Gegen die Spielregeln. Philea Baker

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Gegen die Spielregeln - Philea Baker


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ihr ein, was ferner an diesem Abend geschehen war: Ihr Onkel hatte den Versicherer der Bothnia mit der Faust ins Gesicht geschlagen! Noch nie hatte sie ihren Onkel gewalttätig gesehen. Die Brutalität schockierte sie zutiefst. Sie passte überhaupt nicht zu dem Mann, der sonst besonnen und ruhig war. Konnte es sein, dass etwas an der Anschuldigung von George Tendman wahr war? Das war doch unmöglich! Ihr Onkel würde niemals etwas Unrechtmäßiges tun, er war ein durch und durch ehrbarer Mensch. Genauso wie ihre Tante. Diese war anscheinend ebenso schockiert gewesen, weswegen sie auf der Heimfahrt kein Wort gesprochen und zum Fenster hinausgesehen hatte.

      Sie wollte nicht mehr nachdenken, weder über Ryon Buchanan noch über diesen Vorfall. Ryon Buchanan würde bald wieder abreisen. Sie sollte an jemand ganz anderen denken. An John Croft, den sie schon eine halbe Ewigkeit verehrte, nach dem sie sich verzehrte. Wie hatte sie sich nur so gehenlassen können? Und was ihren Onkel anging: Sicherlich würde der Inspector den Fall bald aufklären und die Vorwürfe des Versicherers in den Wind schlagen. Sie schwang die Beine aus dem Bett.

      Obwohl sie es nicht anders erwartet hatte, traf sie die Eiseskälte hart, die ihr im Salon entgegenschlug. Fiodora saß, die Hände über ihrem Bauch gefaltet, kerzengerade in einem der großen Sessel am Fenster und starrte hinaus auf die Romney Street. Die grau melierten Haare zierte eine perlmuttfarbene Haarspange. Seitdem die Nachricht, dass ihr Mann den Brand auf der Baumwollplantage aller Wahrscheinlichkeit nach nicht überlebt hatte, dass nirgends ein Lebenszeichen von ihm gefunden worden war, das Haus erreicht hatte, kleidete sie sich ausschließlich in tiefdunkles Grau. Fiodora war eine hübsche Frau mit einem schmalen Gesicht, einer geraden Nase, wohlgeformten Lippen und blauen Augen. Ihre Figur war für ihr Alter vorbildlich. Trotzdem bereitete ihr Aussehen dem Betrachter kein Wohlgefallen – da war dieser ungeduldige, unzufriedene Zug um ihren Mund, der alles Schöne an ihr zunichtemachte. Langsam drehte ihre Stiefmutter den Kopf zu ihr. Fiodoras Blick glitt abschätzig über den lässig zugeschnürten Morgenmantel.

      »Guten Morgen, Fiodora«, begrüßte sie ihre Stiefmutter.

      »Ein guter Morgen sieht anders aus«, entgegnete Fiodora kühl.

      Alessa ignorierte den Missmut ihrer Stiefmutter und registrierte stattdessen erfreut, dass diese das reiche Sortiment an Toast, Eiern, Pfannkuchen und Marmeladen auf dem Tisch nicht hatte abtragen lassen. Genüsslich griff sie nach Toast und Marmelade. Eine Kanne dampfenden Tees wurde soeben von dem Dienstmädchen hereingebracht.

      »Danke, Laura.«

      »Gern geschehen, Ms. Arlington.«

      Fiodora warf Alessa einen kritischen Blick zu. Sie mochte es nicht, wenn man freundlich mit den Bediensteten sprach. Nachdem Laura gegangen war und Alessa die ersten Bissen gegessen hatte, kam, was zu erwarten war. »Hast du dich Gerald gegenüber gestern ordentlich benommen?«

      »Angemessen.«

      »Hast du mit ihm getanzt?«

      »Ja.«

      Fiodora blickte sie skeptisch an. »Hör auf, derart einsilbig mit mir zu sprechen! Hat Gerald dich für heute zum Tee eingeladen?«

      Alessa legte ihren Toast zurück auf den Teller. »Gerald hat mich zum Tee eingeladen. Anscheinend bist du schon über alles informiert. Ich habe ihm gesagt, dass ich nicht kommen möchte.«

      »Alessa!«, stieß Fiodora scharf aus. »Wie konntest du nur!«

      »Warum versteht mich denn niemand? Ich möchte mit diesem eingebildeten Kerl nichts zu tun haben.«

      Fiodoras Gesichtszüge gefroren zu Eis. »Du hast doch keine Ahnung, wovon du sprichst, Kind. Gerald ist gebildet – und darauf darf er sich auch etwas einbilden. Du kennst anscheinend den Unterschied zwischen Wissen und Arroganz nicht.«

      Alessa griff zur Serviette und strich sich über den Mund. »Ich denke, ich kann Gerald recht gut einschätzen. Allein von Berufs wegen verfüge ich über eine ganz gute Menschenkenntnis.«

