Die verlorene Insel. Nataliya Gumenyuk

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Die verlorene Insel - Nataliya Gumenyuk


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durch die Vielstimmigkeit derjenigen, die zurückgeblieben sind. Darunter finden sich „schweigende“ ukrainische Oppositionelle, die Wahlen boykottieren, ihre Kinder von russischen Schulen fernhalten und die Ukrainisch-Orthodoxe Kirche besuchen; da gibt es Unternehmer und Sozialarbeiter, ebenso wie Befürworter der Annexion, die sich mit russischen Korruptionsschemen herumschlagen. Eine andere Woge spült die Geschichten der Nachkommen der unterdrückten Krimtataren – und mit ihnen die Erinnerungen an die Deportation – an die Oberfläche. Zwischen diesen Geschichten schimmert eine neue Inselidentität durch: den Gefangenen, Verlassenen, Vertriebenen fällt die Bürde zu, ihr Dasein unter extremen Restriktionen zu behaupten.

      Natalija Gumenyuk setzt alles daran, den Veränderungen sämtlicher Aspekte des materiellen Lebens, der wirtschaftlichen und sozialen Wirklichkeit sowie den Migrationsbewegungen nachzuspüren – denen also, die die Krim verlassen, und denen (vorwiegend Mitglieder der Sicherheitsbehörden), die sich dort ansiedeln. Zugleich schildert die Autorin die Metamorphose des kollektiven historischen Gedächtnisses, befeuert von einer vorsätzlichen Instrumentalisierung, die einige Jahre zuvor noch unvorstellbar gewesen wäre. Dieses neue Gedächtnis erscheint als eine Art Monolith, der das Gefühl der Isolation gleichsam zementiert. Es sieht nicht danach aus, als wären in diesem neuen historischen Überbau drastische Brüche vorgesehen.

      Die Isolation wird auch über die Grenzen der Krim hinausgetragen. Davon zeugen die Reportagen über das Schicksal von Oleh Senzow und Oleksandr Koltschenko, deren Überstellung und anschließende Freilassung uns dazu zwingen, die Distanz und Verlassenheit der Krim in aller Schärfe nachzuempfinden. Dieses Buch ist ein Versuch, die Isolation zu durchbrechen und Geschichte in ihrem Werden zu begreifen – mit all ihren Widersprüchen, ihrer Gewaltförmigkeit, ihren Zusammenstößen ideologischer Narrative und ihren Praktiken des täglichen Überlebens und der Adaption.

      Natalija Gumenyuk begreift Geschichte aus einer humanistischen Warte heraus als ein Mosaik aus Mikroerfahrungen der Inselbewohner, die für sich selbst stehen. Solch eine inklusive Position verlangt nach einem offenen Ende der ukrainischen Geschichte der Krim. Gleichzeitig schlägt die Auseinandersetzung mit den sozialen Aspekten des gesellschaftlichen Lebens eine Brücke nicht nur zur fernen Krim, sondern fördert auch das Verständnis der Realitäten auf dem ukrainischen Festland. Dieses Buch handelt nicht nur vom Widerstand der Vergessenen und Zurückgelassenen. Sein Erscheinen ist selbst ein Akt des Aufbegehrens gegen die Alternativlosigkeit der Krim-Annexion. An die Stelle des Schweigens muss eine Sprache der Rückkehr treten. Die Artikulation einer solchen Sprache ist eine unermüdliche und akribische Arbeit, die neben der Tatkraft der Autorin auch Empathie und Offenheit für das Menschliche in all seinen Facetten erfordert.

      Die Krim ist im Kontext des russisch-ukrainischen Krieges unfreiwillig zur möglicherweise größten Herausforderung für die ukrainische und internationale Politik geworden. Diese Herausforderung erfordert eine ethische Positionierung und eine radikale Vorstellungskraft, die es ermöglichen würde, die Krim wieder anzueignen und zurückzuholen. Vor Ihnen liegt die Einladung, das Gespräch über die Rückkehr fortzuführen.

      Kateryna Mishchenko

      Publizistin, Kuratorin

      „Wozu schreibst du dieses Buch?“, werde ich von einer Journalistin aus dem Ausland gefragt. Sie macht das nicht der bloßen Kritik wegen: Fragen dieser Art – frei aus dem Bauch – beflügeln das Denken und schärfen den Geist. Ich zögere meine Antwort hinaus, obwohl meine Gedanken ohne Unterlass um diese Frage kreisen.

