Arlo Finch (3). Im Königreich der Schatten. John August
Читать онлайн книгу.dass ich euch nur ein kleines bisschen zu weit mitnehme – aber nah genug, dass es für mich viel zu nah ist.«
Vor sechs Wochen, nachdem Jaycee von einem Besuch bei ihrem Vater zurückgekehrt war, hatte Arlo Fox gebeten, ihm zu helfen, einen Weg durch die Long Woods zu finden. Das Ziel: ein Wald mitten in Guangzhou, China.
Das war die Stadt, in der Arlos Vater die letzten Jahre gelebt hatte, nachdem ihn die Bundesbehörden wegen diverser Computerverbrechen angeklagt hatten und er aus den Vereinigten Staaten geflohen war. Jetzt war ihr Vater ein Flüchtling. Sollte er versuchen, per Flugzeug oder Schiff wieder ins Land zu kommen, würde er sofort verhaftet werden.
Aber Arlo vermutete, dass er seinen Vater durch die Long Woods schmuggeln konnte – immerhin waren die Long Woods überall. Das Problem bestand darin, dass Arlo noch nie in diesem Wald in Guangzhou gewesen war und deshalb keine Verbindung zu ihm hatte. Keine Verbindung, kein Gefühl. Kein Gefühl, kein Weg.
Fox hatte gesagt, dass auch er sie nicht nach Guangzhou bringen konnte – sein Wissen über die normale Welt war gering. »Aber ich kenne einen Ort, der alle Orte kennt. Ich höre, sie haben dort einen Atlas, der euch alle Wege weist, raus aus den Woods und rein.«
Das schien unmöglich. Arlo war sich sicher, dass die Long Woods nicht kartiert werden konnten. Fox wusste auch nicht, wie der Atlas funktionierte, war aber überzeugt, dass es ihn gab. »Irgendwie zeigt er den Fallenstellern und Händlern den richtigen Weg.«
Wenn es also einen Weg durch die Long Woods nach Guangzhou gab, dann war dieser Atlas ihre größte Hoffnung.
»Wie weit ist es noch?«, fragte Wu, der ein bisschen aus der Puste war.
Fox blieb abrupt stehen, seine Nase zuckte. Dann warf er sich plötzlich flach auf den Boden und bedeutete ihnen, es ihm gleichzutun. Selbst in seiner menschlichen Gestalt bewegte Fox sich wie das Raubtier, das er in Wirklichkeit war.
Arlos Blick folgte Fox’ Zeigefinger zu den beiden Silhouetten in der Ferne, die sich parallel zu ihnen bewegten. Er sah zu Wu hinüber, der schon sein Fernglas hervorgeholt hatte.
»Es sind zwei Typen«, flüsterte Wu. »Jäger vielleicht?« Er gab Arlo das Fernglas.
Auf jeden Fall sahen sie menschlich aus – zwei stämmige Männer in Tarnfarben, jeder mit einem großen Rucksack. Sie unterhielten sich, waren aber zu weit entfernt, als dass Arlo sie hätte verstehen oder auch nur die Sprache hätte erkennen können, die sie benutzten.
»Sind das Fallensteller?«, raunte er Fox zu. Fallensteller fingen Waldgeister und verkauften sie für Gold und andere Schätze an die Magus.
»Wenn es Fallensteller wären, hätten sie Käfige bei sich«, flüsterte Fox. »Eher sind es Händler, die etwas schmuggeln – Drogen, Geld, Gold. Gefährliche Arbeit für gefährliche Männer. Der, den du Hadryn nennst, hat so was auch gemacht, da bin ich mir sicher. Wer das Risiko nicht scheut, kann damit ein Vermögen verdienen.«
Die zwei Männer waren mittlerweile fast außer Sichtweite. Arlo und seine Freunde waren unbemerkt geblieben. Sie krochen aus der Deckung und setzten ihren Weg fort.
»Sind wir eigentlich auch Schmuggler?«, fragte Wu. »Immerhin versuchen wir, euren Dad zurück ins Land zu schmuggeln.«
»Wir haben einen guten Grund«, sagte Arlo. »Das ist der Unterschied.«
Fox lächelte und schüttelte den Kopf. »Menschen! Immer sehen sie gute Gründe!«
Nach einer weiteren Wegstunde roch Arlo Rauch. Es war kein Lagerfeuer. Was der Wind herantrug, roch nach Öl und Schwefel, so wie der Dieselgenerator hinter Mitchs Garage.
»Wir sind dicht dran, oder?«, fragte Arlo Fox.
