Die große Zerstörung. Andreas Barthelmess
Читать онлайн книгу.auf, und sofort verschwinden die riesigen Ritterrüstungen, die nun keinen Schutz mehr bieten. Papier und Buchdruck machen Bücher erschwinglich, mehr und mehr Menschen lernen lesen, und Ende des 18. Jahrhunderts führen die ersten Länder Europas die Schulpflicht ein. Von der Dampfmaschine bis zum automobilfähigen Verbrennungsmotor im engeren Sinne dauert es gut hundert Jahre, Otto-, Diesel- und Wankelmotor folgen dann innerhalb weniger Jahrzehnte.
Ursache dieser Innovationsbeschleunigung ist nicht nur die Institutionalisierung von Wissen in Hochschulen, Bibliotheken und Patentämtern, sondern auch die durch ihre Vernetzung ermöglichte immer schnellere Zirkulation des Wissens. So kommt es dazu, dass epochale Erfindungen wie Glühlampe und Telefon zeitgleich an unterschiedlichen Orten gemacht werden. Auch Carl Benz und Gottlieb Daimler entwickeln das von einem Viertaktmotor angetriebene Automobil zunächst unabhängig voneinander, beide stellen ihr Ur-Auto im selben Jahr 1886 vor. Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, so scheint es, liegen manche Erfindungen in der Luft.
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts erlaubt es die Dampfmaschine, jene Kohle immer effizienter abzubauen, die sie selbst in immer riesigeren Mengen verschlingt. Im Ruhrgebiet, in Lothringen, Großbritannien und den USA entstehen um Kohleminen herum Städte. Immer größer werden Eisenguss- und Walzwerke, Eisenbahnen und -brücken, Kanonen und Panzerkreuzer. Der Zeitgeist wandelt sich. Unterhielt das nostalgische frühe 19. Jahrhundert noch romantische Mittelalterfantasien, so richtet man am Ende des Jahrhunderts den Blick radikal optimistisch in die Zukunft. Noch 1831 stilisiert Victor Hugos Glöckner von Notre-Dame die Pariser Kathedrale zum Wahrzeichen der Stadt und den buckligen Glöckner zur Ikone der Schwachen, Ungeliebten und Abgehängten. Doch zur Weltausstellung 1889 schafft sich Paris ein neues Wahrzeichen, das das alte überschreibt: den Eiffelturm. Sein Eisenfachwerk ragt fünfmal so hoch in den Himmel wie Notre-Dame, ein Symbol des technisch Machbaren, 300 Meter Erhebung über die Pariser Stadtarchitektur. Steht man oben, schwebt man so hoch über dem sozialen Elend der Stadt, dass man es gar nicht mehr sieht. Der Technik-Optimismus der Industrialisierung blendet seine sozialen Folgen aus. Dabei rumort es schon seit Längerem unten auf den Straßen. Die sozialistische Revolte der Pariser Kommune hatte die Obrigkeit 1871 gerade noch so mit grauenhaften Massenerschießungen abwehren können.
Eine wichtige Rolle bei der industriellen Revolution spielte die Erfindung des dampfmaschinengetriebenen mechanischen Webstuhls, der in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die händisch, häufig in Heimarbeit produzierenden Weber vom Markt verdrängte. Dass die Einführung dieser Maschine disruptiven Charakter hatte, erkannten die plötzlich von der Arbeitslosigkeit und buchstäblich vom Verhungern bedrohten Weber schnell. Es kam zu »Maschinenstürmen«, bei denen sie die neuen Webstühle zerstörten. Marx und Engels sprachen von »Revolten gegen die Maschine«. Man denkt da nicht zufällig an den »War Against the Machines«, den Arnold Schwarzenegger seit Terminator 2: Judgment Day führt.
Von den Weber-Aufständen des 19. Jahrhunderts handelt Gerhart Hauptmanns Sozialdrama Die Weber. Es stellt brutal ungeschminkt in naturalistischer Weise das soziale Elend dar, das der Übergang von der Agrar- und Handwerks- zur Industriegesellschaft im Europa des frühen 19. Jahrhunderts mit sich brachte. Karl Marx hatte dieses aus heutiger Sicht unvorstellbare Elend – heute allenfalls in Accra, Dhaka oder Delhi denkbar – in der schottischen Industrie- und Werftstadt Glasgow studiert, bevor er seine Kapitalismuskritik formulierte.
Marx zufolge hat sich die Ständegesellschaft von Adel, Handwerk und Bauern in eine Klassengesellschaft verwandelt, in der reiche Unternehmer – die »Kapitalisten« – land- und besitzlose und daher vollkommen lohnabhängige Arbeiter – die »Proletarier« – beherrschen und ausbeuten. In der Tat sind Mitte des 19. Jahrhunderts die Verhältnisse in Europa verheerend, die Kindersterblichkeit unter den Ärmsten ist extrem, Menschen verhungern. Die verarmte Landbevölkerung flieht in die Städte, dort gibt es jedoch keinen Wohnraum. Die Menschen, auch Kinder, schuften mehr als zwölf Stunden am Tag, sechs Tage die Woche. Dem gnadenlosen Lohndumping hat das von Marx so bezeichnete »Lumpenproletariat« nichts entgegenzusetzen außer, im äußersten verzweifelten Falle, Gewalt.
