Die große Zerstörung. Andreas Barthelmess

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Die große Zerstörung - Andreas Barthelmess


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den Markt aufzurollen. Für ein Medikament wie Penicillin oder einen neuen Fahrzeugantrieb hingegen brauchte man Entwicklungs- und Versuchsreihen, die sich über Jahre hinwegzogen.

      Doch so niedrigschwellig der Markteintritt im digitalen Zeitalter grundsätzlich ist, für die Konkurrenten wird er umso schwieriger, sobald der Markt einmal von einem Marktführer besetzt ist. Hier gilt das Prinzip »The winner takes it all«. Amazon ist der Online-Händler, Airbnb der Online-Marktplatz für Unterkünfte, Google die Suchmaschine, YouTube das Videoportal. Und das weltweit.

      Auch unsere Alltagsbeziehungen ordnet die Digitalisierung neu. Weil wir so viel bei Amazon bestellen, schließt die kleine Buchhandlung um die Ecke, sofern sie nicht die Veränderung zur literarischen Event-Location schafft. Dafür haben wir Dauerbesteller durch unsere täglichen Paketlieferungen inzwischen eine engere Beziehung zum Paketboten als früher zur Buchhändlerin oder zum Supermarktkassierer. Die jedenfalls kannten uns nicht mit Zahnbürste im Mund im Morgenmantel. Unsere neuen Beziehungen werden jedoch nicht lange dauern. Bald werden wir der Lieferdrohne ins Kameraauge blicken. Das Zeitalter der Disruption hat gerade erst begonnen.

      Die Veränderungen im Nachkriegsdeutschland bis in die Nullerjahre hinein waren ganz anderer Art. Sie waren nicht disruptiv, sondern inkrementell. Alles ging peu à peu voran, alles wurde immer ein bisschen besser. Meist sah man das nicht einmal, etwa beim Auto. Knautschzone, Airbag, ABS, ausfahrbarer Überrollbügel für Cabrios: Bosch-artig versteckten Ingenieure mit Horb-am-Neckar-Fleiß den kontinuierlichen Fortschritt hinterm Blech und unterm Armaturenbrett. Heute zeichnet sich das Ende des Verbrennungsmotors ab. Und auch wenn mittlerweile selbst die Autolobbyisten gelernt haben, vom »Paradigmenwechsel« zu schwurbeln, so verwenden sie doch nur eine Chiffre aus der alten Zeit. Induktives Handyladen jedenfalls wird das alte Auto nicht retten.

      Inkrementell ist die Entwicklung von der Tageszeitung zum Sonntagsblatt. Von drei öffentlich-rechtlichen Sendern zu ein paar Dutzend privaten. Disruptiv hingegen ist der Sprung von Print zu Twitter, vom Fernsehen zu YouTube und Netflix.

      Ironischerweise entstehen disruptive technologische Umbrüche aus der inkrementellen Verbesserung vieler Einzelbereiche. Steinchen auf Steinchen baut sich der Fortschritt auf, bis er plötzlich ein neues Plateau erreicht, auf dem sich dann sprunghaft Innovationen ereignen. So ermöglichten Fortschritte der Prozessorleistung, Batteriekapazität, Speichergröße und interaktive Displays im Zusammenspiel mit wachsender digitaler Vernetzung jene mobilen Endgeräte, die sich nach der Markteinführung des iPhones 2007 rasant durchsetzten.

      Das Smartphone wiederum entpuppte sich als technologische Grundvoraussetzung für die soziale und kulturelle Gegenwart, in der wir heute leben: Tinder statt Disco. WhatsApp statt Diaabend. Facebook statt Weihnachtsbrief. Twitter-Gewitter im Minutentakt statt ein Papierpfund redaktioneller Welterklärung zum Wochenende. Dauer-Newsstream statt Abendnachrichten.

      In dieser digitalen Gesellschaft ist jeder sein eigener Propagandasender, und das mit Reichweiten, von denen etablierte Medien wie New York Times, CNN und Bild nur träumen können. Wer Millionen erreicht und als »First Mover« ungefiltert direkt auf die Displays in unseren Händen sendet, kann bislang Unvorstellbares bewirken. Polarisieren, sensibilisieren oder mobilisieren. Wer Millionen erreicht, kann eine Mauer zu Mexiko bauen, Rassismus im Land der Political Correctness verbreiten, mit #Leave.EU ein Land aus der EU führen, die Debatte #MeToo starten und einen globalen Bewusstseinswandel herbeiführen, mit »Fridays for Future« eine globale Schülerbewegung für den Klimaschutz initiieren. Alles scheint möglich.

      Zugegeben: Trump und Greta sind für die meisten von uns weit weg. Aber die großen Brüche sind es nicht, sie finden überall um uns herum statt, ganz in unserer Nähe. Konventionen kippen, Menschen ändern ihr Verhalten. Und immer häufiger müssen sie sich dabei, so viel ist dran an der viel beschworenen »Polarisierung«, zwischen zwei Lagern entscheiden. Diese Lager sind das progressive und das konservative, und so wählen wir zwischen Detox-Smoothie oder Hasseröder Biertulpe, zwischen Falafel oder Schweinebraten, Car-Sharing oder Garagen-Fetisch.

