Die verlorene Insel. Nataliya Gumenyuk

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Die verlorene Insel - Nataliya Gumenyuk


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mit Rentnern und Schülern, mit Ärzten und Lehrern, mit Militärangehörigen und Anwälten, mit den Gebrochenen und mit den Standhaften unterhalten – und mit solchen, denen es auf den ersten Blick gutzugehen scheint.

      Der vielleicht nicht schwierigste, aber dafür kniffligste Teil der Arbeit als Journalistin auf der Krim waren für mich nicht die Fragen nach der eigenen Sicherheit oder die Befangenheit der Menschen im Gespräch. In all den Jahren war es jedes Mal dasselbe: immer, wenn ich auf die Krim zurückkehre, hat sich scheinbar nichts verändert – so als gäbe es keinen Lauf der Geschichte mehr. Über die Preise, die Russifizierung, die Ankömmlinge aus Russland wurde bereits erschöpfend berichtet. Wieder werden Krimtataren und Regimegegner festgenommen. Doch ist dies bereits die zwanzigste, fünfzigste, sechsundfünfzigste Verhaftung. Für die betroffene Familie ist jede Verhaftung einmalig, unwirklich, noch nie dagewesen – nicht jedoch für den Leser. Und die absurden Staatsakte mit Militärangehörigen und sowjetrussischen Flaggen am „Tag des Verteidigers des Vaterlandes“, am Jahrestag des „Referendums“ oder am Tag des Sieges muten zwar bizarr an, aber haben ihren Nachrichtenwert verloren.

      Mir scheint jedoch, dass der dumpfe Schmerz der Annexion, den jemand genau in diesem Augenblick verspürt, trotz allem beschrieben werden kann. So, wie man zeigen kann, wie die Besatzung für Millionen von Menschen zu einem neuen Alltag geworden ist. Einem Alltag, an den man sich gewöhnen kann, denn jeden Tag ruft die Arbeit, die Schule, und so fort. Schon das sechste Jahr in Folge erleben die Kinder den Schulbeginn in der Schule eines völlig anderen Staates, und vielleicht wissen sie nicht einmal, dass vor nicht allzu langer Zeit alles noch ganz anders gewesen ist.

      Dieses Buch kommt ohne explizite Schlussfolgerungen aus – mit einer Ausnahme: Relatives Glück und Frieden der Mehrheit können nicht erlangt werden, wenn der Preis dafür das Leiden anderer ist, und selbst wenn die relative Mehrheit nicht leidet, so hebt die systematische Unterdrückung der Minderheit diese vermeintliche Stabilität wieder auf.

      Ich beabsichtige weder eine Analyse der Ursachen der Annexion noch fertige ich eine Chronologie der Eroberung und der Rechtsverletzungen an. Es ist dies eine Sammlung von Reportagen, basierend auf eigenen Reisen, Interviews und Eindrücken. Es ergab sich, dass nur wenige der Journalisten, die während der Annexion – im Februar/März 2014 – auf der Krim tätig waren, wieder dorthin zurückgekehrt sind. Eine ausländische Journalistin beklagte sich darüber, dass ihre große Redaktion nicht das Risiko eingehen wolle, sie „wegen einer Geschichte, die sich kaum verändert“ zurückzuschicken – auch, weil dies zu viel Zeit koste. Mit sämtlichen Genehmigungen und dem Weg über Tschonhar oder Tschaplinka nehmen Hin- und Rückreise einen ganzen Tag in Anspruch.

      Es gibt Kollegen, die ich bewundere, da sie häufiger als ich bei den Gerichtsprozessen gegen politische Gefangene anwesend sind und deren Schicksale genauer verfolgen, die jedoch nicht unbedingt seit den Anfängen der Besatzung auf der Krim gewesen sind. Es gibt diejenigen, die geblieben sind, um im Untergrund weiter tätig zu sein, und es gibt solche, die sich gezwungen sahen, ihren Beruf zu wechseln, wobei die Mehrheit der Lokaljournalisten auf das Festland übersiedelte. Seit fünf Jahren widme ich mich der mir zugefallenen Aufgabe, zu beobachten, was sich auf der Krim ereignet, und zu erkennen, was sich geändert hat, was erstarrt ist, und warum der Schmerz nicht nachlässt. Es gibt also noch eine andere Antwort auf die Frage, warum ich beschlossen habe, dieses Buch zu schreiben: Da es mir gelungen ist, diesen Menschen zu begegnen und sie mir ihre Geschichten erzählt haben, habe ich einfach nicht das Recht, sie für mich zu behalten.

