APEX. Ramez Naam

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APEX - Ramez  Naam


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angebrochenen Rippen, seine geplatzten Trommelfelle und seine zweifach gebrochene Hand zu ignorieren. Die Gehirnerschütterung, die er vermutlich erlitten hatte. Den Schlag, den er abbekommen hatte, als Sam das Flugzeug zum Rollen brachte. Den Schock, Shivas Geist vor ihm ausgebreitet zu sehen. Die tiefe Unsicherheit darüber, wie die indische Regierung sie behandeln würde.

      Alles wird gut, sendete er an sie.

      Sie lassen uns in Indien einfliegen.

      Er übermittelte dies durch seine Gedanken an sie alle.

      Sarai sah zu ihm auf. Sie lächelte ihn nervös an und schob sich eine Haarsträhne hinters Ohr.

       Wir wissen, was gerade passiert.

      Kade konnte nicht anders, als reumütig darüber zu schmunzeln. Natürlich wussten sie es. Und sie wussten genau, dass er die Dinge verharmloste. Dass er die Ungewissheit darüber, was man in Indien mit ihnen vorhatte, herunterspielte. Trotz all seiner Expertise war er so einfach zu durchschauen. Zumindest für jedes Kind, das mit Nexus in seinem oder ihrem Gehirn geboren worden war. Feng war ebenso leicht zu durchschauen. Die Kinder sahen alles, als es geschah. Sahen die Gedanken in ihren Bewusstseinen mühelos Form annehmen. Sogar Sarai, die Nexus nie verabreicht bekommen hatte, bis sie vier Jahre alt war, machte ganz natürlichen Gebrauch davon, rein instinktiv. Und erst der Rest von ihnen, der Nexus bereits im Mutterleib ausgesetzt war …

      Kade schloss seine Augen. Eine schwere Müdigkeit überkam ihn. Nein. Er zwang sich, seine Aufmerksamkeit auf das Code-Fenster zu fokussieren, dass sich vor seinem geistigen Auge geöffnet hatte. Der Code für den Virus, der die Hintertüren eliminieren würde. Er hatte einige kleine Änderungen vornehmen müssen, einige Anpassungen an den Code, mit dem es möglich war, in Shivas Bewusstsein einzudringen.

      Die Änderungen waren nun erledigt. Der Code lag vor ihm und wartete auf seine Aktivierung.

      Eine Statusleiste zeigte ihm an, dass er eine ausreichende Datenübertragungsrate hatte, eine stabile Verbindung von ihrer Maschine zu einem der Kommunikationssatelliten aus Shivas LEO Konstellation, die am Himmel umherkreisten.

      Ein kurzes Kommando und all das wäre vorbei. Die Hintertüren, die in jede Nexus-5-Kopie eingebaut waren, würden ausgehebelt werden. Die im Quellcode und auch die im Compiler selbst. In jeder einzelnen Kopie, die der Virus finden konnte, würden sie entfernt werden. Dann gäbe es keine Versuchung mehr. Er würde nicht zu Shiva werden. Und kein zukünftiger Shiva würde ihm diese Hintertüren stehlen können.

      Er musste es jetzt tun. Jetzt, in den nächsten wenigen Minuten bevor die Inder ihn in den Fingern haben würden. Jetzt, bevor irgendjemand anders versuchen konnte, sie ihm abzunehmen. Bevor jemand versuchen würde, ihn aufzuhalten.

      Doch die Zweifel nagten erneut an ihm. Die Erinnerungen an sein Scheitern. Flammen, die aus einer Kirche in Houston ausbrachen. Nur einige Stunden zuvor hatte die Posthuman Liberation Front – besser gesagt eine PLF Terroristengruppe, die von einem Mann namens Breece angeführt wurde – nahezu eintausend Menschen bei einem Gebetsfrühstück für Daniel Chandler in Houston getötet. Chandler war der Verfasser des Chandler-Acts und Spitzenkandidat bei der Wahl zum Gouverneur von Texas.

      Sie hatten Nexus dazu benutzt, die Kontrolle über das Bewusstsein einer unschuldigen Frau zu übernehmen und die Bombe zu legen.

      Ebenso, wie sie Nexus dazu benutzt hatten, eine Bombe in Chicago zu zünden. Und genauso hatten sie Nexus vor drei Monaten bei dem Versuch eingesetzt, ein Attentat auf Präsident John Stockton in DC zu verüben.

      Kade war jedes Mal zu spät gekommen.

      Alles ging in Flammen auf. Alle Bombenanschläge und Morde der PLF würden den Kreislauf von Intoleranz und Hass, von Übergriffen, Misshandlungen und Terrorakten anfachen und letztendlich in einem ausgewachsenen Krieg enden.

      Wenn Kade die Hintertüren in Nexus beseitigte, würde er seine Waffe verlieren, die er bei dem Versuch eingesetzt hatte, Breece zu finden, die PLF zu stoppen und sie davon abzuhalten, einen Krieg zu entfachen.