      Als ich Teenager war, shampoonierten unsere Nachbarn samstags rundherum zärtlich ihre Autos. Mein Freund Fabian begeisterte sich für Diesel-Direkteinspritzung und andere technische Innovationen, die damals noch »Erfindungen« hießen. Fabian liebte Erlkönig-Fotos aus der Auto Bild. Er kannte Hubräume und PS-Zahlen. Und er wusste, dass er eines Tages zum Händler im Autoglashaus an der Ausfallstraße gehen und sich einen tollen Wagen mit sechs Zylindern »holen« würde. War auch in Ordnung so. Normal.

      Heute hat Fabian Familie, aber kein Auto, lebt in Berlin und nicht mehr in der Oberpfalz. Alle paar Wochen probiert er eine neue Mobilitäts-App aus: Car-Sharing, Uber, Leihräder, E-Tretroller. Fabian ist mit der Zeit gegangen: Nicht mehr der Autobesitz verschafft uns heute Status, sondern Wahlfreiheit und permanente Flexibilität. Für die Progressiven sind heute Probieren und morgen Andersmachen wichtiger als Felgenpolieren und In-der-Garage-Haben. So hat man ein gutes Gewissen und markiert die eigene Progressivität. Ganz ähnlich macht es Tech-Ikone Elon Musk. Der Tesla-CEO baut Elektroautos, will aber eigentlich lieber mit wiederverwendbaren Raketen ins All fliegen.

      Neue Melodien hören wir überall. Ich erinnere mich an eine internationale Venturecapital-Konferenz in Berlin. Am ersten Abend habe ich mich mit denselben Geschäftsfreunden wie jedes Jahr zum Essen verabredet. Wir treffen uns, ebenfalls wie jedes Jahr, im »Grill Royal«. Das Restaurant ist lange schon gesetzt und der Name Programm. Wen wundert es? Steakessen ist fleischgewordene Unternehmenskultur der hier mit mir versammelten Start-up-Macher, alles sehr männlich. Hier sitzen wir also, finden den globalen Kapitalismus prima, essen blutiges Fleisch, wollen aber nicht mit Raubtieren verglichen werden, mit Heuschrecken schon gar nicht. Marktdominanz ist eine feine Sache, im Übrigen hart erarbeitet und insofern verdient. Alles in Ordnung unter den Digitalisierungsgewinnern.

      Doch im Sommer 2019 ist etwas anders. Raffael, ein guter Freund, eröffnet uns mit besorgter Miene, spät zu essen sei ungesund. Im Übrigen konzentriere er sich jetzt aufs Intervallfasten. Das habe ich selbst auch schon probiert. Trotzdem stutze ich und komme kognitiv beim Versuch ins Straucheln, Absender und Inhalt der Botschaft in Einklang zu bringen. Da legt Raffaels Geschäftspartner Ben die Speisekarte weg und das Statement nach, dass er heute auf Fleisch verzichten werde. Ernährungsstudien und Klimadiskussion ließen ihn umdenken. Er führt das fundiert, klug und selbstkritisch aus. Ich bin perplex. Vielleicht spricht Ben ja so, weil er vor wenigen Monaten Vater geworden ist? Doch die ganze Runde ist sich überraschend einig: Die Schülerbewegung für das Klima sei beeindruckend, der hohe Druck auf die Politik genau richtig, Greta solle so weitermachen.

      Später kommen wir auf eines meiner Lieblingsthemen, die Regulierung oder Zerschlagung von global übermächtigen Onlineplattformen. Eigentlich ist da Widerspruch ausgemacht, doch wieder geschieht etwas Überraschendes. Raffael sagt, er habe das jahrelang anders gesehen, aber jetzt müsse er mir beipflichten: Der Staat müsse viel härter gegen Monopole vorgehen. Dann fällt ein Satz, den ich aus dem Mund eines digitalen Disruptionsgewinners nie erwartet hätte: »Wir brauchen mehr Staat, überall!«

      Die Welt ist im Umbruch, und wir beginnen, auf die Brüche, Umstürze und Einbrüche der letzten Jahre zu reagieren. Nichts ist mehr, wie es war! Brexit, Trump-Wahl, #MeToo, Fridays for Future, Volksparteien-Aus: Was wir für unverrückbare Gewissheiten und unverhandelbare Gesetze hielten, ist plötzlich radikal anders. Verkehrte Welt! Ein US-Präsident setzt auf Rassismus, aber Kapitalisten mit Neunzigerjahre-McKinsey-Sozialisierung geben sich selbstkritisch pro Regulierung. Vom Saulus zum Paulus, vom Steak-Kapitalisten zum sozialen Marktwirtschaftler mit CO2-Sorge.

      Alles, was ich hier bisher beschrieben habe, sind Symptome der Disruption. Sie ist das Phänomen unserer Gegenwart. Sie ist ihre Signatur. Und sie ist tatsächlich neu. Doch ich glaube, die neue Unübersichtlichkeit führt dazu, dass wir häufig den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen. Durchsage an alle die, die glauben, die aktuellen Umbrüche würden sich bald wieder legen, Hass und Hetze im Netz würden sich wieder beruhigen, die Hyper-Dominanz von Silicon-Valley-Unternehmen wäre nur eine Momentaufnahme, die klassischen Industrieunternehmen mit vielen Arbeitsplätzen fänden bald wieder zu alter Stärke zurück und die »Volksparteien« lägen bald wieder bei 40 Prozent: Ihr träumt. Wetten, dass ..? ist vorbei.

      Wir können nicht Disruptionen ungeschehen


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