Du darfst nicht sterben. Andrea Nagele

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Du darfst nicht sterben - Andrea Nagele


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Terminen. Es ist dunkelgrau mit feinen hellgrauen Nadelstreifen, und es macht mich ernst und sehr schlank. Dazu setze ich eine schwarze Brille auf. Ich schlüpfe in meine Daunenjacke; es ist jene, die ich zum letzten Mal anhatte, als ich mit Lili durch den Schnee lief.

      Vor der Haustür schlägt mir die Kälte entgegen wie eine Wand aus Stahl, und ich schnappe nach Luft.

      Auf einmal steht Paul vor mir und grinst über das ganze Gesicht. In seinem Bart schimmern Eiskristalle.

      »Was …?«, bringe ich mit einem Hauch gefrorener Atemluft hervor, als er meinen Mund auch schon mit einem Kuss verschließt. Ich wende den Kopf, stemme meine Hände gegen seine Brust, er aber packt unwillig meinen Arm und zieht mich zur Haustür.

      Und ich? Ich stolpere hilflos neben ihm her und versuche, mich aus seinem Griff zu befreien.

      »Lass das«, herrscht er mich an und zieht energisch die Tür hinter uns ins Schloss.

      Das Deckenlicht ist noch an und erhellt seine Gesichtszüge. Sie wirken verzerrt, aggressiv.

      Dann wird es dunkel im Flur. Ich will zum Lichtschalter greifen, aber Paul stößt meine Hand beiseite.

      »Paul«, meine Stimme klingt belegt, »komm rauf, in die Wohnung.« Ich taste nach seiner Hand, erwische aber nur den rauen Stoff seines Ärmels.

      Statt einer Antwort drängt er mich gegen die Wand und küsst mich. Es ist kein zärtlicher Kuss, er ist wild und fordernd, und er schmeckt nach Bier und nach paniertem Fisch. Wieder versuche ich, den Kopf wegzudrehen, aber er hält mein Gesicht eisern umklammert.

      Die Haustür springt auf, wieder wird es hell, und eine der Nachbarinnen, mit einem kleinen Kind an der Hand, mustert mich pikiert.

      Wir grüßen einander, dann ist sie an uns vorbei.

      »Paul«, flüstere ich, »das ist peinlich.«

      »Peinlich?« Er knurrt wie ein Tier in mein Ohr, und alle Härchen auf meiner Haut stellen sich auf.

      Abermals drängt er mich brutal gegen die Wand. Meine Brille fällt dabei zu Boden, und das Glas bricht. Ich zittere. Mit einer Hand greift er in mein Haar und zieht mein Gesicht an seines, mit der anderen schiebt er mein Kleid hoch.

      »Nein!«, fauche ich.

      Die Schritte im Treppenhaus sind verklungen, das Licht verlischt wieder.

      Diesmal zerkratzt sein Bart meine Haut, seine Stöße sind hart. »Ich will das nicht!«, schreie ich ihn an.

      Er tut mir weh, und ich versuche, ihn wegzustoßen. Irgendwann lässt er von mir ab. »Netter Versuch«, sagt er und mustert mich von oben bis unten. Seine Augen glänzen undurchdringlich.

      Empörung, Scham und Zorn wallen in mir hoch. »Ich muss mit dir reden, oben in meiner Wohnung«, sage ich und funkle ihn an.

      »Wenn du was zu meckern hast, dann gleich hier«, entgegnet er gelassen und lächelt maliziös. Die Kälte seiner Worte erschreckt mich.

      »Wie du willst, Paul, dann eben hier. Wir werden uns nicht mehr sehen. Es ist aus und vorbei.«

      Sein Blick ist eisig. »Das kommt mir gelegen«, sagt er, »ich habe mich ohnehin längst für Lili entschieden. Ihre Demut ist unterhaltsamer.«

      »Was sagst du da? Das meinst du nicht ernst.«

      »Und ob«, jetzt grinst er, »und ich frage mich, was du dagegen tun willst? Eine Bemerkung von mir, und sie schaut dich nie wieder an.«

      Ich starre in sein Gesicht und spüre, wie ich am ganzen Körper zu zittern beginne. »Paul, ich warne dich«, flüstere ich und merke selbst, wie schwach meine Stimme klingt.

      »Du warnst mich?« Er lacht und schiebt mich beiseite. »Anne, du überschätzt die Glaubwürdigkeit eines gewöhnlichen Flittchens bei Weitem.« Er wischt mir achtlos über die Wange.

      Wie versteinert bleibe ich stehen und höre, wie sich seine Schritte entfernen.

      LILI

      Die Zeit zieht wie ein Wintermärchen an mir vorbei.

