Die Hauptstadt des Sex. Michaela Lindinger

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Die Hauptstadt des Sex - Michaela Lindinger


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oder starke Frau. Auf jeden Fall eine weibliche Person, mit der die römische Amtskirche wenig anzufangen wusste. Bilder der »tapferen Jungfrau« beziehungsweise der »Kümmernis« wurden im Mittelalter gelegentlich verbrannt.

      Die Bilderstürmereien hingen damit zusammen, dass alte Vorstellungen von »starken Frauen« im Volksglauben weiterlebten. Geschichten von Amazonen und Walküren finden sich in den Götter- und Heldensagen der Griechen und nordeuropäischen Völker. Diesen unchristlichen Traditionen wurde erst zu Beginn der Neuzeit in den Hexen- und Zaubererverfolgungen endgültig der Prozess gemacht. Im Mittelalter waren die Glaubensvorstellungen der verschiedenen germanischen und slawischen Völker noch durchaus sichtbar. So heißt es in der »Weltchronik« des deutschen Humanisten Hartmann Schedel aus dem Jahr 1493: »Frauen gibt es mit Bärten bis zur Brust.«

      Eine »Transgender-Heilige« wäre demnach nichts Ungewöhnliches. Aus Kleinasien waren unterschiedliche hermaphroditische Kulte an den Nil und nach Europa gekommen und quasi »eingebürgert« worden, soll heißen, sie wurden mit den eigenen religiösen Vorstellungen verwoben. Im alten Ägypten und später in Griechenland tauchten sie vielerorts auf.

      Androgyne Kultfiguren, also göttliche oder halbgöttliche Wesen mit männlichen und weiblichen Körpermerkmalen, findet man in allen vorchristlichen Religionen. Sie vereinen die menschlichen Gegensätze in sich und sind somit Symbole für überirdische Vollkommenheit.

      Die »Kümmernis« verschwand im Lauf des 19. Jahrhunderts aus der Erinnerung der rechtgläubigen Katholiken. Die Bart-Frauen mussten sich nun mit neuen Bühnen zufriedengeben. Schaulustige zahlten Eintritt, um Frauen ohne Unterleib oder mit Bart in Freakshows und auf Jahrmarkt-Buden zu sehen. In Wien erreichte eine ursprünglich aus Mexiko stammende bärtige Tänzerin einen unerhörten Bekanntheitsgrad: Julia Pastrana. 1860 starb die zwergenhafte Schaustellerin im Alter von 26 Jahren. Begraben wurde sie jedoch erst 2013.

      DIE MEXIKANISCHE BARTFRAU IN WIEN

      Zeitlebens litt Julia Pastrana an Hypertrichose – übermäßigem Haarwuchs. Ein amerikanischer Impresario kaufte sie einst ihrer Mutter ab und ließ sie in seinen Shows amerikaweit, aber auch in Europa auftreten. Das behaarte Mädchen mit starkem Bartwuchs gelangte bis nach Wien und gastierte im Wiener Prater. Sie beherrschte drei Sprachen in Wort und Schrift, tanzte grandios und war 1858 die Pressesensation in Wien. Charles Darwin durfte sie gegen Entgelt untersuchen. Er war auf der Suche nach dem »Missing Link« zwischen Affen und Menschen.

      Der Mensch in seinen verschiedenen Varianten gehörte im 19. Jahrhundert zum Grundinventar der international boomenden »Abnormitäten-Shows«: Groß- und Kleinwüchsige, Albinos, siamesische Zwillinge, »Bartweiber«, »frivole« Szenerien und andere bizarre Belustigungen bedienten die Sensationsgier der Besucher und sorgten für volle Zelte, auch im Wiener Prater.

      Im Jahr 1884 kehrte Julia Pastrana wieder. Da war sie allerdings schon 24 Jahre tot. Ihr Impresario hatte sie während der erfolgreichen Welttournee nicht nur geheiratet und geschwängert. Als sie bei der Geburt des gemeinsamen, ebenso an Hypertrichose leidenden Kindes in Moskau starb, ließ der nicht gerade trauernde Witwer die beiden Leichen mumifizieren. Auch nach ihrem Ableben sollten sie als Schaustücke sein Auskommen sichern.

      Im Prater gab es seit 1871 eine Attraktion, die als Mischung zwischen Schaubühne und Anatomie-Museum bezeichnet werden konnte: das »Präuscher’sche Panoptikum«. Der im deutschen Gotha geborene Hermann Präuscher zeigte Wachsfiguren und Präparate, die im Spannungsfeld zwischen Horror und Erotik einzuordnen waren und somit ein großes Publikum anzogen. 1884 waren dort die berühmten Körper von Julia Pastrana und ihrem Kind in einem gläsernen Schaukasten zu bewundern – gegen eine jährliche Rente von 320 Talern, die Präuscher an den Witwer nach der Künstlerin Pastrana abführte. Die Mumien waren somit immer noch im Besitz des Ehemannes der »Bart-Frau«. Dieser hatte drei Jahre nach Julia Pastranas Tod eine weitere behaarte Schausteller-Frau geheiratet, Maria Bartels. Auch sie war ihren Eltern abgekauft worden und musste als »Julia Pastranas Schwester« auftreten. Maria und Julia verband in Wirklichkeit keinerlei Verwandtschaft.

