Evolution Bundle. Thomas Thiemeyer
Читать онлайн книгу.war das schon immer bekannt, nicht aber bei Kopffüßern. Wie auch immer: Das mutierte Tier vermehrt sich und gibt die vorteilhafte Information an seine Kinder weiter. Die Kinder und Kindeskinder verbessern die Eigenschaften, perfektionieren sie und erobern so einen völlig neuen Lebensraum. Alles klar so weit?«
Alle nickten. Lucie hatte das alles zwar schon mal gehört, doch sie schien es erst jetzt richtig verstanden zu haben.
»Mutation also. Dabei gilt es, eine Sache zu beachten: Je einfacher und primitiver eine Lebensform ist, desto schneller treten Mutationen auf«, erklärte Roderick. »Am häufigsten findet man sie bei Viren und Bakterien. Sie verändern sich eigentlich dauernd.«
»Und was hat das alles mit den Kopffüßern zu tun?«, fragte Lucie.
»Darauf komme ich gleich«, sagte Roderick. »Wichtig ist, dass Sie das Prinzip verstehen.« Er schien ganz in seinem Element zu sein. »Kommen wir nun zu der eben erwähnten Protomaterie. Sie hatte einen verblüffenden Effekt auf das bestehende Leben auf der Erde, denn sie wirkt wie eine Art Dünger. Sie begünstigt Mutationen und beschleunigt damit die Evolution.« Er warf ihnen einen bedeutungsvollen Blick zu.
»Evolutionsdünger gelangt also ins Meer und von dort aus in den Wetterkreislauf. Er breitet sich rasend schnell über die ganze Erde aus. Er gelangt in den Regen und von dort aus ins Trinkwasser. Als Erstes befällt er Viren und Bakterien. Auch die in unserem Körper. Es mag Ihnen nicht bewusst sein, aber zwei Kilogramm von jedem von Ihnen bestehen aus Bakterien. Sie sind ein Teil von Ihnen. Ihr Körper ist so gesehen ein gigantischer Bakterienzoo.«
»So ein Unsinn.« Katta verzog das Gesicht. »Das hieße ja, wir wären alle krank.«
Roderick schüttelte den Kopf. »Bakterien sind für die Funktionen eines menschlichen Körpers unerlässlich. Sie schützen die Haut, helfen bei der Verdauung, bilden Vitamine und regen die Immunabwehr an. Aufgrund des Evolutionsdüngers kommt es jetzt zu Mutationen. Winzige Veränderungen, die aber eine verheerende Wirkung haben. Sterilität. Die Menschheit wurde unfruchtbar. Frauen wurden nicht mehr schwanger, es wurden keine Babys mehr geboren. Das war der Anfang vom Ende.«
»Du meine Güte«, flüsterte Katta. »Heißt das, dass es jetzt auch uns erwischt hat? Ich meine, dieses Zeug ist doch immer noch in der Luft, oder?«
Lucie schwirrte der Kopf von so vielen Informationen.
»Darüber habe ich leider keine gesicherten Informationen«, erwiderte Roderick. »Es wäre blanke Spekulation. Aber ein gewisses Risiko besteht, ja.«
»Wieso hast du uns das nicht schon gestern erzählt? Du hättest uns doch warnen können. Dann hätten wir vielleicht noch irgendwo Gasmasken besorgt und uns geschützt.«
»Ich bezweifele, dass das etwas genutzt hätte«, sagte Arthur. »Wir waren der Luft bereits viel zu lange ausgesetzt.«
Kattas Schultern sanken nach unten. »Auch wieder wahr …«
»Was geschah dann?«, fragte Lucie. Sie fürchtete sich davor, was noch folgen konnte, aber sie musste jetzt die ganze Wahrheit hören.
»Exitus«, sagte Roderick. »Nicht schnell, aber beständig – Jahr für Jahr ein paar mehr. So lange, bis am Schluss niemand mehr übrig war. Ein halbes Jahrhundert mag evolutionstechnisch sehr kurz sein, aber für euch Menschen ist es eine lange Zeitspanne. Ich glaube aber, dass ihr nicht sehr gelitten habt.«
»Du sagst das so einfach, du bist kein Mensch«, meinte Lucie. »Mir fällt es schwer zu glauben, dass es so einfach abgelaufen ist.«
»Vermutlich haben sich alle damit abgefunden«, warf Arthur ein. »Menschen sind anpassungsfähig. Irgendwann war es normal, keine Kinder mehr zu bekommen. Die Menschen wurden älter und starben friedlich.«
»Das denke ich auch«, sagte Jem. »Zuerst wurden die Städte aufgegeben, später die Dörfer. In die neu entstandene Lücke drangen Pflanzen und Tiere ein. Die Natur holte sich alles wieder zurück.«
Lucie schüttelte den Kopf. »Und man hat nie ein Gegenmittel gefunden?«
Roderick blickte betrübt. »Bedaure, nein. Die Menschen schlossen ihre Geschäfte und gingen fort. Sie wurden alt und starben. Allerdings gab es wohl vereinzelte Konflikte mit den Squids. Die Menschen sahen in der neu entstandenen Lebensform einen Feind. Immerhin drangen sie überall dort ein, wo die Menschen sich zurückzogen. Doch wie das im Einzelnen ablief, darüber kann ich nichts sagen. Dazu müssten Sie weitere Daten dechiffrieren. Ich habe Ihnen so viel erzählt, wie ich weiß. Wenn Sie mich brauchen, Sie wissen ja, wo Sie mich finden.«
Bzzz … und er war weg.
