Wir sind wie Stunden. Michael Thumser

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Wir sind wie Stunden - Michael Thumser


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Benedetto Croce: Er rief die SCIENZA NOVA als erstes großes geschichtsphilosophisches System der Neuzeit aus. Zuvor blieb die universalgeschichtliche Rundsicht des frühaufklärerischen Denkers lange Zeit weitgehend unbeachtet. Andere, spätere Gedankengebäude der Gelehrsamkeit vermochten gleich nach ihrer Errichtung weitaus größere Aufmerksamkeit zu erwecken. Etliche basieren auf einer letztlich fortschrittsoptimistischen Beurteilung der Zeitläufte, in denen sich – so die Annahme – Verstand und Vernunft, Gleichheit und Rechtlichkeit, wissenschaftliche, technische und künstlerische Kreativität stetig vermehrt hätten und möglichst vielen zugutegekommen seien. So entsteht das Ideal einer Geschichte nach Plan, die irgendwann durchs höchste Ziel geht.

      Dies Wunschbild zu malen, wirkten Georg Friedrich Wilhelm Hegel und Karl Marx nach Kräften und mit intensivster Breitenwirkung mit. Dem Denken Hegels liegt eine Dialektik zugrunde, der zufolge These und Antithese in der Synthese dreifach aufgehoben, nämlich suspendiert, bewahrt und erhöht sind, und das in einem Atemzug; diese Sicht durchdringt auch seine Geschichtsphilosophie. Als Agens tritt der Weltgeist auf, der sich aus allem Geschehen allmählich herausschält. Er tut dies im Zug einer unabsehbaren Serie von Dreischritten: Der Weg führt über Widersprüche, über deren Ausgleich und aufs Neue opponierende Antithesen, bis hin zur vollkommenen Freiheit, zu der die Menschen von vornherein berufen sind. Kein leichter Weg, im Gegenteil; durch vielerlei Furchtbares führt er hindurch. Aber auch das Unheil ist letzten Endes vernünftig, weil für Hegel alles, was ist, höherer Vernunft gehorcht.

      Unter der hehren Devise „Ordnung und Fortschritt“ entwickelte Auguste Comte in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts ein ebenbürtig optimistisches Modell: ein positives – im doppelten Sinn. Zum einen stellte er der Menschheit eine günstige Prognose; zum anderen wähnte er den Menschen dann am Ziel angelangt, wenn sein Geist gelernt habe, nur das „Positive“ für wirklich und wahr zu nehmen, nur das, was er empirisch wahrnehmen und überprüfen könne; als metaphysisch habe er alles zu verwerfen, was angeblich jenseits, neben oder über der Faktizität stehe. So begründete Comte, einer der Väter der Soziologie, von etwa 1830 an die Schule der Positivisten. Auch er bezeichnete drei Schritte zum Ziel hin, allerdings auf einem nur ein Mal zu bewältigenden Weg. In der ersten Phase hielten sich die Menschen an so etwas wie Theologie; um zu klären, woher sie kommen und warum sie existieren, dachten sie sich die Schöpfung insgesamt beseelt, später von etlichen Göttern, noch später von nur einem Gott beherrscht. Dann, in der metaphysischen Periode, setzte sich die Vernunft der Philosophen durch; sie entfernen sich von der Transzendenz, kommen aber nicht umhin, doch weiter zu spekulieren: Was ist der Mensch, wo kommt er her, wo geht er hin? Als drittes und letztes Stadium verspricht Comte eines des Verzichts und des Gewinns in einem: Endlich wendet sich das allgemeine Interesse vollends von den eh unlösbaren Sinnfragen nach ersten und letzten Dingen ab; es ist das „positive“ Stadium einer reinen, allein von Tatsachen ausgehenden und auf sie bezogenen Wissenschaft, die dort taugt, wo die Gesellschaft sie zu ihrem Wohl anwenden kann. (Auf einem anderen Blatt steht, dass der sich mehr und mehr versteigende Philosoph sein Konzept am Ende zu einer diesseitigen „Religion der Menschheit“ oder Menschlichkeit empormystifizierte, die in sakralen Aktionen in der Pariser Kathedrale Notre Dame gipfeln sollte.)

      Ähnlich positivistisch projektierten Karl Marx und Friedrich Engels eine gesetzmäßige historische Entwicklung. In ihrem KOMMUNISTISCHEN MANIFEST von 1848 und weiteren Schriften interpretierten sie Hegels Konfrontation der miteinander hadernden Gegensätze zu einer dialektischen Aufeinanderfolge von Klassenkämpfen um. Eine genügsame, gerechte und herrschaftslose Urgesellschaft, so bekundeten die Begründer des Kommunismus, habe erleben müssen, wie das Aufkommen von Eigentum sie korrumpierte. So seien aus ihr die Unterdrückungs- und Ausbeutungssysteme der Sklavenhaltung, des Feudalismus und des bourgeoisen Kapitalismus mit seinen freibeuterischen Fabrikanten und geldschneidenden Banken gesprossen. Auf Kosten vieler, sich selbst entfremdeter Armer mache dies Wirtschaftssystem einige wenige reich, darum würden die Lohnsklaven der Neuzeit, die „Proletarier aller Länder“, schließlich in einem globalen Gewaltakt revoltieren und so den Sturm auf den Gipfel der sozialen Umwälzung anführen; dort, auf wiederum paradiesischen Höhen, thront die finale Gesellschaftsform, eine klassenlose „Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist“ und deren Mitglieder vom Gemeineigentum nur so viel an sich nehmen, wie sie wirklich benötigen. Sie kenne keinen ruinösen Raubbau an der Arbeitskraft mehr, so die Vision, keine Abhängigkeit drangsalierter Knechte von bevormundenden Bonzen. Auf jenem langwierigen und blutigen Opfergang bewahrheite sich die Grundüberzeugung des „historischen Materialismus“: dass nämlich nicht menschliches Bewusstsein den geschichtlichen Prozess, sondern vice versa die jeweiligen historischen Gegebenheiten das Bewusstsein prägten. Die Menschheit, damit sie aus ihrer Misere herausfinde, wird als belehr- und von Grund auf veränderbar gedacht: Das marxistische Utopia oder Dystopia verheißt ein Elysium ohne Staat. Der hat ausgedient.