So kommt es zu Aufständen und Revolutionen und zu Bewegungen, die die dramatisch gewordene soziale Frage politisch angehen. 1848 veröffentlichen Marx und Engels das Kommunistische Manifest mit dem berühmten Schlusssatz: »Proletarier aller Länder, vereinigt euch!« Im selben Jahr konstituieren sich in London der Bund der Kommunisten und in Deutschland die erste Gewerkschaft, 1863 der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein, aus dem sich eine Partei entwickelt, die sich 1890 den Namen SPD gibt. Die Sozialisten sind es, die den deutschen Reichskanzler Otto von Bismarck in den 1880er-Jahren zur Sozialgesetzgebung zwingen, zur Einführung der allgemeinen Arbeiter-Unfall- und -Krankenversicherung, später auch der Rentenversicherung.
Damit wir uns nicht falsch verstehen: Ich bin ein Fan der freien Marktwirtschaft. Historisch hat erst der Markt Arbeitsteilung und Spezialisierung möglich gemacht, und ohne ihn wären Fortschritt in Gesellschaft, Wissenschaft und Kultur gar nicht denkbar. Nur der Markt, die arbeitsteilige Gesellschaft, ermöglicht Kultur und Kunst. Das müssen wir uns klarmachen. Der Markt sorgt dafür, dass der Bäcker morgens freiwillig aufsteht, um Brötchen zu backen. Niemand zwingt ihn dazu. Oder dass es Schnürsenkel in der richtigen Farbe, Länge und Stärke gibt, wenn sie mal reißen. Das sind die Beispiele, die der Ökonomieprofessor Hans-Werner Sinn oft in seinen Vorlesungen verwendet hat. Die Kunst der sozialen Marktwirtschaft ist es, Regeln zu setzen, damit der Markt Angebot, Nachfrage und darüber die Preisfindung regeln kann. Und die Kunst ist es, meist nur behutsam einzugreifen, etwa durch Ausgleich der Einkommen und Sozialleistungen, manchmal aber auch entschlossen. Das ist eine wichtige Lehre des 19. Jahrhunderts. Ohne Zweifel, der Kapitalismus hat den globalen Wohlstand gesteigert und Armut reduziert, Ungleichheit aber ganz sicher nicht. Das gilt erst recht für den digitalen Kapitalismus von heute, über den wir sprechen müssen. Denn bisher sollen auch für ihn die ökonomischen und politischen Dogmen des industriellen Zeitalters gelten. Gerade das kann nicht sein, darum geht es mir hier.
Seit Ende des 18. Jahrhunderts steigert der technische Fortschritt die Produktivität in allen Wirtschaftsbereichen. Die Bevölkerung wächst rapide, Nationalstaaten entstehen und versuchen sich – mehr oder weniger erfolgreich – an der Republik als einem neuen, postfeudalen Ordnungsrahmen. Räumlich wie kulturell wandeln sich die Bezugssysteme der Menschen. Aus regionalen und religiösen Bezügen werden nationale: so in Frankreich 1789 mit der Revolution und 1848 mit der Zweiten Republik, in Deutschland 1848 mit der Nationalversammlung in der Paulskirche und in Italien 1849 mit Giuseppe Garibaldi und der Risorgimento-Bewegung. Offensichtlich treten nicht nur Erfindungen manchmal innerhalb weniger Monate gleichzeitig auf, sondern auch Revolutionen. Und obwohl diese jeweils nationalen Charakter haben, sind sie doch allesamt vom Momentum jener paneuropäischen Vernetzung und Beschleunigung getragen, das auch die Industrialisierung antreibt. Diese immer häufiger vorkommende Gleichzeitigkeit von historischen Ereignissen, die nicht unmittelbar kausal miteinander verbunden sind, ist ein Symptom der sich beschleunigenden Geschichte.
Beschleunigung ist das Zeitgefühl des 19. Jahrhunderts. Sie stimmt die Menschen fortschrittsoptimistisch, macht ihnen aber auch Angst. Die rasende Geschwindigkeit der ersten Zuckelzüge – sie sind sogar schneller als ein galoppierendes Pferd! – verursacht die »Eisenbahnkrankheit«. Die Menschen sind erschöpft von der Raserei und zittern nervös. Als Gegenbewegung zur Aufklärungs- und Technikgläubigkeit an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert entsteht die Romantik. Sie ist historisch rückwärtsgewandt und verklärt ein aus wackeren Rittern, rotlippigen Prinzessinen und emsigen Zwergen zusammengebasteltes Klischee-Mittelalter. Die Romantik besinnt sich auf Natur und »Waldeinsamkeit«, ihre Poesie beschwört eine heimatlich-ländliche Geborgenheit. So reagiert die Romantik auf das Stampfen der Dampfmaschinen, wie wir heute mit Yoga und Meditation, Achtsamkeit und Paläo-Diät auf den Stress der digitalen Vernetzung reagieren. Zweihundert Jahre nach den Romantikern suchen wir wieder Entschleunigung und Auszeit vom Fortschritt, der uns überfordert und an den Nerven zerrt.
Die Alternative zum Samtbarett der Dichter und Komponisten ist die preußische Pickelhaube. Man steckt den Kopf rein und präsentiert sich militärisch auf Zack. Am Ende des Jahrhunderts tragen die Männer hochgebürstete Schnauzer wie Kaiser Wilhelm der Zwote, die aussehen wie ein Reichsadler-Absturz unter der Nase. Ist es Zufall, dass heute Hipster und Hänflinge expressive Holzfällerbärte tragen? In Zeiten des Umbruchs dienen