H. G. Wells – Gesammelte Werke. Herbert George Wells
Читать онлайн книгу.obwohl ich eifrig nach ihnen ausblickte. Später sah ich in der Richtung des Lichtes auf dem Bahnhof von Woking eine Anzahl schwarzer Gestalten, die eine nach der anderen über die Lichtlinie eilten.
Und das war die kleine Welt, in der ich jahrelang so sorglos gelebt hatte, dieses feurige Chaos! Was eigentlich in den letzten sieben Stunden geschehen war, wusste ich noch immer nicht. Noch erkannte ich nicht, obwohl ich es allmählich zu erraten begann, den Zusammenhang zwischen jenen mechanischen Ungeheuern und den schwerfälligen Klumpen, die der Zylinder ausgespien hatte. In einem eigentümlichen Gefühl unpersönlichen Interesses schob ich meinen Schreibtischstuhl ans Fenster, setzte mich nieder und starrte hinaus in die geschwärzte Landschaft, und besonders auf jene riesigen schwarzen Unholde, die dort im Lichtschein bei den Sandgruben auf- und niedereilten.
Sie schienen erstaunlich geschäftig. Ich begann mich zu fragen, was sie wohl sein könnten. Waren sie vernunftbegabte Mechanismen? Doch ich fühlte, so ein Ding sei unmöglich. Oder saß in jedem ein Marsmann, der es beherrschte, bewegte und leitete, so wie das Gehirn des Menschen in seinem Körper sitzt und herrscht? Ich fing an, diese Dinge mit menschlichen Maschinen zu vergleichen, mich zum ersten Mal in meinem Leben zu fragen, was wohl ein vernünftiges aber tieferstehendes Wesen von einem Panzerschiff, einer Dampfmaschine denken möge.
Der Sturm hatte den Himmel geklärt, und über dem Rauch des brennenden Landes versank der kleine verblassende Stecknadelkopf des Mars im Westen, als ein Soldat in meinen Garten kam. Beim Gartenzaun hörte ich ein leises Scharren und, aus der Erstarrung, die mich erfasst hatte, mich aufraffend, blickte ich hinab und sah ihn undeutlich, wie er über die Planken kletterte. Beim Anblick eines anderen menschlichen Wesens verließ mich meine Betäubung, und ich lehnte mich, eifrig lauschend, aus dem Fenster.
»Pst!«,rief ich leise.
Er blieb, wie im Zweifel, auf dem Geländer reitend. Dann stieg er herüber und kam über den Rasen zur Ecke des Hauses. Er ging vorgebeugt und trat nur leise auf.
»Wer ist da?«, rief er im gleichen Flüsterton. Er stand unter dem Fenster und spähte herauf.
»Wohin gehen Sie?«, fragte ich.
»Gott weiß es.«
»Wollen Sie sich verstecken?«
»Jawohl.«
»Mein Gott!«, sagte er, als ich ihn hereinzog.
»Kommen Sie ins Haus«, sagte ich.
Ich ging hinab, öffnete die Tür und ließ ihn herein. Dann schloss ich die Türe wieder ab. Sein Gesicht konnte ich nicht sehen. Er war ohne Hut, und sein Rock war offen.
»Was ist denn geschehen?«, fragte ich.
»Was ist nicht geschehen?« Selbst in der Dunkelheit konnte ich sehen, wie er eine Gebärde der Verzweiflung machte. »Sie haben uns weggewischt — einfach weggewischt«, wiederholte er immer wieder.
Er folgte mir fast mechanisch ins Speisezimmer.
»Nehmen Sie etwas Whiskey«, sagte ich und schenkte ihm ein tüchtiges Glas voll ein.
Er trank es aus. Dann setzte er sich plötzlich an den Tisch, legte seinen Kopf auf seine Arme und begann zu weinen und zu schluchzen wie ein kleines Kind, in einer geradezu leidenschaftlichen Erregung. Ich stand in einer merkwürdigen Vergessenheit meiner eigenen eben empfundenen Verzweiflung voll Staunen neben ihm.
