Wir sind wie Stunden. Michael Thumser

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Wir sind wie Stunden - Michael Thumser


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uns zu kommen und etwas zustande zu bringen.

      Einen scheinbaren Aufenthalt. Denn natürlich basiert die Funktion neuzeitlicher Uhren auf Bewegung, auf Schwingungen nämlich, ob es nun molekulare sind wie bei der Quarz- und der Atomuhr oder die mechanischen des (im sechzehnten Jahrhundert erfundenen) Pendels oder der gut 340-jährigen Unruh. Anders und doch wahlverwandt das Prinzip der mancherlei vormodernen Uhrmodelle: In der Wasseruhr der Antike, der Sanduhr des späten Mittelalters nahm das Quantum der Flüssigkeit oder der Körner, durch eine Öffnung im Gefäß entschlüpfend, ablesbar ab, bei der Öluhr sank der Pegelstand des Brennstoffs, bei der Kerzenuhr die Höhe des Wachsstocks, je mehr davon zur Flamme wurde … – je mehr Mangel am Brennmaterial herrschte, desto weniger Zeit ‚hatten‘ die Benutzer, bis sie nachrüsten mussten. Hinsichtlich der Energieversorgung bewahrt sich die vor etwa 3300 Jahren aufkommende Sonnenuhr naturgemäß die größte Unabhängigkeit, denn sie benötigt keine Triebkraft, nur Licht, das den wandernden Schatten wirft; und allerdings verliert sie bei bezogenem Himmel, erst recht im Dunkeln ihre Brauchbarkeit völlig. Indem die Europäer endlich die mechanische Uhr ersannen, liefen sie China und dem islamischen Orient den Rang als Vorreiter des Fortschritts in der Welt ab und machten sich selber dazu.

      Rund um die Uhr schufen wir ein ausgedehntes Symbol- und Metaphernfeld. Dass die Zeit verrinnt, versinnbildlicht wohl kein Zeitmesser eindringlicher als die Sanduhr; tatsächlich gehört sie, in der Hand des Knochenmanns, ikonografisch zu den beliebtesten Attributen für Allegorien der Sterblichkeit. Anders der mechanische Räder-Chronometer – dessen Erfinder, wohl ein genialer norditalienischer Klosterbruder am Ende des dreizehnten Jahrhunderts, leider anonym blieb –: Einerseits zwar verhalfen uns erst jene Uhren recht eigentlich zur Urbarmachung der Zeit, zum 24-Stunden-Tag, durch den wir uns hetzen lassen, demgemäß wir unsere Arbeitszeit beschränkend definieren und dem wir, in der Folge, auch unsere Freizeit verdanken. Andererseits können sie in uns die Hoffnung nähren, wir müssten gar nicht obsiegen beim redensartlichen Wettlauf gegen die Uhr, weil die in uns selber steckt. Für unsere Altvorderen spiegelten sich im aufs Feinste gearbeiteten Werk der Uhr die Regulative, die uneingreifbar im Kosmos, unantastbar im Staat walten, und es verschaffte ihnen immerhin eine Ahnung von Regelkreisläufen, wie sie auch ihre Körper buchstäblich am Laufen hielten. Noch immer kann uns der Rundlauf der Zeiger auf einem Zifferblatt mit der wenig willkommenen Vorstellung einer Wiederkehr des Immergleichen schrecken. Aber auch geradezu belebt kommt uns die mechanische Uhr mit den ineinander verzahnten, aufeinander zugreifenden Teilen ihres Innenlebens vor, zumal wenn sie, was seit etwa 1330 zunächst von Türmen herab geschah, aus unsichtbaren Tiefen mittels eines Schlagwerks Laut gibt, als besäße sie eine Seele und Stimme. So mag sie gelegentlich den Verdacht in uns nähren, auch der Mensch sei nicht viel mehr als eine Maschine, zu gut geöltem Wandel fähig, vorausgesetzt, es ergeben sich Möglichkeiten, sie rechtzeitig aufzuziehen, bis sie irgendwann ein letztes Mal abläuft und stehenbleibt. Andererseits schreiben wir, angeregt von der um 1270 aufgekommenen Hemmung – die das Gehwerk der Uhr bremsend daran hindert, auf einmal abzuschnurren –, auch unserem eigenen Lebenslaufwerk ein festes Metrum der Gemächlichkeit zu. Dabei behagt uns der gleichmäßige Wechselschritt der Hemmung durch seine Vergleichbarkeit mit einem gesunden Herzen und seinem rhythmischen Puls.

      Modelle der Geschichte

      Wann beginnt die Zeitrechnung? Weithin haben sich die Geschichtswissenschaftler daran gewöhnt, den Anfang der Frühgeschichte etwa mit dem Jahr 2000 vor Christus anzusetzen, die Antike, je nach Weltregion und Stand der Hochkultur, von 1000 vor bis 500 nach Christus zu platzieren, dem Mittelalter (ungeachtet der schrägen Fälschungsvorwürfe der Herren Illig und Niemitz) einen Spielraum von 500 bis 1500 freizuhalten und für die Epoche danach und seither von Neuzeit zu sprechen. „Nach Christus“: Wenigstens historisch bleibt der göttliche „Menschensohn“ christlichen Glaubens auch für Atheisten ein Bezugspunkt. Fromme Juden hingegen beziehen sich auf jene Woche vor trickreich errechneten 5781 Jahren, in der Gott die Welt erschaffen habe; und die Römer nahmen das sagenhafte Geburtsjahr ihrer Hauptstadt, 753 vor unserer Zeitrechnung, als Startpunkt für ihre Geschichte an.