      Oft holt Paul mich nach der Arbeit von der Bibliothek ab, und wir gehen essen oder ins Kino, und er ist auch weiterhin für Überraschungen gut. Daher überlege ich mir vor dem Schlafengehen genau, was ich am nächsten Morgen anziehe. Aufdonnern muss ich mich bei ihm nicht, es gefällt ihm, wenn ich mich leger kleide und ein wenig mädchenhaft.

      Generell ist er ein Meister der Komplimente. Klar weiß ich, dass er mir schmeicheln will, dennoch höre ich sie für mein Leben gern. Keiner meiner bisherigen Freunde hat so mit mir gesprochen. Ihm fallen lauter Kleinigkeiten auf, die ihn an mir begeistern. Vor einigen Tagen hat er ein Muttermal an meinem Hals entdeckt, das ihn entzückt, und er kann nicht aufhören, seine Finger durch mein Haar gleiten zu lassen.

      »Wie feinste chinesische Seide«, sagt er und sieht mich in einer Weise an, die mich glücklich macht.

      Anne darf ich nichts davon erzählen, sie würde schallend lachen oder eine böse Bemerkung machen. Aus irgendeinem Grund scheint sie Paul zu hassen.

      Unsere Gespräche sind ohnehin selten geworden. Noch seltener kommt es zu einem Treffen. Und wenn, dann klammern wir Paul weitgehend aus unserer Unterhaltung aus.

      Julia ist da ganz anders. In erster Linie ist sie daran interessiert, zu erfahren, wie weit wir schon miteinander sind. Und das ist eine berechtigte Frage, denn die Antwort darauf kenne ich selbst nicht so genau. Sind wir ein Paar? Haben wir eine Beziehung? Ist es etwas Ernsthaftes? Wir küssen uns, halten Händchen, und im Kino kuschle ich mich eng an ihn. Ein wenig fühlt es sich an wie damals als Teenager. Langsam nur werden unsere Schmusereien stürmischer, und im Kopf male ich mir unser erstes Mal aus. Ich stelle es mir verträumt und romantisch vor, mit vielen Kerzen ums Bett herum und einer Flasche gutem Wein. Wenn dann auch noch Schneeflocken vom Himmel rieselten, vorzugsweise außerhalb unseres Zimmers, wäre das Bild perfekt.

      Dabei hat Paul meine Wohnung noch kein einziges Mal betreten. Natürlich brenne ich darauf zu hören, wie sie ihm gefällt, ob er meinen Geschmack teilt. Sicherheitshalber ist mein Zuhause zurzeit außergewöhnlich sauber und aufgeräumt, denn es kann jederzeit so weit sein.

      Als ich Julia davon erzähle, lacht sie.

      »Rein auf Verdacht die Bude aufräumen? Das gibt es bei mir nicht. Ist ja paranoid.«

      Aber sie hat leicht reden. Nach ihrer letzten Beziehung ist sie schon einige Zeit Single, und Carl, der Typ, für den sie momentan schwärmt, macht keine Anstalten, sich ihr zu nähern. Praktisch, aber unspektakulär arbeitet er als Teilzeitkraft in der Bibliothek.

      Doch zurück zu Paul. Meine Gedanken kreisen ständig um ihn. Häufig ertappe ich mich dabei, wie ich einfach nur so in mich hineingrinse.

      Hin und wieder muss er länger arbeiten, dann hole ich ihn in dem eleganten Autosalon, in dem er Geschäftsführer ist, ab. Immer wieder erstaunt mich die Zärtlichkeit, mit der seine Hände über den Lack der ausgestellten Modelle streichen. Und er mag es, wenn seine Kollegen mich anerkennend mustern.

      Mein Leben ist wunderbar, es könnte nicht besser sein.

      Anhaltendes Klingeln dringt in mein Bewusstsein.

      Ein Blick auf mein Smartphone verrät mir, dass es knapp vor Mitternacht ist.

      Desorientiert springe ich auf und stolpere über den Krimi, den ich vor dem Einschlafen gelesen habe. Kurz klammere ich mich an den Rahmen des Türstocks, versuche mein jagendes Herz zu beruhigen, dann taste ich mich weiter. Das Klingeln, für einen Moment verstummt, setzt wieder ein, heftiger noch als zuvor.

      Hatte Anne einen Unfall? Ist unseren Eltern etwas passiert?

      Mit vom Schlaf heiserer Stimme frage ich in die Gegensprechanlage: »Wer ist da?«

      »Jetzt mach schon auf. Ich erfriere hier draußen.«

      Das ist Paul. Mein Herz, kaum dass es sich beruhigt hat, beginnt wieder wild zu pochen.

      »Paul!


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