      Kade öffnete seine Augen und sah, wie Sarai Aroon anblickte. Er konnte ihre Berührungen spüren, mit denen sie das Kleinkind beruhigte und sein Geist war nun klar. Diese Kinder waren die Zukunft. Weitere Generationen würden mit Nexus 5 in ihren Gehirnen geboren werden. Tausende von ihnen. Gar Zehntausende, vielleicht sogar Millionen. Er würde nicht zulassen, dass diese wundervollen Kinder mit einer solchen Verwundbarkeit geboren werden würden. Würde es nicht zulassen, dass ihre Anmut verdorben werden würde. Sie würden den Krieg auf eine andere Art und Weise stoppen müssen. Es musste einen besseren Weg geben.

      Kade schloss seine Augen, ließ den Atem tiefer werden, ließ sich von ihm vereinnahmen und die Atmung zum Mittelpunkt seiner Aufmerksamkeit werden, bis nichts anderes mehr um ihn herum war. Bis er zu seinem Atem wurde und sein Atem zu ihm, bis sein Bewusstsein ihn mit seinem ganzen Wesen und von ganzem Herzen ausstrahlte.

      Und dann waren die Kinder mit ihm. Zunächst Sarai, dann Kit, dann die restlichen. Eines nach dem anderen. Sie ließen ihre Angst los und sanken so einfach, so mühelos in dieses Ganze ein. Und er war sie alle und sie alle waren er. Zusammen waren sie gewaltig: ganz Atem, ganz Bewusstsein, unverfälschte Intelligenz. Ihr erleuchtetes Selbst war ein neuer Gipfel der Wahrnehmung und alle zusammen überwanden sie die Grenzen von bloßem Fleisch und Knochen, von Zweifel und Schmerz.

      Dann klickte Kade auf das Icon, das sich vor ihm befand und der Virus jagte zu den Satelliten über ihnen hoch und hinaus in die ganze Welt, um die Hintertüren für immer zu vernichten.

       3| DIE GESCHICKLICHKEIT DES GEISTES

      

      Samstag, 03.11.2040 Qui Li-Hua wartete draußen vor den Aufzugstüren, hinter sich die bewaffneten Wärter und Scanner und lauschte dem langsamen Knirschen, als die riesige Maschine sich gemächlich ihren Weg durch das kilometerhohe Felsenfundament hinaufbewegte.

      Der hochwichtige Ausrüstungskoffer befand sich zu ihren Füßen. Er beinhaltete das einzige elektronische Equipment, das man mit hinein- oder hinausnehmen durfte. Die Postdoktoranden und Techniker waren ehrerbietig hinter ihr aufgestellt.

      Ich bin immerhin Leitende Wissenschaftlerin Qui, dachte sie sich. Spitzenberaterin des großen Chen Pang. Obwohl ich eigentlich eher Professorin Qui sein sollte. Ausgezeichnete Professorin Qui.

      Sie hätte diese Professur längst innehaben müssen. Die Stellung wäre ihr gewiss, wahrscheinlich sogar ein Lehrstuhl. Zumindest wenn Chen Pang sie nicht blockiert hätte, die Entdeckungen, die aus Su-Yong Shus Geist kamen, nicht heimlich für sich selbst gehortet und er sich nicht geweigert hätte, den Ruhm mit ihr zu teilen. Nach allem, was sie für ihn getan hatte.

      Chen Pang, der führende Kopf im Bereich des Quantencomputing, dachte Li-Hua verächtlich. Ein Hochstapler.

      Oh, er war einst führend gewesen. Er hatte das Cluster designt, auf dem Su-Yong Shus Geist jetzt beruhte.

      Aber all die Entdeckungen der letzten Jahre? Nun, es war Li-Hua klar, wer in Wahrheit zu diesen Erkenntnissen gekommen war. Wenn auch niemand sonst diesen Zusammenhang erkannt hatte.

      Su-Yong Shu hatte ihren Ehemann schon lange in den Schatten gestellt. Oder jedes andere menschliche Wesen, zumindest in diesem Gebiet. Der große Professor Chen war kaum mehr als ein Strohmann.

      Nun würden sie Shu abschalten. Chens Stern würde verblassen. Und Li-Hua würde aufsteigen und das sehr bald.

      Der Crash in Schanghai war der eigentliche Grund, weshalb sie Su-Yong Shu abschalteten, auch wenn es sich niemand auszusprechen wagte.

      Zwei Wochen zuvor war es in Schanghai zu einem Totalausfall gekommen. Der Strom war ausgefallen. Das Wasser war ausgefallen. U-Bahnen und Züge waren ausgefallen. Selbstfahrende Autos – komplett eigenständige Dinge, die eigentlich völlig unabhängig von der Außenwelt sein sollten – waren ausgefallen. Automatisierte Lebensmitteltransporter und Güterlieferwagen waren ausgefallen.


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