Der Hungerturm. Michael Thumser

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Der Hungerturm - Michael Thumser


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der Arzt. Keine Veränderung.

      Nichts Neues, wiederholte Winberg. Aber er meinte nicht den Arzt. Er meinte den Priester, der ihn gerade als Täter ausgab; Christine, die gewesen war und nicht mehr sein würde; Kryger, dessen Gehirn draußen in die Fugen des Steinfußbodens floss. Keine Veränderung. Er meinte sich.

      GÜGES

      Eine altmodische Geschichte

      … mir war in jener schwülen Stunde, / Als hättst du nicht das Recht dazu gehabt.

      Friedrich Hebbel,

      GYGES UND SEIN RING

      Sie hatte nichts dagegen, wenn er sie nackt sah. Sie mochte es nur nicht, wenn er sie beim An- und Ausziehen beobachtete. Er lag neben ihr, auf den Ellbogen gestützt. Mit dem Zeigefinger fuhr er die Linien ihrer Schultern entlang, tastete über das Kinn und glitt übers Schlüsselbein.

      Himmel, bist du begehrenswert, schwärmte er.

      Sie war schon ein wenig müde und lächelte ihm zu.

      Das finden alle. Alle, fuhr er fort. Sein Finger umkreiste den Nabel.

      Ach lass, wehrte sie freundlich ab.

      Doch, sagte er. Du gefällst allen.

      Wichtig ist, dass ich dir gefalle, sagte sie banal.

      Viele würden etwas darum geben, dich zu sehen, wie ich dich sehe: jetzt, so.

      Christian, du weißt doch, dass ich solche Redereien nicht mag.

      Du kannst ruhig ein bisschen stolz auf dich sein.

      Sie machte eine Bewegung und wollte aufstehen.

      Bleib doch, hielt er sie zurück. Dann sah er sie eine Weile mit großen Augen an. Schließlich sagte er: Ich will dich fotografieren.

      Du hast sicher zweihundert Aufnahmen von mir, lachte sie.

      Nein, ich meine: so wie du jetzt bist.

      Sie zögerte. Ich will das nicht. Das weißt du.

      Ich hab dich schon so oft darum gebeten. Komm. Was ist dabei?

      Ich will es nicht. Du darfst mich ruhig für zimperlich halten, aber es ist mir einfach nicht angenehm.

      Niemand bekommt das Foto zu Gesicht außer uns.

      Warum willst du überhaupt – so ein Bild von mir.

      Na hör mal. Er schwieg eine Weile und sagte dann: Lass mich doch.

      Sie gab endlich auf und sagte nichts mehr.

      Als keine Antwort kam, stand er auf und holte seine Ausrüstung.

      Lehn dich ein wenig zurück.

      Aber nur eine, ja?

      Er sah durch den Sucher. Die Hand nicht ans Gesicht.

      Mach schnell, bitte. Es ist mir unangenehm.

      Das Kissen ein bisschen nach hinten.

      Sie sah ihn unzufrieden an. Lass es lieber doch.

      Das Auge am Sucher. Beweg dich nicht. Er verzog das Gesicht hinter der Kamera. Und schau nicht so miesepetrig drein!

      Sie versuchte, sich zu entspannen. Es blitzte.

      So, sagte er.

      Während er die Kamera in der Tasche versorgte, begann sie, sich anzuziehen. Als er ein paar Mal zu ihr herübergeäugt hatte, drehte sie ihm den Rücken zu.

      Seither behielt sie ein Gefühl der Beklemmung, das sie selber lächerlich fand und sich nicht erklären konnte. In den nächsten Nächten träumte sie manchmal von Männern, die nach ihr griffen, und von großen, leeren Häusern, in denen niemand zu sein schien außer ihr und in denen doch jemand war. An manchen Morgen war das Erste, woran sie dachte, Christians Kamera mit dem Chip darin. Einmal war sie sogar für kurze Zeit entschlossen, ihn aus dem Apparat zu nehmen. Da erzählte sie es ihm.

      Du bist albern, sagte er.

      Ich weiß.

      Wir sind keine Kinder mehr. Nicht einmal unsere Eltern waren so prüde.

      Das war eine dumme Antwort. Ich weiß nicht, wozu du es brauchst. Du hast mich, wie ich bin. Wann immer du magst.

