Die verlorene Insel. Nataliya Gumenyuk
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ibidem-Verlag, Stuttgart
Inhalt
In Schokolade getaucht, oder: der See, den es nicht gibt
Teil III ANGST
Schneidet mir die Zunge heraus, ich habe vor nichts mehr Angst
Teil IV ZORN
Die Krim zu verlassen ist wie eine kranke Mutter zurückzulassen
Teil V MUT
Ukrainisch bleiben auf der Krim
Einmal um die halbe Welt: Der Fall Senzow-Koltschenko
Teil VI SCHMERZ
Getrennt: wie es ist, Mutter, Frau, Vater eines politischen Gefangenen auf der Krim zu sein
Teil VII EINSAMKEIT
Wir haben die besten Spezialeinheiten weit und breit
Teil VIII ENTTÄUSCHUNG
Nachwort HOFFNUNG
Vorwort
Zu den unschönen Eigenschaften von Medien gehört, schnell da zu sein, wenn es knallt, und schnell wieder weg zu sein, wenn der Stillstand eintritt. Wenn Emotionen aufgebraucht sind und Geschichten erschöpft, wenn auch die schlauste Analyse nichts mehr erklärt, dann ziehen die Reporter und Reporterinnen weiter: Zum nächsten Krisenort, zur nächsten Tragödie, zur nächsten Geschichte.
Man kann diese mediale Hyperaktivität ganz sicher kritisieren, aber zur Wahrheit gehört eben auch: Die Leser und Leserinnen sind anspruchsvolle Wesen, die sich schnell langweilen. Sobald sie das Gefühl der Wiederholung haben, verlieren sie das Interesse. Wer könnte es ihnen auch verübeln? Gumenyuk kennt diese Schwierigkeiten. Als die Krim kurz nach dem Ende des Maidan-Protestes von Soldaten ohne Hoheitszeichen in grünen Uniformen besetzt wurde, war die Annexion das wichtigste Thema in der russischen, ukrainischen und internationalen Presse. In Russland waren Staatsmedien und Regierungspolitiker wie benebelt von ihrem plötzlich erwachten Krim-Patriotismus, in der Ukraine war der Verlust der Halbinsel das alles beherrschende Thema. Und in den internationalen Medien wurden Überlegungen angestellt, was wohl als nächstes passieren würde, wo noch grüne Männchen auftauchen könnten. Die Redaktionen sandten ihre Reporter aus, um über die ominöse Einnahme der Halbinsel zu berichten.
Ich war ebenfalls als Reporterin im Frühjahr 2014 auf der Krim, auch ich sprach Anfang März 2014 mit ukrainischen Soldaten und einem Oberst – so wie später Nataliya Gumenyuk. Aber anders als Gumenyuk kam ich nicht wieder. Irgendeine gute Begründung hatte ich immer: die Krisen woanders; der beginnende Krieg im Donbas; die Auflagen der ukrainischen Behörden, die zeitfressende, komplizierte Einreise auf die Halbinsel, die auf mich wie eine Schikane wirkten; die Redaktion schien nicht sonderlich interessiert. Es tat sich ja auch wenig auf der Krim – wie eingefroren schien der Zustand zu sein nach der militärischen Annexion, die mit einem fingierten Referendum besiegelt wurde. Als sei auf der Krim die Zeit stehen geblieben. Gumenyuk kennt das Problem. Für Journalisten ist die zwanzigste, fünfzigste Verhaftung von Krimtataren und Regimegegnern nichts, worüber man wieder berichten würde. „Für die betroffene Familie ist jede Verhaftung einmalig, unwirklich, noch nie dagewesen – nicht jedoch für den Leser.“
Obwohl die Annexion der Krim eine politische Katastrophe und eine menschliche Tragödie für die Ukraine bedeutet, obwohl Familien zerrissen und Biografien zerstört wurden, schwindet selbst in der ukrainischen Gesellschaft das Interesse, beobachtet Gumenyuk. „Das Thema Krim ist ohnehin nicht sonderlich populär“, schreibt sie an einer Stelle eher beiläufig. „Weshalb man die Aufmerksamkeit eines breiteren Publikums nur mit wirklich gutem Material gewinnen kann.“ Man liest, man staunt, aber so ist der Mensch wohl: Unfähig, zu lange den Schmerz der Anderen in sich wachzuhalten, wenn er selbst in Frieden weiterleben will.
In Deutschland schien von der ersten Stunde an das Interesse an der Krim gewaltig zu sein. „Krim-Annexion“ wurde zum Reizwort, kein anderes bescherte mir um 2014 herum so viele Leserbriefe. Aber das Interesse war allzu oft ein scheinbares; gerade die Meinungsstarken interessierten sich nicht für die Krim, sondern für die Projektionsfläche, die sie bot. Der frühere Bundeskanzler Gerhard Schröder, von dem nicht bekannt ist, dass er die Halbinsel jemals besucht hat, erklärte, die Krim sei „altes russisches Territorium“ und die Annexion „keine Abtrennung, sondern eine durch die Bevölkerung genehmigte, also keine aggressive“ Handlung. Der Fußball-Funktionär Uli Hoeneß vermutete die Halbinsel zwar im Mittelmeer, war aber überzeugt, dass der Kreml sich mit der „Einnahme“ gegen die Expansion der Nato schützen musste. In Kommentaren erklärten Leserbriefschreiber und plötzlich erwachte Hobby-Historiker wieder und wieder, warum die Halbinsel geopolitisch für Russland unverzichtbar sei und das Vorgehen deshalb legitim, warum sie schon immer russisch war und russisch blieb. Plötzlich schien die Krim zur ganz persönlichen Chiffre zu werden – über sie wurde das Verhältnis zwischen Deutschland und Russland abgehandelt. Und während sich die Schreibtisch-Strategen weit weg vom Ort des Geschehens in ihre geopolitischen Planspiele vertieften, nahmen sie eines nicht wahr: Die Stimmen jener, die vor Ort von der Annexion betroffen sind. Die nun unter russischem Recht leben, ob sie wollen oder nicht.
Gumenyuk lässt insbesondere die Krimtataren zu Wort kommen. Sie wurden aus ihrer Heimat unter Stalin 1944 deportiert und durften erst Ende der 80er Jahre zurückkehren. Nun wird wieder ihr kollektives Trauma wach, fürchten sie wieder, die Heimat zu verlieren. Deportiert werden sie nicht, natürlich nicht. Aber sie werden massenhaft eingesperrt, unter fadenscheinigen Vorwürfen angeklagt. 20.000 Krimtataren, fast ein Zehntel der krimtatarischen Bevölkerung, sollen die Halbinsel bereits verlassen haben. Wer über die Zukunft der Krim spricht, darf sie nicht außen vor lassen.
Von ihnen und vielen anderen, die in diesem Buch zitiert werden, könnten Gerhard Schröder oder Uli Hoeneß zum Beispiel erfahren, wie es ist, heute auf der Krim Ukrainisch zu sprechen. Oder verpflichtet zu sein, in der eigenen Heimat plötzlich Aufenthaltsgenehmigungen von fünf Jahren beantragen zu müssen. Oder in der Medschlis, einer Selbstverwaltung der Krimtataren, aktiv zu sein. Oder seinen Glauben zu praktizieren. Oder die russische Staatsangehörigkeit nicht annehmen zu wollen. Oder nicht damit einverstanden zu sein, wie Lehrbücher umgeschrieben werden und dass ein Denkmal auf der Halbinsel die „grünen Männchen“ ehrt, die sie militärisch eingenommen haben –