Wir sind wie Stunden. Michael Thumser

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Wir sind wie Stunden - Michael Thumser


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Phantasmagorie faszinieren. Durch den imposanten Wuchs ihrer Prämissen zeugt sie auffallend davon, dass die Geschichtsschreibung selbst ihre Geschichte hat. Denn „jedes Zeitalter“, so schrieb schon der Dichter und Karl-Marx-Freund Heinrich Heine, „wenn es neue Ideen bekömmt, bekömmt auch neue Augen“.

      Schluss machen

      Die Geschichte des Lebens auf Erden, umgerechnet auf die 24 Stunden eines einzigen Tags, lässt dem modernen Menschen nicht viel Zeit: Gerade mal seit drei Sekunden ständen ihm zu. Warum auch immer, entwickelten sich vor etwa 3,8 Milliarden Jahren, gleichsam um null Uhr, Organismen, die aus nur einer Zelle, erst ohne, dann mit Kern, bestanden. Für weit mehr als die Hälfte des Tages blieb es dabei. Erst nachmittags um vier fanden sich Mehrzeller ein. Noch einmal fünf lange Stunden später, um 21 Uhr, löste eine bislang unenträtselte Zündung die „kambrische Explosion“ aus: Mit ihr wuchs die Artenzahl von Schalen- und Weichtieren jäh und außerordentlich. Aus Vorformen der Wirbeltiere bildeten sich eine weitere Stunde danach Knochenfische, während auf dem nach und nach von Insekten und Skorpionen bevölkerten Festland erste Pflanzen sprossen. Dann zog das Tempo an: Um 22.15 Uhr tummelten sich Amphibien, bald auch Reptilien auf dem Trockenen, um 22.45 Uhr schufen sich die Dinosaurier Platz – aber nur für eine Viertelstunde. Vor etwa 66 Millionen Jahren – respektive um 23 Uhr – schlug ein fünfzehn Kilometer großer Gesteinsbrocken dort ein, wo heute die Halbinsel Yukatan auf dem Ozean liegt, verheerte das Klima und tilgte die Riesenechsen zusammen mit drei Vierteln aller anderen Arten vom Angesicht des Planeten. Als dessen Beherrscher traten für jetzt und fürderhin die Säugetiere auf den Plan. Zu guter Letzt blieb den Primaten ein schmales Minütchen vor Mitternacht, sich zu entwickeln und an mancherlei Seitenwegen vorbei schließlich unsere Spezies zu kreieren, den Homo sapiens.

      Die Krone der Schöpfung – das mag wohl sein – ist nicht er, sondern die Zelle: der potenziell unsterbliche Einzeller; das Ei. Dem Ende der Dinosaurier als dem fünften Massensterben im Lauf der Erdgeschichte folgt gerade jetzt, mit der von uns angerichteten Vernichtung einer horrenden Zahl von Tier- und Pflanzenarten, das sechste; Biologen sprechen von der „größten Katastrophe der Menschheitsgeschichte“. Wir Menschen brauchen die Natur; die Natur braucht uns nicht. Sie kann uns umso weniger brauchen, wie wir uns anmaßen, in die Uhrwerke ihres Gangs bedenkenlos hineinzugreifen, die ohne uns zu funktionieren begannen und ohne uns funktionieren würden und werden. In der Erzählung DER MENSCH ERSCHEINT IM HOLOZÄN aus der grandiosen Spätprosa des Schweizers Max Frisch sieht sich ein alternder Witwer, namens Herr Geiser, zu totaler Abgeschiedenheit verurteilt: Ein Bergrutsch und sintflutartige Regengüsse haben sein abgelegenes Haus von allen Zufahrts- und Fluchtwegen abgeschnitten, ein Stromausfall hindert Herrn Geiser daran, sich mit der gewohnten Alltagstechnik zu behelfen. Derart in eine vormoderne Monaden-Existenz zurückgestoßen, sammelt er aus allen ihm erreichbaren Quellen, was sich über die Geschichte von Welt und Menschen wissen lässt. Während sich die ihm vertraute Kulturlandschaft um ihn herum unbarmherzig zur Naturlandschaft zurück- und zum Schauplatz einer Apokalypse verwandelt, durchstreift der Einsame in Gedanken, lesend und schreibend seine Innenwelt, stellt sein Erinnern gegen das drohende Vergessen und Vergessenwerden. Schnipsel aus Lexika, Fach- und Sachbüchern fügt er zu einem Erkenntnisfragment zusammen, in dem Naturwissenschaft („Die Summe der Energie bleibt konstant“) und Mythos („Verwandlung von Menschen in Tiere, Bäume, Steine etc. Siehe: Metamorphose“) sich schneiden. Am Ende versucht Herr Geiser, der Vereinzelte, der Abtrennung von allem zu entkommen. Erwartungsgemäß scheitert er tödlich. Die Natur muss ihn, den Gleichgültigen, nicht erst verschmerzen. Sie nahm ihn gar nicht zur Kenntnis.

