sollte er sich noch in der Stadt befinden, irrt er sicher ziellos durch die Straßen. Die Bettler und Diebe werden ihn für einen Wolf halten und erschlagen.“ Sie war vorsichtshalber einen Schritt zurückgetreten. Denn dem Vater widersetzte man sich nicht. Doch die Sorge um den Jungen machte sie mutig.

      „Widersprich nicht, Tochter! Du wirst gefälligst das tun, was ich dir befehle!“, antwortete er und zog sie sogleich hastig hinter sich her die Stufen hinab in den Keller. „Hier sieh, was er fertiggebracht hat!“, sagte er, als sie in seiner Kammer standen. Die Bretter lagen zerbrochen auf dem Fußboden, während die Nägel aus ihnen herausgerissen und geradegebogen zum Teil noch im Holz steckten. Der Vater zog sie zu sich herunter und leuchtete jeden einzelnen Nagel ab. „Siehst du das! So etwas macht kein Tier und auch kein Irrer. Was glaubst du? Hat er uns zum Narren gehalten?“

      Grete staunte und wog einen der rostigen Nägel in der Hand. Er war so lang wie ihr Zeigefinger und fühlte sich schwer an. „Aber er ist doch noch ein Kind“, murmelte sie und versuchte sich gerade vorzustellen, wie der Knabe die rostigen Nägel auseinanderbog, als der Vater sie bereits wieder vor sich her zur Tür schubste.

      „Komm schon! Maulaffen feilhalten bringen ihn uns nicht wieder! Schirr das Pferd an. Ich habe es mir anders überlegt. Wir fahren erst zum Wirtshaus und anschließend gemeinsam zum Stadtschulzen. Sonst verplapperst du dich noch.“

      „Aber Vater …“

      „Geh und gehorche!“, zischte er, während sich seine Augen verengten. Grete wusste, dass es besser war, sich zu fügen. Sie zäumte auf dem Hof rasch das Pferd auf, während er hastig den Rock überwarf und die Taler in seinem Geldbeutel zählte. Insgeheim hoffte sie, ihn auf dem Weg zum Wirtshaus mittels weiblicher List zu überzeugen, zuerst den Stadtschulzen aufzusuchen. Bei dem Gedanken an den schneidigen Kommissar überflog ein Lächeln ihr Gesicht. Seine Schmeicheleien waren nicht spurlos an ihr vorbeigegangen und sie erinnerte sich an ihren kurzen aber schönen Traum.

      Müller lenkte das Gespann durch die Altenmarktstraße und umfuhr geschickt mehrere Schlammlöcher. Mit vorgebeugtem Hals achtete Grete derweil auf jedes noch so kleine Lebenszeichen von Peter. Die dunklen Gassen


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