»Ich glaube«, sagte Fox. »An diesem Ort stellen sich mir die Haare auf. Als ich das letzte Mal hier war, war ich noch ein Welpe.«
»Du wurdest gefangen?«
Fox nickte. »Sie haben Eichhörnchen als Köder genommen. Die waren schon immer meine Schwäche.«
»Wie bist du entkommen?«, fragte Wu.
»Scharfe Zähne und fette Finger. Ich biss zu. Sie haben den Käfig fallen lassen. Er ging auf und ich bin gerannt. Hab mir geschworen, nie wieder herzukommen.«
Sie erreichten eine Anhöhe, fanden sich auf einem Felsvorsprung wieder und sahen die Quelle des Rauchs.
Im Tal zu ihren Füßen lag eine heruntergekommene Stadt, aus Hunderten Schloten stiegen Rauchsäulen auf. Diese Stadt war anders als alles, was Arlo bisher gesehen hatte, eine willkürliche Ansammlung von Häusern aus jeder erdenklichen Kultur und Epoche. Bröckelnde Pagoden lehnten sich gegen plumpe Backsteinhütten mit Dächern aus Wellblech. An einem gewaltigen schwarzen Obelisken vertäute Hanfseile stützten ein verschlissenes rot-weißes Zirkuszelt. Nicht weit vom Stadtzentrum stand ein komplettes Passagierflugzeug, dessen riesige Tragflächen zum Dach kleiner Gebäude umfunktioniert waren.
»Wo kommt das alles her?«, fragte Wu.
»Von überall«, sagte Fox. »Manchmal fallen Dinge durch die Risse in eurer Welt. Schlüssel und Socken, aber auch größere Sachen. Schiffe. Flugzeuge. Menschen. Bisweilen sind ganze Städte durchgerutscht. Und wenn das passiert, landen sie hier.«
Jaycee bückte sich und hob eine schwarze Fernbedienung auf. Sie war dreckig und feucht, wirkte aber einigermaßen modern. Die Dioden leuchteten noch, als sie die Tasten drückte. Arlo konnte sich vorstellen, wie der Eigentümer genervt zwischen den Sofakissen suchte, fest davon überzeugt, dass sie irgendwo sein musste.
Aber das war sie nicht. Sie war in den Long Woods.
»Das ist Fallbach«, sagte Fox. »Die Stadt der verlorenen Dinge.«
DIE EULE UND DIE SCHLANGE
Wo findet man einen Atlas? Es war wie eines dieser sich um sich selbst drehenden Rätsel von Dad, so als würde man Wörterbuch in einem Wörterbuch nachschlagen.
Fox’ Quellen zufolge war der Atlas irgendwo in Fallbach. Darüber hinaus wusste Fox nur zu berichten, dass der Atlas angeblich von einer Eule und einer Schlange bewacht wurde. Aber handelte es sich dabei um Eule und Schlange im eigentlichen Sinn oder war damit eine Art Geist gemeint? Fox war sich nicht sicher.
»Vielleicht ist es eine Chimäre«, sagte Wu. »Ein Wesen, das halb Eule und halb Schlange ist.« Das brachte ihn auf eine Idee. »Die fressen beide Ratten, vielleicht können wir ihr also eine zu fressen geben und so an ihr vorbeikommen. Eine Ratte treiben wir schon irgendwo auf, wetten?«
Jaycee fehlte die Geduld für Wus Ideen. »Was redest du da? Wir fragen einfach. Irgendjemand wird schon wissen, wo er ist.«
»Und was, wenn sie es uns nicht verraten wollen?«, fragte Arlo.
Jaycee zuckte mit den Schultern. »Darum kümmern wir uns dann. Wir können nicht einfach rumstehen und uns über Sachen den Kopf zerbrechen, die noch gar nicht passiert sind.« Mit diesen Worten marschierte sie den Hügel hinab in Richtung Fallbach.
Bei der Planung dieser Expedition hatte sich Arlo gefragt, wie Jaycee wohl mit den Herausforderungen der Long Woods umgehen würde. Würden die Woods sie überwältigen? Würde sie durchhalten? Dabei hatte er nicht bedacht, wie gut seine Schwester auf solche Situationen vorbereitet war. Wie er war sie immer die Neue in der Schule gewesen, hatte sich immer schnell auf neue Regeln eingestellt. Sie war vielleicht noch nie in diesem verzauberten Wald gewesen, aber sie hatte sich in Philadelphia und Chicago zurechtgefunden. Sie war alleine nach China geflogen. Sie hatte mehr von der richtigen Welt gesehen als Arlo.
»Sie hat recht«, sagte Arlo zu Wu. »Das sehen wir dann.«
Arlo und Wu bedankten sich bei Fox und folgten dann Jaycee den Weg hinab in die Stadt. Als Arlo sich umdrehte, war Fox schon verschwunden.
Fallbachs