Der Hungerturm. Michael Thumser
Читать онлайн книгу.nicht verstehen wollte. Es gab also nichts zu sagen; der andere wusste nicht mehr als er selbst. Sie beide waren, durch ein Telefon verbunden und getrennt, gemeinsam allein. Nach einer Weile, in der sie ihre Machtlosigkeit mit Schweigen gebüßt hatten, verabschiedeten sie sich.
Winberg, in einer unauffälligen Ecke der Bar an einem Tischchen sitzend, musste über eine Stunde warten, bis Kryger von seinem abendlichen Ausflug zurückkehrte. An Krygers Arm stöckelte das Mädchen, geschickt geschminkt und routiniert lächelnd. Die beiden gingen durchs Lokal, mal hierhin, mal dorthin grüßend, und nahmen endlich an einem großen runden Tisch Platz, an dem während der halben Stunde zuvor nach und nach die anderen Paare Platz genommen hatten.
Sofort als Kryger saß, war er der Mittelpunkt der Runde, die rasch in ein reges Gespräch verfiel, oft lachte und immer wieder Wein, Bier und Schnaps bestellte. Es schien Winberg, als gelte der soigniert-ruhige Kryger für einen Richter richtiger Meinungen und guten Geschmacks. Meistens wurde er etwas gefragt und gab dann weitschweifig Auskunft, Kenntnisse und Korrekturen äußernd, die er mit artigem Lächeln bescheiden vortrug. Winberg konnte von seinem Platz aus großen Teilen des Gesprächs folgen, wenn er aufmerksam hinhörte, und spürte bald, dass für die anderen von Kryger, der unter ihnen augenscheinlich der Älteste war, ein besonderer Reiz ausging. Man sprach über die Theaterspielpläne großer Städte, später, ausführlicher, über schwankende Banken und Unternehmen, diskutierte die Krisen der Börse. Dann wandte man sich den anwesenden Damen zu und hofierte sie mit kleinen, blasierten Komplimenten. Jeder an diesem Tisch hatte Erfahrung mit dem Charme alter Schule und seinem gezielten, wohldosierten Einsatz, mit dem richtigen Ton dem jeweiligen Gesprächspartner gegenüber, mit der feinen Nuance der Anspielung. Winberg wollte das alles vorkommen wie ein Ausschnitt aus einem alten Film, wie der Blick in ein Wörterbuch aus einer Zeit, die schon lange vor seiner Geburt zusammengefallen war. Hierher, in die angestrengt vornehme Atmosphäre des Seebads, hatte sich von solchen Resten der Vergangenheit noch etwas retten können, und diejenigen, die sich darin zu Hause fühlten, pflegten die Traditionen wie unfehlbar folgerichtige Rituale. Die jungen Frauen, die bei den Herren saßen, schienen nicht wirklich zu ihnen zu gehören. Sie saßen dabei, weil die Männer erst mit ihnen ein Bild ergaben, das sie für gültig halten durften. Und sie wurden dafür entlohnt, dass man ihnen nicht ansah, wenn sie sich langweilten.
Winberg fühlte mit einem Mal etwas wie leise Genugtuung in sich: indem er die Runde so schamlos belauschte, indem er sie derart durchschaute, meinte er zu wissen, wie sehr er sie demütigte.
Ein paar Stunden gingen so hin. Die Gesellschaft am runden Tisch konsumierte eine Flasche nach der anderen, und auch Winberg hatte mit der Zeit viel getrunken. Während die Stimmung der Runde immer gelöster, die Gespräche allmählich freizügiger wurden, spürte Winberg eine wachsende Klarheit in seinem Kopf, eine Gewissheit, dass richtig war, notwendig und gut, was er seit zwei Tagen tat, obwohl er nach wie vor nicht hätte sagen können, worauf er hinauswollte. Er fühlte sich auf der Spur, ohne zu wissen, wer das war, dem er folgte, und warum er es tat; er fühlte sich bereit, jederzeit abzudrücken, obwohl er sich ohne Waffe wusste; er kostete die Aufgeregtheit einer Pirsch und wusste doch, dass nichts zu jagen da war, dass niemand Furcht vor ihm haben musste.
Nach Mitternacht wurden die Kellner und Ober unruhig, und einer spielte hin und wieder an einem der Lichtschalter. Außer mit ein paar ärgerlichen Blicken des einen oder anderen reagierte die Gesellschaft am runden Tisch nicht darauf. Die Mädchen waren träge und still geworden, ab und zu fiel ein Kopf auf einen reichlichen, dekolletierten Busen. Winberg hatte an diesem verlorenen Abend Beobachtungen gewonnen, die er verbuchte wie einen Besitz: mit Kryger lernte er mehr und mehr jemanden kennen, den er nicht ausstehen konnte, den er hassen wollte, indem er nach Anhaltspunkten suchte, die sein verdammendes Vorurteil gegen ihn bestätigen sollten.
Als nach ein Uhr der Barkeeper und ein Mann aus der Küche die Stühle hochzustellen begannen, erhoben sich die schwankenden Gestalten mit dem großtuerischen Gerede alt gewordener, früherer Anstößigkeit nachtrauernder Junggesellen, griffen ihren Damen an Brust und Hintern und strengten sich an, einem Kellner klar zu machen, dass nun drei Taxis zu bestellen seien. Winberg hatte schon vor einer Viertelstunde gezahlt und wartete nun in der Nische, die als Garderobe diente, bis die anderen die Bar verlassen hatten.