Lucie schwieg. Genau wie die anderen. Jeder versuchte, auf seine Weise mit den Informationen fertig zu werden. Was natürlich unmöglich war. Vermutlich würden noch Wochen vergehen, bis sich alle damit abgefunden hatten. Aber immerhin wussten sie jetzt, woran sie waren.
»Statt in die Bibliothek zu gehen, hätten wir uns mal lieber auf den Friedhöfen umsehen sollen«, sagte Jem düster. »Dort hätten wir die Antwort sicher früher erhalten. Lasst uns weiterfahren und nach den Überlebenden suchen. Mein Bedarf an schlechten Nachrichten ist für heute gedeckt.«
Außerhalb von Colorado Springs veränderte sich die Landschaft. Es gab deutlich weniger Bäume und Büsche. Sie wechselten vom Highway 25 auf die 115, die direkt bis an den Fuß des Cheyenne Mountain führte.
Jem saß wieder vorne am Lenkrad, Lucie neben ihm. Mit argwöhnischem Blick musterte er den Himmel. Ein Vogelschwarm hing über ihren Köpfen. Diesmal waren nicht nur Krähen und Raben mit dabei, sondern auch große Raubvögel. Ein Anblick, der Jem eine Scheißangst bereitete.
»Verdammt noch mal«, murmelte er. »Sieht ganz so aus, als hätten sie uns wiedergefunden.«
»Aber wie ist das möglich?«, fragte Lucie. »Ich dachte, wir wären ihnen entkommen.«
»Zu früh gefreut«, erwiderte Jem. »Diese Viecher haben verdammt gute Augen. Und unser Bus ist nicht gerade unauffällig.«
»Aber warum?« Lucie berührte sanft seinen Arm. »Reicht es denn nicht, dass sie uns aus der Stadt vertrieben haben? Warum folgen sie uns bis in die Berge? Wir stellen doch für niemanden eine Bedrohung dar.«
»Das wissen wir, aber wissen sie das auch?« Jem verfolgte den stetig größer werdenden Schwarm. »Wir Menschen waren doch noch nie sonderlich zimperlich im Umgang mit der Natur. Ich habe mal irgendwo gehört, dass alle zwölf Minuten irgendwo eine Art ausstirbt.«
»Zwölf Minuten, das ist ja furchtbar. Könnte es vielleicht sein, dass sich all diese Arten plötzlich gegen die Menschheit verbündet haben?«
Jem warf einen besorgten Blick nach oben. »Kann schon sein«, flüsterte er. »Sieh dir das mal an! Ich bin ja weiß Gott kein Tierkenner, aber da kreisen Adler neben Kranichen und Falken neben Krähen. Eigentlich müssten die sich doch an den Kragen gehen, aber sie benehmen sich wirklich wie Verbündete.«
»Wie heißt es doch so schön?«, murmelte Lucie. »Der Feind meines Feindes ist mein Freund.«
Jem schüttelte den Kopf. »Irgendetwas muss geschehen sein, das diese anormale Verhaltensänderung bewirkt hat, und ich glaube, die Squids sind der Schlüssel zu diesem Rätsel.«
»Glaube ich auch«, pflichtete Lucie ihm bei. »Wenn wir einen Weg finden könnten, uns mit ihnen zu verständigen, dann könnten wir sie wenigstens von unserer Unschuld überzeugen.«
»Dazu müssten wir erst mal wissen, wo sie sich aufhalten«, sagte Jem. »Aber wie willst du dich mit einem Tier verständigen, das unsichtbar ist? Sie könnten hier überall sein und wir würden sie nicht erkennen.« Er hämmerte mit der Hand auf das Lenkrad. »Ein verfluchter Mist ist das.«
»Warum kann es nicht einfach wieder so werden wie früher?«, fragte Lucie leise. »Ich will doch