      Ich schreibe dieses Buch, damit die Menschen, die in den vergangenen Jahren nicht auf der annektierten Krim gewesen sind oder dort gelebt haben, zumindest eine vage Vorstellung vom Leben dort bekommen. Dabei geht es nicht unbedingt darum, wie es sein muss, die Mutter, Frau oder Tochter eines politischen Gefangenen zu sein, oder ein Menschenrechtler oder Aktivist, der täglich in Gefahr schwebt; ein Militärangehöriger, der sich entscheiden muss, ob er aus Sorge um seine Familie seinen Eid bricht oder sich in Gefahr begibt oder jemand, der die ukrainische Sprache wertschätzt; ein Priester, dessen Kirche gesetzlich verboten wurde; ein Unternehmer, der vor den Scherben seiner Existenz steht, und so fort. Die meisten Menschen werden weiterhin davon ausgehen, dass diejenigen, die von der Annexion betroffen sind, entweder außergewöhnliche Helden sind, die sich bewusst für den Weg des Kampfes entschieden haben – oder aber, dass sie einfach Pech hatten und sich diesem Kampf nun gezwungenermaßen anschließen. Doch das sind Ausnahmen. Und selbst wenn wir die Helden und die Pechvögel – die bewussten und die umständehalber dazu gewordenen Kritiker der Annexion – als eine Kategorie denken, bilden sie immer noch die Minderheit. Die Mehrheit der Krimbewohner hingegen schlägt sich mit knapper Not durch.

      Doch was mag ein Mensch empfinden, der unversehens unter eine Fremdherrschaft geraten ist?

      Seit der russischen Annexion der Krim trete ich Jahr für Jahr auf Dutzenden von Konferenzen auf und unterhalte mich mit ebenso vielen ausländischen wie ukrainischen Journalisten und Experten. Und ich muss mit Befremden feststellen, dass selbst die klügsten Köpfe nicht vor der Vorstellung gefeit sind, dass die Krim-Frage als solche ein wenig zurückgestellt werden könne. Schließlich gehe es weder um aktive Kampfhandlungen, die sofort eingestellt werden müssen, noch um Massenfolter oder -verhaftungen von zehntausenden Menschen. Daher sei die Situation auf der Krim nicht sonderlich lebensbedrohlich und die Lösung des Konflikts könne noch warten.

      Dabei bleibt der Schmerz der Routine zu keinem Zeitpunkt aus. Dumpf, stechend, bisweilen stumm, und doch ein Schmerz – von jener Sorte, die sich vor Außenstehenden verborgen hält, den du aber jeden Tag verspürst.

      Ein Schmerz, an den man sich anpassen und gewöhnen kann, und den man irgendwann als gegeben hinnimmt.

      Ein Schmerz, der sich jeden Tag in Erinnerung ruft, da du zum Abendessen wie immer eine zweite Portion zubereitest für deinen Mann, der seit zwei Jahren im Gefängnis sitzt.

      Du spürst ihn, weil du dir angewöhnt hast, mit den Kollegen nur über den Arbeitsalltag zu reden, weil sie dich aus heiterem Himmel anschwärzen könnten und du bestenfalls nur deinen Job verlierst.

      Er ist urplötzlich da, wenn dir schlagartig bewusst wird, dass du vor einigen Jahren ein Geschäft geführt und mit Diplomaten zusammengearbeitet hast, und nun suchst du Arbeit als Verkäufer auf dem Markt oder versuchst es deinetwegen als Maler.

      Er reiht sich mit dir in die Warteschlange zur Eintragung eines Hauses ins Grundbuchamt ein – deines Hauses, das du vor mehr als fünfzig Jahren mit deinen eigenen Händen gebaut hast, doch dein Antrag wird schließlich abgelehnt.

      Er wartet am Checkpoint der Verwaltungsgrenze auf dich, wo du gleich doppelt gedemütigt wirst: erst aus Angst vor den Feind, dann, weil deine eigenen Leute in dir einen potenziellen Feind sehen.

      Er sitzt neben dir, wenn die Taxifahrer, die normalerweise ohne Punkt und Komma über Politik reden, nun einfach schweigen, um der Fremden gegenüber keine unbedachte Äußerung fallen zu lassen.

      Er begleitet dich, wenn du in der falschen Gegend deiner Heimatstadt unterwegs bist und dir ein Bußgeld für eine Ordnungswidrigkeit aufgedrückt wird, dabei ist das Bußgeld deine geringste Sorge, denn es ist nicht dein erster Verstoß, und nun besteht die Gefahr, dass dein Aufenthaltstitel für die Stadt, in der du dein ganzes Leben verbracht hast, fünf Jahre nach der Annexion nicht verlängert wird.

      Er macht sich bemerkbar, wenn du aus Höflichkeit nickst und Nachbarn und Freunde aus Kindheitstagen grüßt, mit denen du dich eigentlich zerstritten hast, weil eure Ansichten unvereinbar sind, es aber besser ist, kein Salz in die Wunde zu streuen.

      Ich bin im März 2014, am Tag des sogenannten Referendums, auf die Krim gereist. Die letzte im Buch beschriebene Reise auf die Halbinsel fand im März 2019 – während des fünften Jahrestags der Annexion – statt. Insgesamt unternahm ich in diesem Zeitraum sieben (mal kürzere, mal längere) Reisen auf die Halbinsel. Bei jeder Reise habe ich versucht, möglichst viele Städte und Ortschaften zu besuchen – von Jewpatorija bis Kertsch, von Bachtschyssaraj bis Sudak, und natürlich Sewastopol, Simferopol und Jalta. Dabei habe mir immer vorgenommen, so viele Eindrücke wie möglich zu sammeln, und bin Dutzenden von Menschen


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