      Aus heutiger Perspektive betrachtet, lebte der Mönch Dionysius Exiguus am frühesten Beginn des Mittelalters, um das Jahr 500 in Rom, als er aus gottgefälligen Gründen auf das heute fast universal gebrauchte System mit Christi Geburt als Ursprung verfiel. Weit entfernte er sich von den paganen Resten des zerfallenen weströmischen Imperiums, um sich ausschließlich auf die Biografie des Heilands zu verlassen. Aufgrund seiner – später als fehlerhaft erkannten – Berechnungen siedelte Dionysius das Jahr 1 neuer Lesart im römischen Jahr 754 ab urbe condita, nach Gründung der Stadt, an. Darum stehen die gängigen säkularen Vorstellungen von Geschichte und einer durch Gott tätig ins Werk gesetzten Heilsgeschichte nach wie vor untergründig in Kontakt.

      Über den Gang der Geschichte als Folge blinder Zufälle oder als invariables Kausalgefüge zerbrechen sich seit jeher weniger die Historiker als die Philosophen den Kopf, spätestens seit beide Zünfte getrennte Wege gehen. Besichtigen wir die Zeitalter aus dem Blickwinkel unserer persönlichen Erfahrungen, so erkennen wir – kosmische und Naturkatastrophen ausgeblendet – wohl nichts, das sich ‚ohne Not‘ zutrug: ohne Beweggründe und Absichten, die in den Menschen lagen. Nichtsdestotrotz muss unser Verstand an einem deterministischen Weltbild scheitern, das in allem eine vollständige Vorherbestimmung schalten sieht. Kaum jemand will die Welt für eine Megastruktur halten, von nichts als Gesetzmäßigkeiten konstituiert, in der alles was ist, gar nicht anders sein könnte, weil sonst alles, was zuvor war, hätte anders sein müssen. So manches unerklärliche Abenteuer – und selbst die Quantenphysik – belehrt uns, dass wir die Kategorien Ursache und Wirkung nicht allzu unverrückbar benützen sollten. Zwar wissen wir alle von größten Verhängnissen, die verhältnismäßig kleinsten Auslösern entsprangen; schwerlich aber glauben wir an den schon sprichwörtlichen Flügelschlag eines Schmetterlings in Brasilien, der einen Wirbelsturm in New York entfesselt, mag der Mathematiker Edward Lorenz ihn in seiner Chaostheorie auch herbeigerechnet haben. Angenommen, vollständige Determination geböte über die Welt, so wären, bei ausreichend leistungsstarker, nämlich sämtliche Menschheitserfahrungen verarbeitender Informationstechnik restlos alle künftigen Ereignisse auf Erden vorausberechenbar, im besten Fall auf Jahrtausende hinaus. Ereignete sich aber auch nur der geringfügigste Fehler dabei, müsste er alle Prognosen als größtmöglichen Unsinn wertlos machen. Angewandt auf etliche Vertreter früherer Geschichtsschreibung besagt dies auch, dass sie notgedrungen jeweils dann falsch lagen, sobald sie von ihrem entfernten Standpunkt aus annahmen, die Menschen eines Zeitraums hätten ihre eingerichtete Welt nicht bloß als Produkt ihrer Vergangenheit verstanden, sondern ahnungsvoll zugleich schon als Fabrikationsort ihrer später so und nicht anders eingetroffenen Zukunft – ein logischer Trugschluss, denn schlauer werden sie stets erst ‚hinterher‘ geworden sein. Wir können, was kommt, nur in Glaskugel oder Kaffeesatz lesen; und natürlich können wirs nicht.

      Eins aber prägt uns das Dasein täglich ein: „dass es ein Ende mit mir haben muss und mein Leben ein Ziel hat und ich davon muss“, wie der alttestamentarische Psalmist sang und, in Johannes Brahms’ Requiem, die Oratorienchöre singen. Sollte Geschichte „ein Ziel“ haben, so müsste es ein Ende sein, das sich nicht programmgemäß und unpersönlich als big crunch oder big rip oder big chill durch kosmosumfassende Zerstörung vollzöge, sondern in dem sich – womöglich durch eine überirdische Macht – ein ersprießlicher Zweck für uns erfüllte. Vom Mythos der geschichtsmächtigen, wohlüberlegt geschichtswirkenden „großen Einzelnen“ hat sich die Historiografie nach Jahrhunderten der Heldenverehrung zwar verabschiedet: Geschichte ereignet sich nicht, weil bedeutende Menschen, womöglich titanische Männer, die Dinge der Welt nach ihrem Gutdünken voran brächten. In der biblischen Geschichte taucht er aber noch auf – der ‚größte‘ Einzelne für die Gläubigen, Jesus von Nazareth. Seinen Anhängern offenbart sich an seiner Gottessohnschaft, zu welchem Ende, also wozu, und bis an welche Stelle Geschichte verläuft, also wo und wie sie aufhört. Gott, so die abendländische Heilslehre, folge einem weiträumigen und felsenfesten, für uns unausdenkbaren, aber erfahrbaren Plan; der laufe auf die „ewige Seligkeit“ hinaus, die Erlösung eines jeden, der – statt darüber Bescheid wissen zu müssen – daran „glaubt und getauft wird“. Wenn das kein „Ziel“ ist! Nun aber ist solche Überzeugung Bekenntnis, nicht Erkenntnis, Gewissheit statt Wissen. Im säkularen Sinn wissenschaftlich


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