Gegen die Spielregeln. Philea Baker
Читать онлайн книгу.genug zeigten sich die Gebäude so prachtvoll wie heute. Je weiter sie sich von ihrem Zuhause entfernte, umso besser fühlte sie sich. Es war nicht richtig, dass Fiodora sie wie ein Kind behandelte. Sie leistete gute Arbeit im St Thomas’ Hospital. Florence hatte ihr im letzten Jahr mehr und mehr Aufgabenbereiche in der Krankenpflegeschule übertragen. Wieso sah Fiodora nicht das Grandiose, das dieser Frau innewohnte? Florence hatte Unglaubliches geleistet für die medizinische Welt – und damit für die Menschen! Alessa war überzeugt, dass ihre Vorgesetzte in die Geschichte eingehen würde. Florence war schließlich eine weitsichtige Frau, ihre Zukunftsvisionen waren phänomenal und realisierbar. Und sie war eine Frau, die die Dinge selbst in die Hand nahm. Sie fügte sich nicht in ihr Schicksal, sondern gestaltete es selbst. Auch wenn Florence sich selbst nicht als Frauenrechtlerin bezeichnete, war sie doch genau das. Sie gab Frauen die Möglichkeit, sich zu bilden, sie gab ihnen Arbeit und schenkte ihnen somit Unabhängigkeit. Sie war ein Vorbild, eine Frau voller Kraft und Elan. Und sie, Alessa, war ein Teil von Florences Wirken geworden: Sie drehte mit an dem Rad, das eine bessere Zukunft versprach.
Alessa erreichte den Lambeth Palace Garden. Die zahlreichen Bäume und Sträucher spendeten herrlich viel Schatten, eine Fülle von Blumen in den Rabatten erfreute das Auge. Der süße Geruch von Petunien stieg ihr in die Nase. Auch hier war es still, weit und breit war kein Mensch zu sehen. Kleine Kieselsteine knirschten leise unter ihren Füßen.
Es hatte seinen Grund, warum sie heute, an einem Sonntag, in das St Thomas’ Hospital wollte. Am Sonntag ruhte im Krankenhaus die Arbeit, soweit der Betrieb in einem Krankenhaus eben ruhen konnte. Sie konnte arbeiten, ohne gestört zu werden. Außerdem nutzte John Croft, ehrgeizig wie er war, diese Zeit, um sich der Forschung zu widmen. John Croft! Vor zwei Jahren hatte der gut aussehende Chirurg die Ausbildung der Krankenschwestern übernommen und sogleich durch seine ruhige und charismatische Art die Aufmerksamkeit der jungen Damen an sich zu binden gewusst. Obwohl bereits Anfang dreißig, war er noch unverheiratet. Er war überaus aufmerksam, nahm Dinge wahr, die andere, sogar wenn sie darauf hingewiesen wurden, nicht sahen. Außerdem war er ein Philanthrop: Ob Matrose oder Peer des Oberhauses – er behandelte alle respektvoll.
Zunächst war es nur Hochachtung gewesen, die sie für ihn empfunden hatte. Bis sie eines Tages überrascht festgestellt hatte, dass sie zittrige Knie bekam, wenn er in ihrer Nähe war. Anfangs waren diese Gefühle wie ein Rausch … es hatte sich angefühlt, als schwebe sie. Bald schon träumte sie von ihm, derart, dass sie keinen Schlaf mehr finden konnte, rastlos in ihrem Zimmer auf und ab lief und Pläne schmiedete, wie sie seine Aufmerksamkeit auf sich lenken könnte. Denn obschon er freundlich und charmant zu ihr war, ging John Croft niemals einen Schritt weiter. Es gab eine Nähe zwischen ihnen, eine Vertrautheit, eine gemeinsame Sprache, wie sie sie eben mit keinem anderen Mann teilte, aber es glich der Ebene, die Geschwister miteinander teilten. Oder Freunde. Das war entschieden die falsche Ebene. Was seine Gefühle anging, war er verschlossen, ließ niemanden in sich hineinblicken. Er war schier unerreichbar. Genau das war es, was sie fesselte. Er war ein Mann, der nicht leicht zu erobern war. Die Frage war nur: Würde es ihr jemals gelingen, ihn zu erobern? Vielleicht reagierte er nicht auf sie, weil sie nicht hübsch genug war? Ihre Lippen waren zu schmal und sie war eigentlich zu groß für eine Frau. Bisweilen kam sie sich in den kostbaren Kleidern, die ihr Vater ihr geschenkt hatte, deplatziert vor. Obwohl sie sich gestern in dem blassroten Kleid wirklich wohlgefühlt hatte. Erstaunlich.
Abrupt blieb sie stehen. Schon wieder waren ihre Gedanken zu dem gestrigen Abend gewandert, dabei hatte sie sich doch vorgenommen, nicht daran zu denken. Wütend schnaubte sie auf und setzte ihren Weg fort. Es konnte doch nicht sein, dass ein wildfremder Mann ihre Welt einfach so auf den Kopf stellte. Ryon Buchanan hatte sie den ganzen Abend hindurch ignoriert, dann diese Nähe auf dem Balkon.
