Der Hungerturm. Michael Thumser
Читать онлайн книгу.Wohnzimmer, und als sie damit an der offen stehenden Schlafzimmertür vorbeikam, rief sie ihm zu: Steh auf, es ist schon spät.
Wie spät?
Viertel acht.
Winberg drehte sich langsam aus dem Bett, zog die Brauen über den fast geschlossenen Augen hoch und machte ein dummes Gesicht. Seine Füße tasteten nach den Pantoffeln. Christine kam herein und begann, die Bettdecken aufzuschütteln.
Morgen, sagte sie.
Morgen, wiederholte er, stand auf und gab ihr einen müden Kuss auf die Wange.
Geh und rasier dich, sagte sie aufmunternd.
Beim Frühstück machte ihn der Kaffee nur langsam wacher. Winberg überflog die Schlagzeilen der Zeitung, ohne etwas aufzufassen, und bestrich sich ein Brötchen schlampig mit Butter und Honig.
Du gehst in letzter Zeit zu spät ins Bett, sagte Christine. Jeden Morgen bis du todmüde.
Er nickte und brummte irgendetwas, das nicht verstanden werden sollte.
Später, im Lift, wurde ihm kurz wieder klar, dass ihm diese Morgen mit Christine etwas bedeuteten. Er nahm sie, die mit einer Tasche in der Hand neben ihm stand, in den Arm und küsste sie rasch. Sie tat, als verstünde sie ihn nicht, und nahm seine Zärtlichkeit wie selbstverständlich. Seine Zärtlichkeiten kamen immer plötzlich, immer unvermutet, und sie kamen nie selbstverständlich. Aber sie spürte manchmal – aus einem Satz, oder durch die Art, wie er sie am Arm nahm –, wie sehr er sich anstrengte, sie fühlen zu lassen, dass er sie liebte.
Bis heute Abend, sagte sie vor der Eingangstür und sah ihm absichtlich mit großen Augen ins verschlossene Gesicht.
Bis dann, sagte er und strich ihr übers Ohr.
Dann nahmen sie zwei verschiedene Richtungen: sie zum Supermarkt, der sich im Erdgeschoss eines der benachbarten Hochhäuser befand; und er ging den Weg durch Grünanlagen und Parkplätze aus dem Hochhausviertel hinaus zur Bushaltestelle.
Dass sie immer noch hier leben mussten!, ging es ihm durch den Kopf. Architekt sein, aber keinen realistischen Gedanken an ein eigenes Haus verschwenden dürfen; verantwortlich sein für alles Mögliche, für dies und das geradestehen sollen und dabei vielleicht nie sein eigener Herr werden können; immer einen oder zwei oder noch mehr über sich haben. Manchmal verspürte er mitten am Tag die Lust, sich irgendwo hinzulegen und keinen Finger mehr zu rühren. Manchmal hätte er Lust, laut und unsinnig herumzuschreien, wo gerade geschwiegen wurde. Manchmal wollte er schon ausholen, um alles um sich herum zu zerschlagen, Computertastatur und Zeichengerät in die Ecke zu schleudern, mit den Ausdrucken von Grundrissen fremder Häuser ein gigantisches Feuer zu entfachen. Manchmal kam es wenigstens dazu, dass er mit der flachen Hand auf den Arbeitstisch schlug, sodass die Finger brannten, und dass er fluchte. Gleich darauf war er dann jedes Mal froh, dass es niemanden interessierte, wenn er sich für kurze Zeit einmal nicht beherrschen konnte, dass keiner ihn fragte, was in ihn gefahren sei, dass ihm niemand den Lärm vorwarf, den er gemacht hatte. An diesem Tag wie an jedem anderen sehnte er sich danach, dass irgendetwas Außergewöhnliches geschehe, ohne daran zu glauben, dass es wirklich eintreten könne. Er hoffte, einmal irgendwo dabei zu sein: sich bei einem furchtbaren Verkehrsunfall als Retter zu bewähren, oder mitzuerleben, wie einem Politiker der Kopf weggeschossen wurde, und dem Attentäter dann ein Bein zu stellen und sich auf ihn zu stürzen, oder den Vergewaltiger einer Frau von seinem Opfer wegzureißen und in die Flucht zu prügeln. Als er noch ein Junge war, hatte er sich immer wieder Situationen vorgestellt, aus denen er als Held hervortreten könnte. Heute genügte es ihm, sich in Gedanken des dankbaren Respekts, der Anerkennung eines fremden Menschen zu versichern. Mit Christine hatte er nie über seine Flausen gesprochen. Sie lebte viel zu sehr in der Wirklichkeit, als dass sie über solche Kindereien nicht würde lachen müssen. Aber manchmal las er ihr aus einer Illustrierten Geschichten vor von Menschen, die so waren, wie er sein wollte: im Alltag mutig, für jemand anderen notwendig, konsequent und zu einem bestimmten Augenblick am richtigen Ort, um etwas zu tun, das nützte.