Als er selbst in die Nacht hinaustrat, schlug ihm ihre ungewöhnlich klare und reine Luft wie eine Hand ins Gesicht. Plötzlich vermisste er das Siegergefühl, das ihn drinnen über Stunden hinweg hellwach gehalten hatte. In ein paar Augenblicken hatte die Müdigkeit ihn eingeholt. In seinem Zimmer setzte er sich im Mantel auf einen Stuhl und schlief sofort ein, ohne es zu merken. Nach einer Stunde wachte er langsam auf; er fror, und der Kopf tat ihm weh. Er zog sich aus, wusch sich flüchtig und legte sich aufs Bett. Jetzt aber lag er, über eine Stunde lang, mit offenen Augen und ärgerte sich immer heftiger über seine Schlaflosigkeit.
Am Sonntag schlief Kryger bis in den Vormittag, und Winberg, der schon früh aufgestanden war und sich in einen Sonnenstuhl auf der Terrasse gelegt hatte, musste lange auf ihn warten. Kryger wirkte, als er endlich herunterkam, völlig erfrischt. Jetzt, ohne Begleitung, hatte sein Gesicht nichts von einer Maske, locker erschien es, so beweglich wie vor zwei Tagen beim Spaziergang durch den Park und während seines Aufenthalts in der Kirche. Kryger trank Kaffee, ohne etwas zu essen; dann schlenderte er fort, anscheinend ziellos, ließ den Blick mal hier-, mal dorthin schweifen, wie einer, der alles schon gefunden hat, was er in seinem Leben je hatte suchen können, und der mit keiner bösen Überraschung mehr zu rechnen braucht.
Winberg legte ein paar Münzen auf den Tisch und ging ihm nach. Fast bewunderte er die Leichtigkeit des Gangs, die ruhige Bewegung der Arme, die Zartheit der Finger, zwischen denen Kryger versonnen einen Grashalm drehte.
Kryger ging in den Ort und schloss sich ein paar anderen Wochenendurlaubern an, um in der Kirche eine spätvormittägliche Messe zu besuchen. Während des Gottesdienstes stand er an einer der Wände der einfachen, kleinen Halle, sah meist zu Boden und schien ganz aufgegangen in dem, was vor ihm geschah. Winberg war auf die schmale Orgelempore hinaufgestiegen und blickte von oben auf die Köpfe der Gläubigen. Nach der Messe, als die Besucher aufstanden, um hinauszugehen, wollte auch Winberg die Treppe hinuntersteigen, sah aber, dass Kryger bewegungslos an seinem Platz stehen geblieben war und auf etwas zu warten schien. Nach einer Weile trat der Geistliche aus einem winzigen Nebenraum wieder ins Kircheninnere, und Kryger ging mit wenigen großen Schritten, mit ausgestreckter Hand auf ihn zu, hielt ihn an und sprach mit ihm, nachdem er eine fast jungenhafte Verbeugung gemacht hatte. Dann verschwand jeder von beiden in einer der Seiten eines Beichtstuhls.
Im Hotel wurde Kryger von seiner Begleiterin erwartet. Sie sprang von ihrem Stuhl auf, schob die Sonnenbrille aufs Haar und küsste ihn, während seine Muskeln im Nacken, an seinen Armen und Beinen sich spannten. Mit einem höflichen Lächeln zeigte er seine Zähne, und nach wenigen Augenblicken war aus ihm ein anderer geworden. Aber wer? Ganz der Alte?
Auch im Restaurant, beim Mittagessen, behielt Winberg Kryger und das Mädchen im Auge, beobachtete, wie er ihr mit der Vollendung eines Küchenchefs vorlegte, wie er eingoss und mit ihr anstieß, wie er unermüdlich neue Worte fand, um sie zu unterhalten. Später setzten sich zu den beiden zwei Männer aus der gestrigen Runde, die ohne Begleitung kamen. Jetzt taten sie zu dritt der Schönen schön, warben um sie mit der Eindeutigkeit von Gigolos und strahlten, wenn sie ihretwegen lachte.
Nachdem sie sich schließlich voneinander verabschiedet hatten, und während Kryger und das Mädchen auf den Ausgang zur Halle zugingen, hörte Winberg ihn in der Nähe seines Tisches zu ihr sagen:
Die beiden haben sich genug zum Narren gemacht. Lass uns auf mein Zimmer gehen.
Sie schmiegte sich an ihn, und er führte sie mit sich fort mit dem Gesicht eines erfahrenen Mannes, der freiwillig eine opfervolle Mühe auf sich nimmt.
Am Nachmittag kam die vollständige Runde in der Halle zusammen und begrüßte sich aufwendig, bevor sie alle das Hotel verließen, um zu einer der Sportanlagen hinüberzugehen, die dazugehörten. Hier machten sie mit einer Runde Minigolf den Anfang, vor allem wohl der Damen wegen, die sich betont umständlich und unbeholfen gaben.
Solange die Männer in den Umkleidekabinen ihre Tennissachen anzogen, standen die Frauen wartend beieinander, über Minuten so gut