      Die Wirkung der leichenkonservierenden Chemikalien ließ jedoch mit der Zeit nach und die Mumien von Julia Pastrana und ihrem Kind wurden in Stopfpräparate umgewandelt. Man zog ihnen die Haut vom Leib und stopfte sie aus. 1895 wurden sie auf einer Zirkusmesse in Wien nach München verkauft.

      Der ruhelose Leichnam in seinem rotseidenen Flitterkleidchen erlebte auch noch das gesamte 20. Jahrhundert. 1921 tauchte die ausgestopfte bärtige Julia in einem norwegischen Zirkus auf – sie wurde weiterhin vorgeführt; bis in die 1970er-Jahre, als ein Erlass die Präsentation derartiger Schaustücke unter Strafe stellte. Die Präparate verschwanden in einem Depot für Rechtsmedizin. Dort wurden sie gestohlen, wobei das ausgestopfte Kind die Folgen des Raubes nicht überstand. Die Leiche ging verloren. Noch später fanden spielende Kinder einen Arm von Julia Pastrana auf einer norwegischen Mülldeponie. Der Initiative einer mexikanischen Künstlerin, Laura Anderson Barbata, die in Norwegen lebte, ist es zu verdanken, dass Julia Pastrana schließlich heimkehren konnte. Anfang 2013 wurde sie im Rahmen einer katholischen Zeremonie in Mexiko bestattet. Sie liegt auf dem Friedhof ihres Geburtsorts Sinaloa de Leyva.

      Die Frau mit Bart hat Tradition. Abgesehen von einer Heiligen und einer verkauften Schausteller-Braut kommt vielen auch »Baba« in den Sinn. Sie ist die bärtige und temperamentvolle Türkin (»Türkenbab«) in Igor Strawinskys Oper The Rake’s Progress. Dass man an der Symbolfigur mit dunklem Bart nicht vorbeikommt, dachte sich wohl auch ein großes Kreditunternehmen. Seit 2014 ist Conchita dort als Testimonial tätig. Das Spektrum an Dragqueens hat sie ordentlich erweitert und jüngst wurde sie auch als Botschafterin von »It Gets Better« nominiert, einem Projekt, das Teenager beim Coming-out unterstützt. »Dragqueen« St. Kümmernis wäre vielleicht »amused« …

      JENSEITS DER »WANDERHURE«

      (MITTELALTER)

      »Gatten, die sich beim Akt ergötzen,

      verkehren die richtige Ordnung.«

      GREGOR I., PAPST (590–604) UND HEILIGER

      Die spezielle Stadtführung zum Internationalen Hurentag (»Sex Workers’ Day«, alljährlich am 2. Juni) beginnt beim Stephansdom. Ausgerechnet, wundern sich manche Teilnehmer. Was soll die traditionell körperfeindliche katholische Kirche schon mit Sex in der Stadt am Hut haben? Doch kurz nach den ersten Worten der Stadthistorikerin Petra Unger schallen schon »Ahs« und »Ohs« durch die kleine Gruppe. Die meisten Zuhörer sind Wiener oder leben bereits lange in Wien. Trotzdem ist vielen bisher ein Detail an der Westfassade des Stephansdoms nicht aufgefallen, und nun werden sie gezielt darauf hingewiesen. Es geht um das Riesentor und die beiden Heidentürme. Diese spätromanischen Gebäudeteile entstanden in den Jahren um 1240. Vielleicht bezieht sich der Ausdruck »Heidentürme« auf die altrömischen Steine, die im Dom verbaut worden sind. Es kann aber auch sein, dass sie ein Hinweis auf jene vorchristlichen Fruchtbarkeitssymbole sind, die als Abschlüsse der beiden Blendsäulen unterhalb der Türme eingesetzt wurden. Links erkennt man einen Phallus und rechts eine Vulva.

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      Blendsäulen-Abschluss am Stephansdom: Penis [1]

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      Blendsäulen-Abschluss am Stephansdom: Vulva [2]

      Wollten die christlichen Bauherren der Kirche die alten heidnischen Götter in Stein bannen und sie so ihrer Macht berauben? Oder waren die Darstellungen als apotropäische Symbole gedacht, die Unheil und Gefahr vom Bauwerk und seinen Insassen fernhalten sollten?

      Beides zugleich ist ebenso möglich. Das Christentum des Mittelalters kann nicht mit den katholischen Glaubensgrundsätzen des 21. Jahrhunderts gleichgesetzt werden. Im 13. Jahrhundert war der Dom für die Wiener Bevölkerung viel mehr als nur ein Raum zur Gottesverehrung. Die große Kirche war der zentrale Versammlungsort der Stadt, nicht zuletzt auch der wichtigste Zufluchtsort in Zeiten von Krieg, Seuchengefahr oder Belagerung. Fruchtbarkeit garantierte


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