      Umso schwärzer sah Oswald Spengler. „Die Weltgeschichte ist das Weltgericht“, und zwar ein in Permanenz tagendes, proklamierte er in seinem 1918 und 1922 veröffentlichten UNTERGANG DES ABENDLANDES. Seine Betrachtungsweise formt die Geschichte abermals zu Kreisen und scheint dabei sowohl der Anschauung des Augustinus als auch der Vicos verwandt. Spengler – der eurozentrischen Geschichtsschreibung abhold, zudem erbitterter Gegner von Liberalismus und Demokratie und glühender Gefolgsmann Nietzsches, des Propheten der „ewigen Wiederkehr des Gleichen“ – machte als Triebkraft den „Willen zur Macht“ ausfindig. Durch ihn behaupte das „stärkere, vollere, seiner selbst gewissere Leben“ sich gegen das mindere. Acht Hochkulturen reihte er auf und sprach ihnen allen gleichen Wert zu: Babylon und das alte Ägypten, Indien und China, die europäischen Reiche des antiken Griechenlands und Roms, die „magische“ Hochkultur, worunter Spengler frühes Christentum, Byzanz und frühislamisches Arabien zusammenfasste, sowie Mittelamerika. Als achtes Imperium erhöben nun Westeuropa und Amerika das Haupt am höchsten. Jede der Kulturen stehe für sich, keine beziehe sich in irgendeiner Weise auf eine der andern, es könne auch eine die anderen im Wesenskern gar nicht erfassen und ermessen.

      Etwa tausend Jahre habe jede der bisherigen dauern dürfen; während dieser Frist hätten ihre ursprünglichen, florierenden Anlagen tief gründend als Gesellschaftsformen aufblühen können, aber als oberflächlich-platte Zivilisationen wieder verwelken müssen. Etwa mit dem zwanzigsten Jahrhundert endeten auch die tausend Jahre des Abendlands, das der Studie den Titel gab. Dem Optimismus des Marxismus setzte der „morphologische“ Bestseller Spenglers, nach dem Ersten Weltkrieg Pflichtlektüre jedes reflektierenden Kopfes, einen Pessimismus entgegen, der jede Kultur auf Erden wie einen Menschen als lebendigen, mit einer „Seele“ begabten und unbedingt endlichen Organismus ansieht. Folglich misst er ihm die Lebensalter jeder menschlichen Biografie bei: eine Kindheit der Magie und der Mythen, eine leistungskräftige Jugend und eine Reifezeit selbstbewussten Schöpfertums; den Schluss markiert eine Spätphase, die ihre spielerische Originalität durch die Vulgarität der Massen in ihren immer größeren und engeren Städten, durch das Kleinklein der Routinen, den Stumpfsinn technischer und bürokratischer Gleichläufe, durch die Sperenzchen eines sich spreizenden, aber entleerenden Intellektualismus lähme und verschleiße. Aus diesem Sumpf könne allein ein neuer „Cäsar“ helfen, den Spengler nicht in Adolf Hitler, dafür in Benito Mussolini sichtete. Dem Glauben an einen Fortschritt und kontinuierlichen Aufstieg des Menschengeschlechts, wie Christentum, Hegelianer und Marxisten ihn hegten, versagte sich Spengler. Dafür scheute er, weil er zwischen den einander so gleichartigen Werde- und Untergängen der Kulturen Analogien fand, vor Wahrsagerei nicht zurück: Auf den 1400 Seiten seines Hauptwerks, so renommierte er, wage erstmals jemand den Versuch, „Geschichte vorauszusagen“ – Zukunft zu wissen.

      Weder „große“ Extremgestalten noch cäsarische Übermenschen bietet die Geschichte als Hauptverantwortliche für ihre Affären und Spektakel auf. Ebenso wenig kann sie explizit als Auskunftei oder als Regeln setzende, zu- oder abratende Lehrmeisterin für Gegenwart und Zukunft dienen, mag sie dafür auch von der Antike bis zu Oswald Spengler oftmals hergehalten haben. Heute herrscht allgemein die Auffassung, dass in ihrem Lauf zwar Ereignismuster wiederkehren; keinesfalls aber wiederholen sich ganze Perioden. Nicht einmal das Sinnbild der Spirale, auf der die Menschheit zwar nach oben strebe, aber von Runde zu Runde typische Reizpunkte immer wieder passieren müsse, taugt, schon gar nicht das Symbol des geschlossenen Kreises. Konsequent bis


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