      »Von Berufs wegen!«, brauste Fiodora auf. »Deine Marotten bringen dir leider gar nichts ein – außer einem schlechten Ruf. Wenn dein Vater das wüsste …«

      Augenblicklich stiegen Alessa Tränen in die Augen. »Wenn mein Vater noch da wäre, dann würde er dafür sorgen, dass ich nicht mit absurden Heiratswünschen bedrängt werde …«

      Fiodora schüttelte energisch den Kopf. »Dir ist überhaupt nicht klar, für wen dein Vater all die Jahre gearbeitet hat! Diese Kleidermanufaktur hat ihn seine ganze Lebenskraft gekostet – und wofür? Dafür dass seine einzige Tochter bei dieser Frauenrechtlerin Florence Nightingale als Krankenschwester arbeitet!«

      Alessa stand auf und warf die Serviette auf den Tisch. »Du weißt doch gar nichts über Florence! Rein gar nichts.«

      »Ich weiß mehr, als du ahnst. Seitdem sie von den Krimkriegen heimgekehrt ist, hat sie Depressionen. Damit gängelt sie nun andere Frauen, indem sie sie in ihrem Krankenhaus Tag und Nacht schuften lässt. Und natürlich ist sie eine Frauenrechtlerin, Alessa. Vor vier Jahren hat sie mit Josephine Butler und Lydia Becker diese Petition zur Abschaffung der Contagious Diseases Acts unterzeichnet. Sie unterstützt Prostituierte! Das ist unverantwortlich. England braucht diese Gesetze! Das halbe Militär ist krank wegen dieser Prostituierten. Auch du profitierst letztlich von den Gesetzen: Solange es sie gibt, hält sich die Zahl der Kranken im Rahmen.« Sie hob den Zeigefinger drohend in die Höhe. »Wie kannst du Gerald, der gebildet ist, verteufeln, und Florence Nightingale, die sich im Sumpf der Sünde bewegt, in den Himmel loben?«

      »Weil ich es kann!«, stieß Alessa trotzig aus und ihre Augen funkelten wütend. »Und weil Florence die Zukunft ist. Frauen wie sie und Amelia Edwards …«

      »Amelia Edwards? Hör mir auf mit dieser Frau! Sie lebt mit einer anderen Frau zusammen, teilt mit ihr das Bett. Auf welches Niveau willst du dich noch herablassen, Alessa?« Fiodora verschränkte die Arme vor der Brust. »Was du dir gestern Abend geleistet hast, beweist, dass du keinen klaren Blick für die Realität besitzt. Ich bin längst informiert darüber, was gestern passiert ist. Du hast einen Indianer zum Tanz aufgefordert! Und nach dem Desaster mit diesem verrückten Investor und Richard hast du dich in der Öffentlichkeit als Krankenschwester zur Schau gestellt. Damit wissen nun alle, die es bisher noch nicht wussten, was du bist!«

      »Das reicht, Fiodora!« Alessa richtete sich auf und wandte sich zur Tür. Dort angekommen, warf sie nochmals einen Blick zurück. Ihre Stiefmutter blickte sie mit bitterem Gesichtsausdruck an. Fiodora tat ihr leid. Sie wollte nur das Beste für sie. Sie und Gerald – das war nun einmal eine Verbindung, die ganz den Vorstellungen Fiodoras entsprach. Gerald war kein Fremder für Fiodora, denn er war der Sohn von Elizabeths Schwester, die in Frankreich lebte, und somit der Neffe ihres Bruders, ein Verwandter. Ein Umstand, der dem argwöhnischen Charakter ihrer Stiefmutter nur willkommen war. Er war im richtigen Alter und konservativ, was wahrscheinlich das Wichtigste von allem war. Für Fiodora war er die große Hoffnung. Er könnte der Retter des guten Rufes der Familie Arlington sein, der schließlich durch Alessas Arbeit als Krankenschwester schon fürchterlich gelitten hatte. Für Fiodora war Gerald sicherlich ein Traummann.

      Aber für sie war er der Albtraum schlechthin.

       KAPITEL 6

       12:30 Uhr St Thomas’ Hospital

      Die Sonne stand im Zenit und brannte mit voller Kraft auf London hinab. Das St Thomas’ Hospital lag unweit von Alessas Zuhause, direkt an der Westminster Bridge, gegenüber dem Westminster Palace und dem Big Ben. Die Nähe zur Themse gab Alessa ein gutes Gefühl. Schon als kleines Mädchen hatte sie sich gerne in der Nähe des Flusses aufgehalten.

      Alessa war zu Fuß unterwegs. Sehnsüchtig glitt ihr Blick über die Themse. Für sie war der Fluss die Straße in die große, weite Welt. Die Wasseroberfläche war spiegelglatt, kein Lufthauch regte sich. Es war ungewöhnlich leise. Die meisten Bewohner Londons hatten sich in ihre Wohnungen verkrochen. Ihr war heiß. Der kleine Schirm in ihrer Hand spendete nur spärlich Schatten und half kein bisschen gegen die barbarischen Temperaturen. Unter dem großen Hut klebten


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