      Glaube mir. Das Foto bekommt niemand zu Gesicht. Es wird nicht auf meiner nächsten Ausstellung zu sehen sein und auf keiner danach. Es ist nicht mehr als ein Schnappschuss, rein privat, und alles andere als das Meisterstück des Meisterfotografen Christian Daules. Ich hab andere Aktfotografien gemacht, die dürfen die Leute sich ansehen, so lange sie wollen.

      Aber es beruhigte sie nicht.

      Einige Tage später kam er die Treppe vom Erdgeschoss, wo er ein paar helle Räume als Atelier eingerichtet hatte, in die Wohnung herauf.

      Unten stapelt sich die Arbeit, schnaufte er wohlig. Bei diesem herrlichen Wetter. Viel lieber würde ich vor die Stadt und ein wenig in der Landschaft fotografieren.

      Sie lächelte ihn an. Es reicht eben nicht, Aufnahmen zu machen. Du musst sie auch verkaufen.

      Du bist zu streng, antwortete er. – Sieh einmal, was ich mitgebracht habe. Das Foto von vor ein paar …

      Aber sie unterbrach ihn, plötzlich ernst. Ich wills gar nicht sehen.

      Aber Ruth, ich finde, du …

      Lass mir meinen Willen, bat sie, ich will es wirklich nicht.

      Eine ganz harmlose Aufnahme, wahrlich kein Bild des Lasters.

      Lieber nicht. Dann sagte sie: Übrigens hat Güges angerufen. Ich soll dich erinnern: er kommt gegen Abend.

      Christian nickte. Unter der Tür frage er: Bist du mir böse?

      Überhaupt nicht. Ich will nur nichts von dem Foto wissen. Und es auch gar nicht in der Wohnung haben. Lass uns so tun, als gäbe es das Bild gar nicht. Am liebsten wärs mir, du löschtest es von der Festplatte.

      Er schwieg eine Zeitlang. Gut. Dann nahm er das Foto und steckte es ein. Vor dem Hinausgehen sagte er noch: Ach ja. Güges. Um sechs. Haben wir was zu trinken da?

      Güges sagte, noch in der Tür: Ich hab heute Morgen mit deiner Frau telefoniert.

      Ich weiß. Ich hab dich erwartet. Komm rein.

      Sie gaben sich die Hand. Dann gingen sie durch den Flur zu Christians Atelier, das vor Jahrzehnten einmal als Wintergarten gedient haben mochte. Jedes Mal, wenn Güges durch diesen Flur ging, blieb er hinter Christian zurück und betrachtete sich die Fotos, die mit Magneten auf große Blechplatten geheftet waren.

      Nanu. In Farbe?, fragte Güges.

      Ja, und auch Christian blieb stehen. Samson hat sich wieder gemeldet. Er will in seinem Verlag jetzt auch Kalender herausbringen.

      Du hast dich gemacht, Christian, das muss man dir lassen.

      An Arbeit fehlts mir im Moment jedenfalls nicht.

      Im Atelier suchte Christian in den Mappen. Das ist kein neues, aber auch kein schlechtes Thema, sagte er dabei. Innenstadt. Schwarzweiß. Grob gekörnt. Trostlos. Aber wirkungsvoll. Was mir noch fehlt, sind ein paar Aufnahmen bei Dunkelheit. Er suchte. Kino, Frittenbude, Bahnhof, Strich, verstehst du?

      Zeig nur, was du hast, sagte Güges, ein wenig unkonzentriert.

      Christian plauderte leichthin. Nur in der Großstadt könne ein freier Fotograf hoffen, seinen Lebensunterhalt einigermaßen zusammenzubekommen. Keine der Fotogalerien, die er kenne, könne mit der Güges’ auch nur entfernt mithalten. Künftig wolle er mehr für Zeitschriften arbeiten, mittlerweile sei er so weit, unter den Angeboten das beste aussuchen zu können. Güges ging im Zimmer auf und ab.

      Bis jetzt sinds etwa fünfzig Aufnahmen. Lass noch zehn dazukommen. An den nächsten Abenden mach ich mich auf den Weg. Ich dachte an eine Auswahl von vielleicht zwölf Stück, nicht mehr. Nur die besten. Ein Bezug stellt sich von ganz alleine her, wenn


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