       März 2014

      Bachtschyssaraj – Balaklawa – Sewastopol – Jalta – Simferopol

      Selbsternannte Kosaken kontrollieren die Ausweise der Passagiere, die auf die Krim reisen. Dschankoj ist der erste Halt auf der Halbinsel. Ich liege auf der oberen Pritsche eines Schlafabteils und täusche völlige Müdigkeit vor. Während ich meinen Pass hervorziehe, hebt sich mein Kopf fast unmerklich vom Kissen. Mein Smartphone ist sauber – kein einziges Foto vom Maidan ist darauf zu finden.

      Ein Mann lugt in unser Abteil. Meinen Pass würdigt er kaum eines Blickes, und damit ist meine Einreise auf die Krim geglückt. Wir schreiben den 16. März 2014. Heute soll ein sogenanntes Referendum über den Status der Krim stattfinden. Der Zug fährt bis nach Sewastopol, ich steige in Bachtschyssaraj aus.

      Doch am Tag der sogenannten „Abstimmung über die Unabhängigkeit der Krim“ weigern wir uns noch, diese neue Realität zu akzeptieren, und hoffen darauf, die Zeit zurückdrehen zu können.

      Über dem bekannten krimtatarischen Café Musafir weht die Flagge der Krimtataren. Das Lokal liegt ein Stückchen oberhalb des Weges. Mit meinem Smartphone filme ich ein vorbeifahrendes – ein russisches – Militärfahrzeug. Ich möchte daran glauben, dass die Aufnahme als Beweis für die Präsenz ausländischer Truppen taugt.

      Im Musafir arbeiten mehrere Journalisten aus verschiedenen Ländern an ihren Laptops. Ich habe eine Tarnidentität. Wahlweise gebe ich vor, eine lokale Übersetzerin oder die Freundin eines estnischen Journalisten zu sein. Mein „Freund“ war einst der jüngste Abgeordnete des estnischen Parlaments. Er war der einzige EU-Politiker, der 2004 während der Orangenen Revolution im Zeltlager auf dem Maidan lebte. Jetzt ist er einfach freiberuflicher Journalist. Ich habe die Kontakte zu den Protagonisten und werde Geschichten für den Internet-Fernsehsender Hromadske aufschreiben, und solange wir zusammenarbeiten, begleitet er mich zu allen Interviews und Treffen und schreibt Texte für estnische Medien.

      Der Maidan ist gerade zu Ende gegangen und die Arbeit von Hromadske schlägt hohe Wellen. Das Bild eines Kollegen wird auf den Kundgebungen der Separatisten gezeigt – als Zielscheibe. Jetzt ist nicht die Zeit für Live-Übertragungen von der Krim; man erregt besser keine Aufmerksamkeit und behält den aktuellen Aufenthaltsort einer ukrainischen Journalistin für sich. Meine Aufgabe besteht somit weniger darin, Aufmerksamkeit zu generieren, als vielmehr darin, herauszufinden, was hier wirklich vor sich geht. Mein Kollege ist einige Tage früher angekommen und hat es geschafft, gemeinsam mit einem estnischen Fernsehteam (das nicht länger auf der Krim erwünscht ist) einige Szenen einzufangen. Er hat auch Perewalne besucht, wo er russische Soldaten ohne Hoheitsabzeichen gefilmt und das Material an uns weitergereicht hat. Die bewaffneten Männer mit vermummten Gesichtern hüllten sich einfach in Schweigen, und den Ortsansässigen mit ihren schwarz-


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