Inzwischen war sie am Krankenhaus angekommen. Es war ein gutes Gefühl, gewohntes Terrain zu betreten, in dem alles seine Ordnung hatte. Hoffentlich war John Croft da, er musste den Dämon, der von ihr Besitz ergriffen hatte, vertreiben! Sie musste ihn sehen, musste sich vergewissern, dass er sie als dieselbe Alessa wahrnahm, die sie die Woche zuvor gewesen war. Irgendwie wurde sie das Gefühl nicht los, Ryons Küsse hätten eine sichtbare Spur auf ihren Lippen hinterlassen.
Die Berichte über das Unglück, das sich am Mittwoch auf der Bothnia ereignet hatte, lagen im Schwesternzimmer im ersten Stock. Da sie zwei Tage nicht im Hause gewesen war, wusste sie nicht, wie es den Verletzten ergangen war. Hatte man Jacks Bein retten können? Sie benötigte nicht lange, um die Unterlagen zu finden. Rasch nahm sie die Akten an sich und klemmte sie sich unter den Arm, denn sie wollte diese lieber in ihrem Büro studieren, nicht im Schwesternzimmer. Zügig nahm sie die Stufen zum zweiten Stock.
Ihr Zimmer war geräumig, ausgestattet mit zahlreichen Regalen, in denen eine Vielzahl von Büchern untergebracht war. In der Ecke neben einem kleinen Waschbecken stand ein Schrank, in dem Wechselkleidung parat lag und in dem sie ihr Cape aufhängen konnte. Sie legte ihren Schirm und den Hut ab, wusch sich das Gesicht, setzte sich an den Schreibtisch und öffnete die Mappe. Jack Macquire, der Matrose mit der Beinwunde, war auf dem Weg ins Hospital gestorben. Schwester Maggie hatte einiges dessen, was er vor seinem Tod gesagt hatte, aufgeschrieben. Es war die übliche Handhabe, damit man den Verwandten mitteilen konnte, was der Verstorbene vor seinem Tod gesagt hatte. Sie überflog die Zeilen, in denen die Namen Anna und Lynn immer wieder auftauchten. Er hatte etwas von Teufels Küche und einer Flasche Rum gesprochen. Weiter unten war ein Vermerk, dass er einen Schlüssel bei sich getragen habe. Seine Frau Anna habe mit diesem nichts anzufangen gewusst und so habe man diesen in Alessas Regal gelegt, damit sie entscheiden könne, was damit geschehen solle. Alessa stand auf und schritt zum Regal, wo sie ihn auch gleich fand. Es war ein kleiner, silberner Schlüssel. Sie schritt zum Fenster und sah hinaus. Vielleicht sollte sie später noch einmal zu den Docks fahren? Kapitän McMickan auf der Bothnia aufsuchen? Gesetzt den Fall, dass der Schlüssel etwas mit der Bothnia zu tun hatte, dann sollte er dort auch hingebracht werden.
Jemand klopfte an ihre Zimmertür. Es war eine der Schwestern. »Ms. Arlington. Entschuldigen Sie die Störung. Ich wollte nur die Unterlagen für die Visite morgen auf Ihren Tisch legen.« Sie übergab Alessa die Papiere.
»Vielen Dank, Schwester Margrate.«
Die Schwester nickte und wollte den Raum verlassen.
»Ist Doktor Croft im Hause, Schwester Margrate?«
»Ich sah ihn vor ungefähr einer Stunde im dritten Stock.«
»Danke.«
John Croft war nicht im dritten Stock zu finden, auch nicht in den anderen Stockwerken. Sein Büro war leer, doch an der Garderobe hing sein Mantel. Sie wollte ihn sehen, bevor sie zu den Docks hinausfuhr. Konnte es sein, dass John im Labor war? Oder in der Pathologie?
Im Labor war er nicht, wie sie alsbald feststellte. Sie seufzte.
Kälte kroch an ihren Beinen hoch, als sie die Treppen in das Untergeschoss hinabstieg. Der Geruch von Desinfektionsmittel, Formaldehyd und scharfem Putzmittel drang stechend in ihre Nase. Durch ein kleines Fenster fielen ein paar kümmerliche Lichtstrahlen in den langen Flur. Ihre Schritte hallten von den Wänden wider. Nach Möglichkeit mied sie diesen Teil des Krankenhauses. Vor der Tür, die zur Pathologie führte, befand sich das sogenannte Gruselkabinett. In Gläsern unterschiedlicher Größe schwammen Organe und Körperteile wie Herzen, Mägen, Hände und Füße; sogar ein Embryo war hier ausgestellt. Der Anblick ließ sie jedes Mal aufs Neue erschauern. Alessa legte die Hand auf die Türklinke und zögerte dann. Normalerweise traf sie John rein zufällig. Das hier war etwas anderes. Sie suchte ihn auf. Was, wenn sie ihn störte? Wenn er sich über ihr Verhalten ärgerte? Ihre Beine kribbelten unangenehm.
»Ms. Arlington? Sind Sie da unten?«
Augenblicklich zog sie ihre Hand zurück. »Ich bin hier unten, ja.«
Sie hörte eilige Schritte, wenig später erschien Schwester Margrate im Flur.
»Oh. Gut, dass Sie noch da sind. Wir haben ein Problem. Es geht um ein kleines Kind, das vor wenigen Stunden zu uns gebracht wurde …«
KAPITEL 7