      Kaum den Einzelnen, wohl aber die Menschheit nimmt die Natur zur Kenntnis. Heute sehen sich immer mehr Wissenschaftler vieler Fachbereiche mit schlechtem Gewissen, aber aus gutem Grund veranlasst, auf dem 4,5 Milliarden Jahre langen Zeitstrahl, den die Erde schon im All zurücklegte, das Holozän für abgeschlossen zu halten und unseren Einstieg ins Anthropozän festzustellen. Der Äon, in dem die Menschheit ihre natürlichen Bedingtheiten hinter sich lässt: Etwa mit dem Jahr 1950 setzen die Autoritäten seinen Beginn an, als die „Große Beschleunigung“ Fahrt aufnahm, die erdgeschichtliche Phase, da der Mensch die Geo-, Bio- und Atmosphäre immer unverfrorener und folgenreicher manipuliert. Solche Einflussnahme bekommt uns nicht gut: Wie das Holozän das Zeitalter unseres Werdens, Wachsens und Wirkens auf dem Weg zur Vernunft war, ist das Anthropozän ein Zeitalter – vielleicht Endzeitalter – unserer Hybris, unseres Leichtsinns und unseres allfälligen Unvermögens, auch nur kleiner Weiterungen unseres selbstherrlichen Großprojekts Herr zu werden, das da heißt: „Wir sind wie Gott“.

      Immerhin, zu den Errungenschaften unserer Evolution gehört die Reflexion: Wir überlegen uns, worum es sich handelt bei der Zeit, wir wissen uns ganz und gar eingebunden in die dynamischen Prozesse der Welt und von vielen davon direkt oder mittelbar betroffen, und wir analysieren, wie uns dies widerfährt. „Der Mensch“, notiert bei Max Frisch der am äußersten Rand des Holozäns angekommene Herr Geiser, „der Mensch gilt als das einzige Lebewesen mit einem gewissen Geschichtsbewusstsein.“ Aber eben das verliert sich; auch dadurch – und vielleicht gerade dadurch – gibt das Anthropozän sich zu erkennen. Im Zeichen unserer schon jetzt schier unermesslichen Möglichkeiten erscheint es als Zeitalter überhaupt schrankenloser Machbarkeit: als Epoche einer „künstlichen Intelligenz“, die wir willentlich in die Lage versetzen, durch maschinelles Lernen Wirkungsräume unserer eigenen Intelligenz weit zu überbieten und unseren Willen auszumanövrieren.

      Im Denken vieler Zeitgenossinnen und Zeitgenossen dominieren die Gegenwart und Zukunft solcher und anderer wissenschaftlicher und technischer Innovationen; als entbehrlich entfallen Blicke ins Früher und Vorher. Zwar blüht in Fernsehprogrammen, Radiosendern und populärwissenschaftlichen Publikationen eine durchaus seriöse Darstellung historischer Themen, aber sie bleiben ein Angebot für spezialisierte Kreise. Der breiten Bevölkerung droht Geschichtslosigkeit, indem kollektive Erinnerungen verloren gehen durch das schwindende Interesse an ihnen. Wo aber das Wissen um geschichtliche Details und Bezüge schwindet, wo Vergangenheit die breite Öffentlichkeit nur mehr in Form reißerischer, unvermittelter Einzelheiten oder als zusammenspintisiertes Verschwörungsblendwerk reizt, da besteht Grund zur Sorge. Mit den Fakten geht auch die Einsicht verloren, dass ebenjene Fakten, um verstanden zu werden, erst interpretiert werden müssen. So drohen viele Menschen, gerade in Perioden der Krise und der Verunsicherung mehr denn je nach absoluten Wahrheiten gierend, anfällig zu werden für welterlösende Demagogien, vordergründigen Fundamentalismus. Aufklärung tut Not, Warnung vor selbstverschuldeter Unmündigkeit. Zwar steht Geschichte so leicht zugänglich wie noch nie auf dem Papier, findet aber in zu viele Köpfe keinen Zugang mehr. Müsste nicht auch dies ein „Ende der Geschichte“ markieren?

      Demgegenüber ergötzen die Simulationen der „Kontrafaktischen Geschichte“ unseren Spieltrieb. Sie leiten uns in die Räume der Fiktion. Warum auch nicht: Wenn wir, wie der Herr Geiser des Herrn Frisch notiert, aus allen zoologischen Spezies durch unser Geschichtsbewusstsein herausragen, so noch mehr durch die allein unserer Spezies verliehenen Macht, frei andere Welten zu imaginieren als die Welt, die dem Diktum Ludwig Wittgensteins zufolge „der Fall ist“. Hier wird, was sich Historikern gewöhnlich verbietet, nämlich das spekulative Planspiel, zur Methode erhoben und gewährt verwegenen Ableitungen und Induktionen, mutigen Vermutungen und schneidigen Schätzungen so viel Raum wie sonst nirgends. Natürlich darf auch hier Fantasie nur walten, solange sie sich auf ein gegebenes Fakten-Substrat einlässt. Zum Rang eines deutschen Sachbuch-Klassikers brachte es 1989 beispielhaft das Was-wäre-wenn-Szenario WENN HITLER DEN KRIEG GEWONNEN HÄTTE, worin Ralf Giordano dem Untertitel folgend „Die Pläne der Nazis nach dem Endsieg“ zusammentrug und hochrechnete. In FATHERLAND von Robert Harris aus dem Jahr 1992 und der Amazon-Serie THE MAN IN THE HIGH CASTLE von 2015 (nach Philip K. Dicks bereits 1963 erschienenem Thriller) treten, bei gleicher Ausgangsfrage, die grauenhaften Konsequenzen mit den plastischen Konstrukten des Romans und des Films hervor.

      Anders als im englischen und US-amerikanischen Raum weisen hierzulande viele Fachleute die „Kontrafaktische Geschichte“ als halbseidene und zwecklose Spielerei zurück. Tatsächlich hilft sie dem Wunsch nicht weiter, gemäß dem Altkanzlers Kohl „die Gegenwart [zu] verstehen und die Zukunft [zu] gestalten“. Wohl aber lässt sie, indem sie an sogenannten Divergenzpunkten oder nexus stories von Weichen stellender Relevanz festmacht, Fachleuten freie Hand, ansonsten vernachlässigte


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