Es dauerte eine Weile, ehe er seiner Nerven so weit Herr wurde, um meine Fragen zu beantworten, und dann konnte er nur verworren und gebrochen sprechen. Er war Kutscher in der Artillerie und war erst um sieben Uhr ins Gefecht gekommen. Zu jener Zeit war das Geschützfeuer auf der Weide schon in vollem Gange. Man sagte, dass die erste Abteilung der Marsleute langsam zum zweiten Zylinder hinkroch, unter dem Schutze eines Metallschildes.
Später erhob sich dieser Schild auf ein dreifüßiges Gestell und wurde die erste jener Kriegsmaschinen, die ich gesehen hatte. Das Geschütz, das er lenkte, war bei Horsell in Stellung gebracht worden, mit dem Befehl, die Sandgruben zu bestreichen, und seine Ankunft hatte den Kampf beschleunigt. Als die Protzwagenkanoniere sich zur Nachhut begaben, trat sein Pferd in ein Kaninchenloch, kam zu Fall und schleuderte ihn in eine eingesunkene Erdstelle. Im selben Augenblick explodierte die Kanone hinter ihm, die Munition flog in die Luft, alles um ihn herum stand in Flammen und er fand sich unter einem Haufen verkohlter Leichen und toter Pferde liegen.
»Ich lag ganz still«, erzählte er, »besinnungslos vor Schrecken, das Vorderteil eines Pferdes auf mir. Wir waren weggewischt worden. Und der Geruch — guter Gott! Wie verbranntes Fleisch! Mein ganzer Rücken war wund durch den Sturz des Pferdes, und ich musste dort liegen bleiben, bis ich mich besser fühlte. Eine Minute vorher war es ganz so wie bei einer Parade gewesen — dann ein Stolpern, ein Krachen, ein Zischen!«
»Weggewischt!«, sagte er.
Lange Zeit lag er unter dem toten Pferd verborgen; nur verstohlen spähte er auf die Weide hinaus. Die Männer des Cardigan-Regiments hatten einen Sturm versucht, in Plänkelordnung,1 auf die Grube los, um einfach aus dem Leben hinausgefegt zu werden. Dann hatte sich das Ungetüm auf seine Füße erhoben und wanderte gemächlich zwischen den wenigen Flüchtigen die Weide entlang auf und ab. Dabei drehte sich seine kopfartige Bedachung nach allen Seiten, genau so wie der Kopf eines mit einer Kapuze bekleideten Menschen. Eine Art Arm trug einen komplizierten metallischen Behälter, aus dem grüne Blitze sprühten, und aus einem daran befestigten Trichter fuhr der Hitzestrahl.
Soweit der Soldat sehen konnte, war auf der Weide nach wenigen Minuten kein lebendes Wesen mehr übrig geblieben, und jeder Busch, jeder Baum, der nicht schon ein geschwärztes Gerippe war, stand in Flammen. Jenseits der Bodenerhebung waren die Husaren auf der Straße gestanden, aber er sah keine Spur von ihnen. Er hörte noch einige Zeit die Maxim-Geschütze2 rasseln, aber dann wurde alles still. Das Ungeheuer schonte den Bahnhof von Woking und die Häusergruppe um ihn bis zuletzt; dann aber wurde plötzlich der Hitzestrahl hingelenkt, und die Stadt wurde ein Haufen brennender Trümmer. Darauf schloss die Maschine den Hitzestrahl und begann, indem sie dem Artilleristen den Rücken wandte, gegen das glühende Fichtengehölz zu watscheln, das den zweiten Zylinder barg. Im selben Augenblick erhob sich ein zweiter glitzernder Titan aus der Grube.
Das zweite Ungetüm folgte dem ersten, und dann erst begann der Artillerist sehr behutsam, über die heiße Heideasche hin nach Horsell zu kriechen. Es gelang ihm, lebend bis zu einer