Winbergs Tag begann in gereizter Stimmung mit einer Besprechung seiner Chefs und jener Mitarbeiter, die an dem Großprojekt beteiligt waren, das schon seit einem halben Jahr im Mittelpunkt umfangreicher Planungsarbeiten stand. Die Leiter der Firma gaben sich unleidlich, aber hinter der Unzufriedenheit mit dem bisher Geleisteten verbarg sich letztlich ein gewisser Gleichmut, ja Desinteresse. Dabei gingen die Arbeiten besser voran, als noch vor Wochen zu erwarten gewesen war. Zwei Stunden lang also machte man sich voreinander wichtig, hob den eigenen Ertrag hervor und drängte die Beiträge anderer zurück, wetteiferte mit mehr oder weniger nebensächlichen Vorschlägen und Anträgen und stritt um Dinge, die noch längst nicht spruchreif waren.
Nachdem Winberg mit ein paar kaum beachteten Worten seine Ergebnisse aus den vergangenen Tagen referiert hatte, zog er sich an eine Wand des Konferenzzimmers zurück und lenkte seine Gedanken auf alles mögliche andere. Nach einer Viertelstunde war er so gleichgültig geworden, dass sich seine Laune besserte. Er versuchte sich auf etwas zu besinnen, worauf er sich freute. Viel war da nicht. Oder doch? Einen Abend am Wochenende wollten Christine und er gemeinsam mit etlichen guten Freunden verbringen, die sie schon lange nicht mehr getroffen hatten; in sechs Wochen würde er mit Christine für ein paar Tage in Urlaub fahren; für die kommende Woche war in einem Kino ein vielversprechender Film angekündigt, Christine und er kannten und schätzten die Produktionen des Regisseurs und sammelten die DVDs wie Bücher oder Platten. Immerhin, dachte Winberg.
Eine Sekretärin drückte sich fast heimlich durch die Tür und musste sich von einem der Chefs ungeduldig anraunzen lassen.
Ein Anruf, sagte sie leise.
Für wen?
Für Herrn Winberg.
Na dann, bitte. Aber beeilen Sie sich nach Möglichkeit.
Winberg bemerkte erst nach und nach, dass damit er gemeint war.
Für mich? Er folgte der Sekretärin.
Am Apparat war eine unbekannte, geschäftsmäßig nüchterne Stimme, die sich mit dem Namen eines Krankenhauses vorstellte. Christine Winberg sei eingeliefert worden. Ob er gleich kommen könne?
Winberg begriff noch nicht. Meine Frau?
Sie hatte einen Unfall. Ist es möglich …
Wann … wo …
Sie wird jetzt operiert.
Mein Gott.
Bringen Sie ein paar Sachen Ihrer Frau mit, bitte. Außerdem sind noch einige Formalitäten zu erledigen.
Wer …
Mit der Polizei können Sie sich anschließend in Verbindung setzen, sagte die Stimme des Krankenhauses.
Die Sekretärin hatte erschrockene Augen, tat aber so, als hätte sie nichts mitbekommen.
Kann ich helfen?, fragte sie, als Winberg zögerlich aufgelegt hatte.
Meine Frau … Nein, stammelte Winberg, fasste sich dann ein wenig und sagte: Ich muss gleich fort. Er fühlte sich hilflos und seit Langem zum ersten Mal völlig allein.
Man ließ ihn nicht zu ihr. Sie sei am Schädel verletzt, schwer, beträchtlich, sagte ihm ein junger, langer und hagerer Arzt, der ihn mit einer routinierten Bewegung sacht am Arm nahm und langsam den Gang entlang führte. Die Operation sei abgeschlossen und gut verlaufen, soweit man das bei einem Fall wie diesem sagen könne; ob und wie sehr der Eingriff habe helfen können, lasse sich erst später absehen.
Winberg wurde den Eindruck nicht los, dass nicht mehr viel zu machen war, und er wusste nicht: las er das aus dem naturgemäß passiven Gesicht des Arztes, hörte er es aus seinen Worten, aus seiner Stimme? Zu fragen, wie die Chancen stünden, wagte er nicht.
Wir müssen also abwarten, schloss er Arzt, nachdem sie eine Weile geschwiegen hatten. Dann sah er auf die Uhr. Entschuldigen Sie mich.
Bitte …, beeilte sich Winberg.
Wenn Sie Fragen haben –, sagte der Arzt.
Winberg hatte viel zu viele Fragen,